Am 11. November ist Martinstag – Christoph Naglmeier-Rembeck stellt ein digitales Spiel zum heiligen Martin und der Legende von der Mantelteilung vor.
Intro
Ungarn, Belgien, Slowakei, Frankreich, Polen: Das sind nur einige der Länder, in die Teile des wohl größten Martinsmantels der Welt verschickt wurden. Anlass dafür war der Katholikentag 2022 in Stuttgart unter dem Motto „Leben teilen“, für den der 240 Quadratmeter große Mantel zusammengenäht wurde.[1] Dieses Beispiel zeigt, wie bedeutend die Mantelteilungslegende des Martin von Tours für das christliche Motiv des Helfens ist. In der Kunst hat diese Erzählung eine breite Rezeption über die Jahrhunderte erfahren. Verschiedenste Darstellungen sind entstanden, die wiederum unterschiedliche theologische Deutungen transportierten. Umgekehrt hat die Vielfalt an theologischen Deutungsmustern dieser Szene die Pluralität an künstlerischen Abbildungen beeinflusst, die bis heute (nach)wirken.
Die Legende und deren theologische und kunstgeschichtliche Rezeption lässt sich didaktisch in vielerlei Form bearbeiten. Im Folgenden wird dargestellt, wie dies im Rahmen einer Vorlesung zu „Diakonie als Grunddimension kirchlichen Handelns“ als digitale Selbstlernphase konzipiert wurde. Genauer: in der Form eines Browsergames.
Theologische Brisanz
Das Bild, das von der Mantelteilung in schauspielerischen Darstellungen im Rahmen des Brauchtums rund um den Geburts- und Gedenktag jährlich am 11. November gezeichnet wird, ist meist folgendes: Martin sitzt auf einem Pferd und teilt seinen Mantel, den er einem bedürftigen Mann, meist spärlich oder gar nicht bekleidet, gütig herunterreicht. Dass die Kunstgeschichte ganz unterschiedliche Szenerien für diese Legende bereithält, gerät oft in den Hintergrund.[2]
Die älteste erhaltene Darstellung der Mantelteilung ist eine Miniatur aus Fulda aus dem Jahr 975. Wir sehen zwei Männer. Sie schauen sich an, sind gleich groß und durch den Mantel verbunden. Martin teilt den Mantel mit einem kleinen Schwert. Es ist die älteste erhaltene Darstellung der Mantelteilungsszene.
Abbildung 1: Fuldaer Sakramentar 975.
Über die Jahrhunderte entwickelte sich ein dominierender Stereotyp. Martin von Tours wird als erhabener Reiter dargestellt. Die bedürftige Person (uns ist keine Darstellung bekannt, in der sie nicht männlich gelesen wird), wird mehr und mehr auf ein Attribut Martins reduziert. Zugespitzt formuliert: Der Bedürftige wird zum Behelfsobjekt, das es braucht, damit Martin die Hilfshandlung, die als christlich-caritative Pflicht gilt, vollziehen kann. In dieser Bildsprache wird das Helfen zur Pflicht innerhalb einer klaren Hierarchie, die im Vorbeigehen erfüllt wird. Ein Extrem dieser Denkart ist eine Darstellung, in der der Bedürftige von Martins Pferd förmlich überrannt wird, selbst das Pferd blickt auf den Bedürftigen herab.
Abbildung 2: Sankt Martin und der Bettler, Ungarn circa 1490.
Was lässt sich daraus lernen?
Das christliche Motiv des Helfens ist über viele Jahrhunderte hinweg von einer paternalistischen Vorstellung der Mantelteilungsszene geprägt. Das kann hier nur oberflächlich dargestellt werden. Mit den Worten von Walter Fürst: „Die Bildsprache der Charité ist […] von der Asymmetrie des Helfens bestimmt.“[3] Nimmt man Armin Nassehis Einschätzung hinzu, dass Paternalismuskritik die „Kritik an nun illegitim erscheinenden asymmetrischen Positionen“ [4] ist, verstärkt sich diese Einschätzung. Nach Walter Fürst hat sich der stereotypisierte Kanon der bildlichen Darstellung der Mantelteilungsszene so sehr in das „kulturelle[…] Langzeitgedächtnis der Christenheit eingeprägt, dass eine andere, davon abweichende Darstellung kaum Chancen hat, ähnlich wirksam erinnert zu werden.“[5] Die in vielen Darstellungen ausgedrückte Asymmetrie zwischen Martin und dem Bedürftigen verkennt die ursprüngliche Interpretation, die sich auch in der Heiligenvita finden lässt. In dieser folgt auf die Mantelteilung der Traum, in dem Christus sich als der Bedürftige zu erkennen gibt. Im Kontakt mit einem Mitmenschen, in diesem Fall dem Bedürftigen, macht Martin Begegnung mit Gott – im Moment des Helfens weiß Martin das noch nicht. Er tut es ohne spiritualisierende Hintergedanken, Christus offenbart sich und seine Rolle in der Szene gewissermaßen erst im Nachhinein. Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe ebenso wie die Idee der Bedingungslosigkeit von Caritas wird damit zum Ausdruck gebracht. Es herrscht keine Asymmetrie im Verhältnis des Einen zu (Un)Gunsten des Anderen.
Diese theologische Sachlage bildet den Hintergrund für die Entwicklung des Browsergames zur Mantelteilungslegende.
Die Mantelteilung im Browsergame
Zunächst wird im Intro des Browsergames der betreffende Ausschnitt aus der Heiligenvita über Martin von Sulpicus Severus[6] erzählt: Der römische Soldat Martin trifft einen armen Mann und teilt mit ihm seinen Mantel. Anschließend werden die Spieler*innen aufgefordert, die Darstellung der Mantelteilungsszene mit Karten zu legen, auf denen jeweils Martin oder der Bettler in verschiedenen Körperhaltungen und mit diversen Attributen und Bekleidungen zu sehen ist und so die idealtypischen Epochen nachzuvollziehen.
Abbildung 3: Screenshot aus dem Spiel.
Denn: Martin und der Bedürftige wurden in der Kunst oft ganz unterschiedlich dargestellt: mit oder ohne Pferd, stehend oder kniend, nackt oder (spärlich) bekleidet… Ziel ist es dabei, die Konstellationen der jeweiligen Epochen, die sich in der Kunstgeschichte idealtypisch nachzeichnen lassen, zu erkennen. Ist eine Epoche vervollständigt, gilt dieser Spielfortschritt als abgeschlossen und die Zusammenfassung der Epoche wird eingespielt. Am Ende sind alle Epochen und die jeweiligen Lerninhalte nochmals abrufbar. Als Teil einer digitalen Selbstlernphase ist das Spiel in die reguläre Vorlesung im Theologiestudium eingebettet. Zugleich bietet es als Open-Access-Game aber auch die Möglichkeit, unabhängig von der Vorlesung eingesetzt zu werden.
Gamification in digitalen Selbstlernphasen
In Pandemie-Zeiten kamen Selbstlernphasen als Lernform vermehrt in den Fokus.[7] Es kann daher als ein Ertrag der pandemiebedingten Distanzlehre betrachtet werden, wenn Selbstlernphasen in der postpandemischen Lehre eine größere Rolle spielen. Lernspiele scheinen für Selbstlernphasen besonders geeignet zu sein,[8] da Lernmotivation, zeitliche Taktung und der erkennbare Mehrwert als zentrale Prozesse von Selbstlernphasen[9] gut gesteuert werden können.
Die Übertragung von Vorlesungsinhalten in ein Spielformat wird üblicherweise unter dem Stichwort Gamification verhandelt. Gamification begegnet im Alltag ständig (z. B. beim Sammeln von Bonuspunkten) und meint die Implikation von „Spielmechanismen in nicht-spielerische[n] Kontexte“, um die intrinsische Motivation der Nutzer*innen zu steigern.[10] Die Spielentwickler*innen von Donausaurus haben uns[11] häufig mit dem Begriff der Gamification und den darauf aufbauenden Fragen konfrontiert. Welche Inhalte sind wirklich relevant und so zentral, dass sie in dem Spiel vorkommen müssen? Kann man diesen Inhalt nochmal zuspitzen und kürzen? Die Übersetzung der Inhalte in ein entsprechendes Spielszenario haben wir als hohe Kunst der Spielentwicklung kennengelernt. Gemeinsam verfolgten wir das Anliegen, die theologischen Inhalte mit den Mitteln eines Spiels aufzubereiten und so einen kreativen und spielerischen Zugang zur Aneignung der Vielfalt der Martinsüberlieferungen zu ermöglichen.
Fazit
Unser Spiel ist keineswegs perfekt. Vor allem begrenzte finanzielle Fördermittel und die Unmöglichkeit des nachträglichen Eingreifens gelten hierfür als Faktoren. Gleichwohl ist es ein innovativer Testballon, der theologische Inhalte in einer Selbstlernphase in spielerischer Form zugänglich macht. Drei Anliegen möchte ich abschließend in appellativer Form an die Lesenden richten: Spielen Sie, lernen Sie, lassen Sie sich zu Nachfolgeprojekten inspirieren!
Christoph Naglmeier-Rembeck ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg, Redaktionsmitglied von y-nachten.de und promoviert zum Thema Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin in Städten.
Link zum Spiel
https://donausaurus.com/Martin_von_Tours/Martin.html
[1] Witczak, Angelika, Martinsmantel für Europa, https://www.drs.de/ansicht/artikel/martins-mantel-fuer-europa.html (10.10.2023)
[2] Vgl. Fürst, Walter, Gott begegnen im bedürftigen Menschen, in: Haslbeck, Barbara/Baumgartner, Isidor (Hg.), Wer hilft wird ein anderer. Zur Provokation christlichen Helfens, Berlin 2006, 55-62.
[3] Fürst, Walter, Gott begegnen im bedürftigen Menschen, 57.
[4] Nassehi, Armin, Asymmetrien als Problem und als Lösung, in: Fateh-Moghadam, Bijan/Sellmaier, Stephan/Vossenkuhl, Wilhelm (Hg.), Grenzen des Paternalismus, Stuttgart 2010, 348.
[5] Fürst, Walter, Gott begegnen, 57.
[6] Huber-Rebenich, Gerlinde (Hg.), Sulpicius Severus, Vita sancti Martini / Das Leben des heiligen Martin, Stuttgart 2010.
[7] Vgl. Rottmeier, Stephanie, Selbstlernphasen – ein wichtiger Bestandteil JEDER Lehrveranstaltung. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20210909.DE (17.10.2023).
[8] Vgl. Schuldt, Jacqueline, Lernspiele und Gamification, in: Niegemann, Helmut/Weinberger, Armin (Hg.), Lernen mit Bildungstechnologien, Berlin/Heidelberg 2018, 1-21.
[9] Vgl. Rottmeier, Selbstlernphasen.
[10] Schuldt, Jacqueline, Lernspiele und Gamification, in: Niegemann, Helmut/Weinberger, Armin (Hg.), Lernen mit Bildungstechnologien, Berlin/Heidelberg 2018, 10.
[11] Das Team der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg.