Ottmar Fuchs erinnert an den jüngst verstorbenen Autor Dževad Karahasan mit seinem letzten Roman „Einübung ins Schweben“.
Wer dieses Buch[1] liest, erlebt beklemmend und zugleich beglückend viel von dem, was es erzählt. Im Medium der fiktiven Freundschaft mit der zentralen Romanfigur, dem Dichter und Wissenschaftler Peter Hurd, der sich ein Denken ohne Vernutzung leistet,[2] werden die Erlebnisse im belagerten Sarajevo als „Einübung ins Schweben“ erzählt. Und Peter Hurd, der in Sarajevo bleiben will, um diese Grenzsituation bei den Menschen und sich selbst zu erforschen, wird selber in den Strudel dieser Erfahrung hinein gezwungen und kann ihm nicht entrinnen.[3]
„Wenn ich in Sarajevo wirklich unter Freunden sein will, muss ich zum Friedhof gehen“.
Lange hing bei Dževad Karahasan dieses Buch offensichtlich selbst in der Schwebe (der deutsche Titel ist übrigens die akkurate Übersetzung der Originalausgabe in Sarajevo 2022). 30 Jahre brauchte er, um es veröffentlichen zu können: „Jetzt, über 30 Jahre nach dem Ende des Krieges kann ich darüber schreiben, ohne Angst, darüber verrückt zu werden.“[4] Umso schmerzlicher ist es, dass er diese Veröffentlichung nur um ein Jahr überlebt hat.
Doch so weit weg von seinem Leben sah Karahasan den Tod nicht. Er sah ihn als „Übergang zu einem Neuanfang. Wir würden alle in irgendeiner Form weiter existieren.“[5] So sagt er angesichts des muslimischen Bergfriedhofs Ravne Bakije, auf dem er einmal begraben sein wollte: „Wenn ich in Sarajevo wirklich unter Freunden sein will, muss ich zum Friedhof gehen. Denn inzwischen sind beinahe alle meine Jugendfreunde im Krieg umgekommen oder nach dem Krieg gestorben.“[6], und er fügt hinzu: „Ich muss gestehen: Sehr oft sind mir meine lieben Toten viel näher als die lebendigen Menschen, die ununterbrochen telefonieren und sich freudevoll per Satellit anschreien. Immer öfter sage ich zu meinen lieben Toten: ‚Ich komme. Ich komme zu euch.‘“[7] Und so kann er sagen: „In Sarajevo lebe ich sehr gut mit der Gewissheit, dass ich sterben werde. Ich freue mich schon darauf.“[8]
In Sarajevo hat Karahasan nicht nur viele Menschen, die ihm bekannt und lieb waren, verloren, sondern schmerzlich getroffen hat ihn auch die Zerstörung der Nationalbibliothek in Sarajevo. Wo Bücher zerstört werden, auch da verliert Karahasan ‚gute Freunde‘. Hier werden die unzähligen Möglichkeiten vernichtet, die je eigenen Leben ins schier Unermessliche zu erweitern. Und hier wurde die Vielfalt verschiedener Sprachen, Inhalte und Ethnien (Muslim*innen, Katholiken, Orthodoxe und Jüdinnen genauso wie Bosnierinnen, Serben und Kroatinnen) an einem Ort zerstört, signifikant für das Sarajevo vor der Belagerung und für die jetzige Zerstörung der ganzen Stadt.
Ein „mächtiges Buch“
Es ist ein „mächtiges Buch“, genauso, wie Karahasan die Wirkung des Buches seines Freundes Peter Hurd, beschreibt: „Die Menschen in Sarajevo waren, als wir ‚Die weiße Wölfin‘ vorstellten, bereits von der Angst und der Erwartung des Krieges befallen, aber dieses mächtige Buch riss sie mit und richtete sie auf, befreite sie von der Angst und erfüllte sie mit einer ganz anderen Spannung, so dass wir die Lesung in einer Art Verzückung beendeten, beglückt und gestärkt, als hätten wir einen Tanz von Verliebten getanzt oder an einem Ritual teilgenommen.“[9]
Wer die „Einübung ins Schweben“ liest, erlebt mittelbar und in manchen Passagen sogar so direkt, wie es eine Erzählung nur möglich machen kann, was es heißt, in einer andauernd gefährdeten Situation zu leben, jederzeit erschossen oder von einer Granate getroffen zu werden, jederzeit in einem Gebäude von seinen Trümmern erschlagen zu werden und jederzeit erfahren zu müssen, wie dies anderen geschieht. Der Mensch befindet sich dort in einer andauernden Schwebe zwischen Leben und Tod, und ist ständig dabei, ein solches Leben in ständiger Unsicherheit einzuüben.
Eine irrsinnige Spannung tut sich hier auf, man verflucht die Situation und entnimmt ihr zugleich möglichst viel Leben. Einer der Soldaten, die die Stadt verteidigen, sagt dies so: „Ich weiß nicht, wann’s angefangen hat, vielleicht vor ein paar Monaten, als mir klar geworden ist, dass ich die Scheiße hier nicht überlebe, wahrscheinlich niemand von uns. … In diesen 20 Tagen habe ich mehr gelebt als in allen Jahren bis dahin.“[10]
„Mein Lied ist erst tot, wenn ich tot bin.“
Bezeichnend für diesen Widerspruch zwischen plötzlicher Zerstörung und zärtlicher Poesie, zwischen militärischer Gewalt und der „Gewalt“ der Liebe ist die Erzählung, mit der der Autor das Buch beginnen lässt. Diese Widerspruchsstruktur variieren alle folgenden Kapitel. Bei einer Hochzeitsfeier singt eine junge Frau ein altes Lied vom Goldfaden der Liebe, der sich vom Himmel herab auf Fes und Schleier des Brautpaares legt, und plötzlich schlagen die Granaten in unmittelbarer Nähe ein, aber die junge Sängerin, Lejla ist ihr Name, singt weiter.
Und obwohl die Detonationen viel lauter sind als ihre Stimme, dringt ihre Stimme dennoch durch und bleibt hörbar. Danach sagt sie: „Was hätte ich denn tun können? Erlauben, dass sie mein Lied ermorden? … Sie müssen mich umbringen, wenn sie mein Lied umbringen wollen. …. Mein Lied ist erst tot, wenn ich tot bin.“[11] So schwebt ihr Lied, entwurzelt vom Kontext, über den Granaten, findet keinen Grund mehr in der Umgebung, muss sich davon lösen und ohne bzw. dagegen behaupten.
„Denn man lebte in einer Zwischenzeit. Nichts war … sicher.“
Für Menschen, die sich aktuell nicht in einer solchen Bedrängungssituation befinden, die nicht unmittelbar belagert sind von Verwundung und Sterben, ist dieses Buch doch wenigstens ein sekundärer Empathieweg für all jene Orte, wo dies geschieht, wo dies geschah und wo dies geschehen wird. Ich habe bei der Lektüre oft an die Menschen in der Ukraine, aber auch im Sudan und in vielen anderen Ländern der Erde denken müssen, die Ähnliches hautnah erlebt haben, erleben und erleben werden.
Der Autor stellt selbst in der Einleitung die Frage, ob es für Menschen eine Erkenntnis aus solchen Erfahrungen heraus gibt.[12] „Eine Erkenntnis, die niemanden über einen erlittenen Verlust oder die Schrecken, die das Drama aufgezeigt hat, trösten konnte, aber diese Erkenntnis konnte jeden davon überzeugen, dass Verlust und Schrecken unvermeidlich … sind. … Aber sie würde uns einen Teil von uns selbst bringen, oder wenigstens die Ahnung von einem Teil unserer selbst, von dem wir nichts gewusst haben.“[13] Der Roman lässt diese Tiefen und Untiefen nachempfinden. Etwa wie die ständige Gefahr auch eine Verschiebung der Beziehungen bringt, wie sich auch die Sprache verändert: „Ich kenne fast niemanden, der auf den Krieg und die Belagerung nicht zuerst mit der Veränderung seiner Sprechweise … reagiert hätte.“[14] Karahasan berichtet: „Damals in Sarajevo schwebte Rauch von verbrannten Autos und Häusern und so weiter. Es schwebten die Seelen der Ermordeten, die noch nicht begraben wurden. Es schwebte in Augenblicken die ganze Stadt. Denn man lebte in einer Zwischenzeit, in einem Zwischenzustand. Nichts war definitiv, nichts war sicher.“[15]
„Wenn der Mensch seinen Grund wahrnimmt, begreift er, dass er schwebt.“
Solche Grenzsituationen und Krisenzustände erlauben es nicht mehr, sich zu verfehlen, indem man wählt, was korrekt ist, anstatt das, was man wirklich möchte.[16] Normale Bedingungen sind kontrollierte Bedingungen. In der Krise aber schmelzen die Kontrollmöglichkeiten. Der Mensch merkt unmittelbar, dass er keinen festen Grund hat. „Wenn der Mensch seinen Grund wahrnimmt, begreift er, dass er schwebt. Er schwebt zwar auch, wenn er seinen Grund nicht wahrgenommen hat, und wenn er nicht weiß, dass es keinen Grund gibt, aber nur dann, wenn er seinen Grund wahrgenommen und entdeckt hat, dass es ihn nicht gibt, weiß der Mensch, dass er schwebt …“[17] In normalen Zeiten täuschen wir uns also über die permanent herrschende Unsicherheit unserer Existenz hinweg. Die kontrollierbaren Sicherheiten sind nur eine dünne Decke, die jederzeit zerreißen kann.
Und die Katastrophen nehmen kein Ende. Denn es gilt der Seufzer der Mutter Ljuba: „Mein Gott, werden sie uns jemals das Böse verzeihen, das sie uns antun?“[18] Und immer gibt es die, die „das Böse in sich mit fremdem Unglück nähren“, die „Trost und Freude in fremdem Schmerz finden.“[19]
Signifikant für die „Zeitenwende?“
Ich trete ein paar Schritte zurück (nicht um zugriffiges Vergleichen geht es hier, sondern um ein vorsichtiges Verbinden): Geboren zum Kriegsende habe ich ein Leben erleben dürfen, das immer mehr auf festem Boden, relativ sicher und auch, wenn auch in Grenzen, viele planbare Anteile hatte. Erst seit der sogenannten „Zeitenwende“, beginnend mit den Corona-Gefahren, merke ich, dass ein solches Leben historisch gesehen nicht normal, sondern ein seltenes Privileg ist. Wann hat es in Europa eine so lange Friedenszeit gegeben? Und permanent muss man wahrnehmen, dass unsere Friedenszeit hierzulande durch Stellvertreterkriege, die anderswo stattfinden, erkauft war und ist. Der Überfall auf die Ukraine zeigt in erschreckender Weise, wie arglos wir hinsichtlich der politischen Verhaltens-Codices waren, die nun auch vor der eigenen Haustüre und nicht nur in fremden Landen durchbrochen werden. Der Krieg, der nach 1945 für (und nur für) Europa (abgesehen vom Balkankrieg) ein no go schien, ist wieder als relative Normalität des Konfliktaustrags zurückgekehrt, einschließlich der damit veränderten Denkweisen und Verteilungsstrategien der europäischen Länder. Noch ist „Sarajevo“ nur für die Ukraine unmittelbar erlebbar. Aber „Sarajevo“ zeigt, wie schnell alles kippen kann.
„Wüsste ich es doch nur. Wenigstens ein bisschen, unsicher…“
Am Ende des Buches kommt der Autor nochmals auf Lejla zurück: „Mir scheint, das beste Bild für meinen Aufenthalt auf der Welt ist die kleine Sängerin Lejla … wer wollte mir dadurch, dass er mich Lejla sehen und hören ließ, … etwas mitteilen und was? …Habe ich etwa nicht eines Nachts von Lejla geträumt, das heißt nicht von ihr, sondern von ihrem Lied? Habe ich etwa nicht gesehen, wie ein Goldfaden aus heiterem Himmel auf meine Stadt herabschwebte? Wüsste ich es doch, wüsste ich es doch nur. Wenigstens ein bisschen, unsicher…“[20]
Mit seinem Tod entlässt Dževad Karahasan seine Leser und Leserinnen endgültig in diese Unsicherheit und Sehnsucht.
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[1] Dževad Karahasan, Einübung ins Schweben. Roman, Berlin 2023.
[2] Zum Nutzen eines völlig nutzlosen Wissens vgl. ebd. 11.
[3] Vgl. ebd. 224.
[4] Zitiert bei Tobias Wenzel, „Wenn ich unter Freunden sein will, muss ich zum Friedhof“, in: https://www.deutschlandfunkkultur.de/goethepreis-fuer-dzevad-karahasan-wenn-ich-unter-freunden-100.html, Zugriff 20.5.2023.
[5] Zitiert ebd.
[6] Zitiert ebd.
[7] Zitiert ebd.
[8] Zitiert ebd.
[9] Karahasan, Schweben 8.
[10] Ebd. 236-237.
[11] Ebd. 24.
[12] Vgl. ebd.13.
[13] Ebd. 13.
[14] Ebd. 22.
[15] Zitiert bei Tobias Wenzel, „Einübung ins Schweben“: Vom Humanisten zum Unmenschen, in:
https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Einuebung-ins-Schweben-Vom-Humanisten-zum-Unmenschen,einuebung100.html, Zugriff 23.5.2023. Vgl. ähnlich Karahasan, Schweben 99.
[16] Karahasan, Schweben 38.
[17] Ebd. 40.
[18] Ebd. 168.
[19] Ebd. 9
[20] Ebd. 303.
Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
Beitragsbild: Friedhof in Sarajevo, Michael Goodine