Markus Seidl-Nigsch versteht Psychotherapie als säkulare Seelsorge. In seinem Beitrag diskutiert er strukturelle Unterschiede zwischen Schulen der Psychotherapie und wie ein in der Praxis geteiltes Menschenbild diese Unterschiede überwindet.
Psychotherapie ist säkulare Seelsorge. Ihrer christlichen Schwester ähnlich ringt sie um ein Verständnis des Menschen in seiner phänomenalen Ganzheit. Antworten auf die Grundfrage dieses Ringens – Was ist der Mensch? – münden in zahlreichen Psychotherapieschulen. Sie fokussieren jeweils auf verschiedene Aspekte alltäglicher Welterfahrung und müssen zugleich wissenschaftliche Erkenntnisse integrieren. Was hat es mit diesem Zusammenspiel von Lebenswelt und Wissenschaft auf sich?
In psychischen Krisen versteht sich unser Leben nicht mehr von selbst.
„Von dem, was am selbstverständlichsten erscheint, spricht man am wenigsten. Man spricht erst davon, wenn es fragwürdig wird“. Diese Worte bezieht der Philosoph Emerich Coreth SJ (1919–2006) auf die Geschichte der philosophischen Anthropologie. In diesem Fachgebiet ringt der Mensch darum, die Frage zu beantworten: Was ist der Mensch? (so Coreths Buchtitel, 1986).
Ähnlich ergeht es uns Menschen in psychischen Krisen. In ihnen versteht sich unser Leben nicht mehr von selbst. Martin Poltrum, Professor an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien, verbindet denn auch Philosophie und Psychotherapie mit dem Hinweis, dass „in der Antike Philosophie immer schon als therapeutisch orientierte Lebensweise“, als Lebenskunst, verstanden wurde. (Philosophische Psychotherapie, 2016)
Wie immer wir die Frage nach dem gelingenden Leben angesichts von psychischem und körperlichem Leiden, unserer Verletzbarkeit und Sterblichkeit beantworten: sie sagt etwas darüber aus, wie wir uns in der „Welt, in der Geschichte und im Ganzen der Wirklichkeit“ verstehen. (Coreth) Bereits die frühgriechischen Denker deuteten in diesem Zusammenhang den Menschen dualistisch, indem sie eine geistige Seele und einen materiellen Körper annahmen. Im Gegensatz dazu überwand die christliche Gesamtschau im Mittelalter diese Zweiteilung. In ihr ist der menschliche Geist „als Seele das Lebensprinzip des Leibes“. In der frühen Neuzeit kehrte dann der Dualismus zurück – und blieb bis heute prägend: René Descartes (1596–1650) trennte scharf zwischen Geist und Materie, Mentalem (res cogitans) und Physischem (res extensa).
Denn während die Philosophie das Ganze des Menschen in den Blick bekommen möchte, fokussieren die Einzelwissenschaften auf isolierte Fragen.
Philosophisch betrachtet ist dies unbefriedigend, weil ein Monismus – der alle Phänomene nicht auf zwei Grundprinzipien, sondern auf ein einziges Prinzip zurückführt – plausibler erscheint (vorausgesetzt, er verleugnet manche Phänomene nicht, wie es etwa der Materialismus tut). Aus wissenschaftshistorischer Perspektive jedoch erwies sich der Dualismus in Form der erklärenden Natur- und verstehenden Geisteswissenschaften als sehr fruchtbar. Denn während die Philosophie das Ganze des Menschen in den Blick bekommen möchte, fokussieren die Einzelwissenschaften auf isolierte Fragen. Diese korrelieren mit – entlang der natur- bzw. geisteswissenschaftlichen Methoden – spezifisch reduzierten Aspekten des Menschseins.
Die universitäre Psychologie orientiert sich seit ihrer Geburt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert am naturwissenschaftlichen Vorgehen, wie Gerhard Benetka und Thomas Slunecko in ihrem vor kurzem erschienenen Buch „Geschichte und Paradigmen der Psychologie und Psychotherapie“ (2023) sorgfältig nachzeichnen. Psychotherapie und klinische Psychologie (sowie psychosomatische Medizin und Psychiatrie) hingegen können sich nicht auf den naturwissenschaftlichen Zugang beschränken. Doch selbst wenn sie geisteswissenschaftliche Ansätze integrieren, bleiben Grundsatzfragen offen. Sie haben es analog zu Philosophie und Theologie mit dem ganzen Menschen, allen seinen Erfahrungen im Alltag und seinem Selbstverständnis inmitten der Lebenswelt zu tun. Dazu gehören die Dimensionen Sprachlichkeit, Zeitlichkeit, Leiblichkeit und geistige Aspekte: unser Bewusstsein, dass wir etwas erkennen, dass wir in unserem Wollen frei sind und dass wir nach dem Sinn des Daseins und dem richtigen Handeln fragen.
Lebensweltliche Rückbindung unterschiedlicher Therapierichtungen.
Interdisziplinäre Konzepte, die beschreiben, wie Störungen oder Krankheiten entstehen, sich entwickeln und zu behandeln sind, bekommen meist das Attribut bio-psycho-sozial. Es artikuliert, dass Psychotherapie und klinische Psychologie einzelwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Biologie, Psychologie und Soziologie aufgreifen (müssen). Diese Disziplinen belegen anhand von untersuchten Menschengruppen statistisch Kausalitäten, ohne deren Gültigkeit für den einzelnen Menschen beanspruchen zu können. Die Rückbindung von Psychotherapie und klinischer Psychologie an die Lebenswelt und somit jene an die Philosophie klingen im Attribut bio-psycho-sozial indes nicht an. Das könnte daran liegen, dass die in ihm angesprochenen einzelwissenschaftlichen Disziplinen den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Therapierichtungen bilden. Denn die lebensweltliche Rückbindung kann entweder nur implizit über das praktische Vorgehen erfolgen – oder zusätzlich auch explizit innerhalb der Gesamttheorie der Therapieschule. Darüber hinaus kommen verschiedene Entwürfe philosophischer Anthropologie infrage, um die Lebenswelt in die psychotherapeutische Theorie hereinzuholen.
Zu den psychotherapeutischen Schulen mit expliziter Rückbindung an die Lebenswelt zählen zum Beispiel die Existenzanalyse und Logotherapie Viktor Frankls und die Daseinsanalyse. Sie greifen auf eine oder mehrere philosophisch-anthropologische Konzepte zurück, die dem Existenzialismus, Personalismus und der Phänomenologie angehören.
Wir sind angewiesen auf verschiedene philosophisch-anthropologische Entwürfe.
Dem Philosophen Gerd Haeffner SJ (1941–2016) zufolge muss jede philosophische Anthropologie ein eigenes Leitprinzip haben. Denn ohne Referenzpunkt, sozusagen frei im Raum, kann „die Frage des Menschen nach sich selbst“ gar nicht aufbrechen. (Philosophische Anthropologie, 2005) Da es nicht möglich ist, angesichts unserer endlichen Vernunft ein Leitprinzip zu finden, das der Wirklichkeit voll entspricht, sind wir auf viele verschiedene philosophisch-anthropologische Entwürfe angewiesen. In der Praxis können freilich nur wenige davon in die psychotherapeutische Theorie aufgenommen oder in deren Rahmen neu geschaffen werden. Sie müssen nämlich zum einen miteinander kompatibel sein und zum anderen dem Zweck der Psychotherapie als Heilmethode entsprechend gedeutet und gegebenenfalls angepasst werden. Diese Deutungen können sehr verschieden ausfallen. Die Daseinsanalytiker Ludwig Binswanger (1881–1966) und Alice Holzhey-Kunz (* 1943) rezipieren zum Beispiel die Philosophie Martin Heideggers mit ihrem Begriff der Uneigentlichkeit als das „Verfallen an das Man“ vollkommen verschieden: als Ausdruck aller psychischen Störungen bzw. gegensätzlich als schützende „Verschleierung des Faktums der Endlichkeit“. (Poltrum)
Darüber hinaus impliziert jedes anthropologische Konzept Antworten auf erkenntnistheoretische, ethische und religionsphilosophische Fragen, die wiederum verschieden ausbuchstabiert und gedeutet werden können. All das führt dazu, dass philosophisch-anthropologische Konzepte – entgegen ihrer Grundintention – nicht die ganze Lebenswelt erfassen. Mit deren Wahl oder Formulierung wird daher unvermeidbar ein spezifischer Akzent gesetzt. Das erklärt zum einen Teil, weshalb es so viele verschiedene Psychotherapieschulen gibt.
Bei der Verhaltenstherapie, der klinischen Psychologie und der Psychoanalyse ragt die Lebenswelt des Menschen ausschließlich implizit in die Behandlungen hinein.
Formal einfachere Verhältnisse liegen vor allem bei der Verhaltenstherapie und der klinischen Psychologie vor. Bei ihnen ragen die Lebenswelt des Menschen und mit ihr jene lebenspraktischen Annahmen, um die wir nicht herumkommen (Martin Poltrum und Michael Musalek, Philosophische Therapie und therapeutische Philosophie, Wiener Zeitschrift für Suchtforschung 31, 23–31), ausschließlich implizit in die Behandlungen hinein: über die Gestaltung der Gesprächsführung und der Beziehung zwischen Klient und Therapeutin sowie über die therapeutischen Interventionen.
Die angesprochenen, für das Gelingen des Alltagslebens unverzichtbaren Annahmen setzen Therapeuten auch in Bezug auf die Therapie immer schon voraus. Zu ihnen gehören der Glaube, (i) dass jeder Mensch leben soll, was in Maßnahmen gegen suizidale Handlungen am deutlichsten sichtbar wird (Viktor Frankl sprach von der Objektivität des Lebenssinns); (ii) dass wir über Handlungsspielraum verfügen – trotz unserer Bedingt- und Abhängigkeiten; und (iii) dass es das Gute gibt und dass es jedem Menschen zugänglich ist. (Nach Poltrum und Musalek leuchtet die Evidenz des Guten in uns auf, wenn wir dem Schönen begegnen.) Würde eine Therapeutin diese Grundannahmen nicht teilen, ist zu erwarten, dass sie und ihre Interventionen praktisch unwirksam sind. Sie definieren nämlich eine Haltung der Therapeutin, die Voraussetzung für einen der zentralen Wirkfaktoren klinisch-psychologischer und psychotherapeutischer Therapie sein dürfte: den Glauben des Patienten an eine gute Zukunft.
Auch bei der Psychoanalyse in der Form ihres Begründers Sigmund Freud (1856–1939) ragen die Lebenswelt des Menschen und mit ihr die Philosophie ausschließlich implizit in die Behandlungen hinein. Freud sah die Psychoanalyse zwar in einem philosophischen Materialismus grundgelegt. Schon alleine auf Grund dieser radikal-reduktionistischen Anthropologie können lebensweltliche, das heißt basale Erfahrungen jenseits metaphysischer Reduktionen keine Elemente in dessen psychoanalytischer Theorie sein. Die hier beschriebene Differenzierung erklärt zu einem anderen Teil die große Vielfalt psychotherapeutischer Schulen.
Parallelen zur Theologie.
Angesichts der Komplexität der psychotherapeutischen Profession und der umfangreichen selbstreflexiven Bildung und Eigentherapie im Rahmen ihres Erlernens scheint es angemessen, sie als Heilkunst zu bezeichnen. Martin Poltrum dürfte diesem Gedanken nahestehen, wenn er fragt, ob Psychotherapie nicht auch Aspekte des Menschseins enthält, „die nie Wissenschaft werden können und sollen“? Das erinnert an die Theologie, die sich seit langem im Spannungsfeld zwischen dem rational erschließbaren „Gott der Philosophen“ und dem emotional erlebbaren „Gott der Väter“ befindet. Und auch das Ringen um den Menschen in seiner – nicht durch Perspektivität zergliederten – Ganzheit verbindet Praktische Theologie und Psychotherapie, religiöse und säkulare Seelsorge.
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Markus Seidl-Nigsch ist Psychotherapeut in Ausbildung und promovierter Naturwissenschaftler. Er befasst sich seit vielen Jahren mit Wissenschaftstheorie, Philosophie und Theologie und schreibt für Zeitungen und Zeitschriften. (Foto: Dominic Kummer)
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