Thilo Sarrazin hat ein nicht nur islamfeindliches, sondern auch religionsfeindliches Buch geschrieben. Oliver Wäckerlig deckt Sarrazins versteckten Angriff auf die Religionsfreiheit auf.
Thilo Sarrazin breitet in seinem jüngsten Buch seine ungebildete, eurozentrische Borniertheit aus. Seine Weltsicht stammt aus dem 19. Jahrhundert, wo «weisse» Europäer wie er noch den Tarif durchgeben konnten. Das anachronistische Machwerk ist aber, und darauf kommt es mir an, nur vordergründig islamfeindlich, es ist vor allem anti-religiös. Sein paternalistischer Laizismus liegt im Trend und findet sich aktuell auch bei der AfD.
Sarrazin zeigt die Unfähigkeit, mit Pluralität und Mehrdeutigkeit umzugehen.
In seinem Buch «Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht» zeigt Sarrazin exemplarisch, was Thomas Bauer mit dem Streben nach einer «Vereindeutigung der Welt» meint, nämlich die Unfähigkeit, mit Pluralität und Mehrdeutigkeit umzugehen. Bauer bezeichnet das als Ambiguitätsintoleranz. Thilo Sarrazin betrachtet die Welt mit den Augen eines Ingenieurs, der stets Klarheit und Eindeutigkeit sucht. Diesen Blick wirft er auch auf Religion, Kultur und Gesellschaft. Kultur kann er ausserhalb Europas nur entdecken, wo er etwa Sinfonieorchester findet. Da er in der islamischen Welt keine Kultur vermutet, geht er davon aus, dass die islamische Welt weder eine eigene Architektur noch eigene Literatur kennt. Den Koran hat er wie eine IKEA-Montageanleitung gelesen, also gleich wie es auch Fundamentalisten tun: mit «gesundem Menschenverstand» und kulturell entbettet als eine unmissverständliche direkte Handlungsanleitung aus dem Off.
Religion und Wissenschaft
Sarrazins Buch strotzt vor Statistiken, die auf der Ebene von Nationalstaaten GewinnerInnen und VerliererInnen mit der Religionszugehörigkeit in Verbindung bringen. Er will «vorurteilsfrei» aufgezeigt haben, dass jede Gesellschaft zugrunde geht, wenn der Anteil der MuslimInnen einen gewissen Prozentsatz übersteigt. Deshalb will er die Zuwanderung von MuslimInnen verbieten. Andere haben bereits Sarrazins Islambild kritisiert. Mich interessiert an dieser Stelle, was uns sein Buch über die Selbstwahrnehmung seiner umfangreichen wohlwollenden Leserschaft sagt. Wo leben wir eigentlich und wie halten wir es mit der Religion.
Sarrazin macht eine anachronistische Denkweise zur Grundlage seines Weltbildes.
Thilo Sarrazin führt nicht nur Aussagen von Denkern des 19. Jahrhunderts wie Jacob Burckhardt (über mehrere Seiten lang zur Geschichte der Weltreligionen) oder Charles Darwin zur Übertragung der «natürlichen Selektion auch auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften» ohne Reflexion und Einordung an, als ob ihre Positionen den aktuellen Wissensstand wiederspiegeln würden. Er übernimmt diese anachronistische Denkweise als Grundlage seines Weltbildes. Sarrazin entpuppt sich als Positivist alter Schule, der noch einer Fortschrittsutopie in der Tradition von Auguste Compte anhängt, welche der Weltgeschichte einen linearen Verlauf über verschiedene Entwicklungsstadien hinweg attestiert. In diesem Geschichtsmodell steht am Ende bzw. an der Spitze die Epoche der Wissenschaft – nachdem sie die Religion abgelöst hat.
Sarrazin hält im ersten Absatz seines Buches fest, dass er sich nicht als religiös versteht. Er zeigt sich überrascht, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Religionen nicht einfach verschwanden, indem sich – wie angeblich im Christentum bereits vollzogen – «unaufgeklärter religiöser Glaube» den «Gesetzen der Logik» gebeugt und dem «wissenschaftlichen Denken» Platz gemacht habe.
Später schreibt er, dass «wissenschaftlich gesehen», jede Religion «nichts als ein Aberglaube» sei. Eine «Weltreligion» sei «ein Aberglaube, der von besonders vielen Menschen über besonders lange Zeit» geteilt werde. Es verwundert nicht, dass er den Evolutionsbiologen Richard Dawkins als zeitgenössischen Zeugen anführt.
Identitäres Christentum
Wie Markus Söder mit seinen Amtskreuzen in Bayern oder Heinz-Christian Strache mit seinem Kreuz mit dem Islam in Österreich sieht sich Thilo Sarrazin aufgehoben in einer christlichen – aber nicht religiösen! – Kultur, die es zu verteidigen gelte.
Das Christentum sieht Sarrazin als eine gewaltfreie Religion, die zwischen den Jahren 600 und 1000 n. Chr. ein paar «aggressive Elemente» entwickelt habe, deren «letzte Zuckungen» aber im Verlaufe des 18. Jahrhunderts wieder erloschen seien. Danach setzt er bereits den «säkular-neutralen Staat» an, der sich als westliches Modell scheinbar bis in die Gegenwart durchgezogen hat. In den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre kann er deshalb auch keine christlich-religiöse Komponente ausmachen. So hätten sich nicht etwa ChristInnen und MuslimInnen oder SerbInnen und BosniakInnen gegenübergestanden, sondern «Serben und Muslime». Eine «erneute Welle der Islamisierung von Staat, Recht und Gesellschaft» habe die SerbInnen an eine «400 Jahre währende[n] Gewalterfahrung während der osmanischen Herrschaft» erinnerten, wobei es immer wieder zu Massakern an Christen» gekommen sei. So lässt sich «Srebrenica» als rationale Präventivmassnahme rechtfertigen, ohne den religiös konnotierten Völkermord explizit zu erwähnen.
Für Sarrazin braucht Gesellschaft keine Religion.
Für Thilo Sarrazin braucht Gesellschaft keine Religion. Er sieht den Status der christlichen Kirchen als öffentlich-rechtliche Körperschaften als historisch bedingtes Überbleibsel eines «Staatskirchentums», das er doch – wie erwähnt – an anderer Stelle in Abrede stellt. Die öffentlich-rechtliche Anerkennung habe «im Sinne einer gesellschaftlichen Befriedung» für eine «Übergangszeit» gegolten, nun sei aber «diese Zeit abgelaufen». Er verhehlt nicht, dass es ihm auch darum geht, anderen Religionsgemeinschaften nicht «ähnliche Privilegien» einräumen zu müssen. Dies aufgrund einer ihm wohl uneinsichtigen «‘Gleichbehandlung’ der Religionen», die er in Anführungszeichen schreibt und als rechtsstaatlicher Grundsatz, zumindest im Falle des Islams, ablehnt. Dieselbe Argumentation führt er zur Abschaffung des staatlichen Religionsunterrichts an.
Religionsfreiheit als Anachronismus
Sarrazin schreibt auch «Religionsfreiheit» in Anführungszeichen. Er mokiert sich über die Position, dass sich der säkular-neutrale Staat grundsätzlich «als theologisch ‘inkompetent’ anzusehen» habe und ihm eine inhaltliche Bewertung von Religionen prinzipiell nicht zustehe. Doch genau dies sei eine staatliche Aufgabe zum Schutze der Gesellschaft. Er will keine religiöse «Sonderbehandlung» zulassen. Die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften in Deutschland sollten sich nach dem Vereinsrecht «staatsfern» organisieren und «in diesem Rahmen freie Religionsausübung» praktizieren. Korporative Religionsfreiheit lehnt er ab, denn alles «was über die individuellen Bürgerrechte hinausgeht», ist ihm ein Gräuel. Gewährsleute sind ihm die zahllosen «säkularen» MuslimInnen, die durch die Talkshows tingeln und Bestseller schreiben. Mit ihnen teilt Sarrazin ein «säkulares» bzw. «liberales» Religionsverständnis, das Religion staatlich kontrolliert ins Private verbannt und auf eine persönliche Spiritualität reduziert haben möchte.
Religiöse AkteurInnen verlieren zunehmend die Deutungshoheit über ihre Religion.
Sarrazins Laizismus liegt im Trend. Ob in der Politik religiöse Symbole deutend instrumentalisiert und uminterpretiert werden (Minarett, Kopftuch, Kreuz) oder die staatliche Verwaltung nach «Muslim-Tests» für Einbürgerungswillige nun Konversionen von AsylbewerberInnen zum Christentum (formal und inhaltlich!) hinterfragt oder ob Juden und Jüdinnen nur dann geschächtetes Fleisch kaufen dürfen, wenn sie «jüdisch» genug leben: Religiöse AkteurInnen verlieren zunehmend die Deutungshoheit über ihre Religion. Wenn MuslimInnen (seit Jahr und Tag) erklärt wird, was der Islam (nicht) ist und ChristInnen abgesprochen wird, ChristInnen zu sein, dann wird Religionsfreiheit ausgehöhlt und Religion zum Spielball der politischen Auseinandersetzung gemacht.
Die Forderungen im AfD-Wahlprogramm für die kürzliche Landtagswahl in Bayern stehen symptomatisch für diese Entwicklung. So strebt die AfD «eine konsequente Trennung von Staat und Religion» an und ist gegen jede «staatliche Förderung von Religionsgemeinschaften». Kirchen seien bloss «Lobbygruppen». Staatskirchenverträge seien deshalb zu kündigen und – eingeflüstert durch Hans-Georg Maaßen? – die Gewährung von Kirchenasyl sei «konsequent strafrechtlich zu verfolgen». Zudem seien die Knabenbeschneidung und das Schächten zu verbieten. Beim Islam traut sich die AfD noch weiter vor: Sie will – etwas verdruckst formuliert – ein öffentliches Islamverbot.
Im Kern hat Thilo Sarrazin daher ein religionsfeindliches Buch geschrieben. Islamfeindlichkeit wird dabei bloss als Hebel benutzt, um die Religionsfreiheit anzugreifen.
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Zum Autor: Oliver Wäckerlig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI).
Bild: Fahrul Azmi / Unsplash.
Buch: Thilo Sarrazin, Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“, FinanzBuch Verlag 2018, 450 S., 24,99 EUR, ISBN: 978-3959721622.