Wir baten SAID, den Dichter, um einen Text zum Jahresanfang. Er schickte uns diesen Psalm.
herr
höre mein geschrei mein gebet mein gedicht
erhöre mich
auf daß ich wieder ungehorsam werde
lehre mir genügsamkeit
damit ich meiner freiheit dienen kann
auf daß sie die demut gebiere
ohne die ich mich nicht wehren kann
gegen die selbstliebe und den überfluß
gegen die unkluge vernunft
die uns blind macht für das leid anderer
und taub für das eigene gebrechen.
siehe herr
wir sind am ende
wir schenken den handys glauben
und gehorchen unseren habgierigen händen
wir haben längst die schamgrenze erreicht
und sind bieder geworden
es ist zeit
oh herr
daß du erscheinst
erscheine und zerschlage unseren schönen schein
damit wir den dingen zuhören
bis sie wieder von sich erzählen
gehe mit deinem schwert zwischen uns
und führe alles zusammen
was wir in unserer hybris entzweit haben
und verjage die wechsler abermals aus dem tempel
siehe
sie sind wieder salonfähig
und predigen in schönen worten
erscheine barfüßig und sprich in der sprache der durstenden
für unsere tauben ohren
auf daß wir das schweigen wiedererlernen
und schwindelgefühl uns dann erfaßt
herr
verjage auch die falschen propheten
die sich in unserem herzen eingerichtet haben
lehre uns niemandem untertan zu sein
um uns treu zu bleiben
denn wir wollen dir näherkommen
und schaff die gottesbeschützer ab
die das trennende betonen
in deinem und im namen der silberlinge
und sich täglich vermehren
siehe herr
ich bin wütend
dein schwert ist bald von nöten
SAID
SAID, 1947 in Teheran geboren, hat mit 17 Jahren seine Heimat verlassen. Seit 1965 lebt er in München. Sein literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und der Goethe-Medaille. Von Mai 2000 bis Mitte 2002 war er Präsident des deutschen PEN-Zentrums.
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