Eine neue Studie zur „Religion in der Moderne“ rehabilitiert die etwas aus der Mode gekommene These vom unaufhaltsamen Bedeutungsverlust der Religion in der Moderne – freilich mit gewissen Differenzierungen. Von Rainer Bucher
Wie es mit den Religionen in den globalisierten kapitalistischen Gesellschaften steht oder gar weitergeht, ist in den einschlägigen Wissenschaften ziemlich umstritten. Lange dominierte die Säkularisierungsthese, die behauptet, dass gesellschaftliche Modernisierung langfristig die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen schwächt.
Alternative Deutungsmodelle zur Säkularisierungsthese
In den letzten Jahrzehnten kamen alternative Deutungsmodelle auf: etwa die Individualisierungsthese, die davon ausgeht, dass nicht ein Abbau, vielmehr ein Umbau des religiösen Systems hin zu einem individualisierten Nutzenkalkül stattfindet, oder Theorien, die Religion auf dem Weg zu einer marktförmigen Vergesellschaftung sahen, oder auch Ansätze, die eine „postsäkulare“ Bedeutsamkeit der Religionen behaupten. Die dramatische Remilitarisierung kleiner, aber wirkmächtiger religiöser Gruppierungen tat ihr übriges, gar von einer „Wiederkehr der Religion“ zu sprechen.
Relevanzminderung von Religion in modernen Gesellschaften
Detlef Pollack legt nun zusammen mit Gergely Rosta einen eindrucksvollen und in jeder Hinsicht gewichtigen „internationalen Vergleich“ vor, der die Säkulariserungsthese, freilich modifiziert, rehabilitieren will. In ausdifferenzierten modernen Gesellschaften gebe es einfach zu viele andere Möglichkeiten, „die gemäßigten Zonen des Alltags zu überschreiten“.
Religion verschwinde zwar nicht, aber sie werde massiv in ihrer Relevanz gemindert, was freilich nicht ausschließe, dass es unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen zu zeitweisen religiösen Aufschwüngen komme; der wichtigste dieser Umstände: die Verbindung religiöser mit nicht-religiösen Identitäten, etwa ethnischen oder politischen Interessen. Freilich zu eng, darf diese Verbindung auch wieder nicht sein: Sie wirkt dann abschreckend.
Pollack/Rosta werten in ihrer Studie Zahlenmaterial der vergangenen 40-50 Jahre aus und sehen langfristig kaum irgendwo Ansätze einer Trendumkehr hin zu mehr religiöser Praxis. Praktisch überall sinke die Zahl derer, die Angebote traditioneller Religionsgemeinschaften annehmen. In Gesellschaften mit steigender Bildung, wachsendem Wohlstand und zunehmender sozialer Gleichheit schwächten sich religiöse Bindungen belegbar ab.
Auch der religiöse Fundamentalismus bestätigt indirekt den Säkularisierungsprozess.
Selbst der grassierende religiöse Fundamentalismus bestätige diesen Befund: In der Abwehr der Moderne zögen zwar bestimmte religiöse Gruppen eine scharfe Grenze zwischen sich und „den anderen“. Allerdings seien es in den modernen Gesellschaften nur relativ wenige, die ihre religiöse Identität aus dieser Abgrenzung gewönnen: Die Mehrheit der Muslime in westlichen Ländern etwa setze gerade nicht auf Rückzug, sondern auf Zugehörigkeit, Anerkennung und oft auch auf sozialen Aufstieg.
Die individuelle, frei flottierende Spiritualität wiederum habe durchaus Zulauf, insbesondere bei Jüngeren, gut Gebildeten, aber lange nicht in dem Maße, in dem die Menschen den traditionellen Religionsgemeinschaften den Rücken kehren. Die These, die Menschen hätten ein konstantes inneres Bedürfnis nach Religiosität, halten die Autoren für empirisch widerlegt. Für die Mehrheit der Menschen in westlichen Gesellschaften seien religiöse Fragen nicht obsolet, aber nachrangig: Es gibt für sie schlicht Wichtigeres in ihrem Leben.
Was wird aus den christlichen Kirchen?
Und was wird dann etwa aus den christlichen Kirchen? Rein empirisch, so Pollack und Rosta, seien Kirchen und Religionsgemeinschaften dort erfolgreich, wo ihnen etwas gelingt, was Pollack und Rosta „einbettende Inkulturation“ nennen, sie es also schaffen, ihren Transzendenzbezug „zurück ins Leben zu holen“.
Das müssen nicht immer unbedingt sympathische Strategien sein. Pollack und Rosta führen dafür etwa Russland an, in der die orthodoxe Kirche „nationalistisch und politisch aufgeladen“ agiere, in Brasilien böten die boomenden Pfingstkirchen den Armen die Aussicht auf sozialen Aufstieg durch Glaubensfestigkeit und Alltagsdisziplin, und in den USA seien die Evangelikalen stark, weil sie den Menschen Netzwerke alltäglicher Gemeinschaft böten und überdies das politische Feld religiös besetzen. In Deutschland und Österreich hatten die Kirchen solche Erfolge zum letzten Mal in der Restaurationsphase nach 1945.
Einbettende Inkulturation
Die Verbindung mit nicht-religiösen Inhalten, wie etwa politischen oder nationalen wirke für die Religion vitalisierend, so lange die Menschen sie als zweckdienlich erachten. Aber auch nur so lange. Das sei auch in den als besonders religiös geltenden USA zu beobachten. Es gebe neben der engen Verbindung evangelikaler Bewegungen mit der Politik eben auch eine rasant zunehmende Abwehr dieser politisch-religiösen Kopplung. In nur 15 Jahren sei etwa der Anteil der US-Amerikaner, die sich als religionslos bezeichnen, von 6 auf 23 Prozent gestiegen.
Das Buch ist für den wissenschaftlichen Schreibtisch geschrieben und wie bei allen wissenschaftlichen Studien, gerade übrigens auch empirischen, könnte man natürlich auch andere Perspektiven zur Analyse des untersuchten Phänomens „Religion in der Moderne“ stark machen: religionspsychologische Ansätze zur innerpsychischen Dynamik religiöser Praktiken und Gehalte etwa, oder gar theologische, wie die von Bonhoeffer bis Vattimo erörterterte Frage nach dem religiösen Gehalt auch und gerade der Säkularität. Dennoch: Die Ergebnisse dieser Meta-Studie sind bemerkenswert und wären eine Darstellung für weitere Leserkreise wert.
Christentum in der Moderne: Hoffnung auf Barmherzigkeit im globalen Kapitalismus?
Auf dem Cover des Buches ist Richard Meiers römische Kirche „Dio Padre Misericordioso“ abgebildet. Sie liegt in einem eher armen Viertel der italienischen Hauptstadt. Vielleicht wollte Detlef Pollack, der auch einmal evangelische Theologie studiert hat, damit ja einen Hinweis geben, worin die „einbettende Inkulturation“ des Christentums in modernisierten Gesellschaften bestehen könnte. Wenn ja: volle Zustimmung.