Der Iran ist ein Land im Wandel. Die Theologin Gunda Werner hat es zunächst 2010/11 mit dem Fahrrad und dann noch einmal 2015 bereist und berichtet von ihren persönlichen Eindrücken.
Meine erste persönliche Lernerfahrung im Iran ereignete sich unerwartet und in einem Kontext zunehmender Genervtheit von diesem Land, das von allen als so wunderbar beschrieben worden war. Wir aber kamen aus dem autonomen kurdischen Gebiet des Irak, und dieses war – nur etwas über fünf Jahre her – abgesehen von den Autofahrern eine großartige Erfahrung. Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, ab drei Uhr nachmittags hörten die Angebote der Schlafplätze nicht mehr auf, ebenso wenig die Einladungen zum Essen. Auch wenn der Iran unübersehbare Vorteile hatte, alleine dass die Landschaft nicht vermint ist und es möglich ist, die Straße zu verlassen, es fließendes Wasser gibt, Strom und gute Straßen, kamen die Menschen uns doch deutlich reservierter vor. Und das im kurdischen Teil, wie sollte es dann woanders sein? Wie gesagt, skeptisch und genervt brachen wir in den 15. Tag im Iran auf. Am Tag vorher wären wir beinahe überfallen worden (es ging nur um die Pässe), mehrmals fast überfahren und die Aussicht, in eine große Stadt zu fahren, erhöhte meine Laune nicht.
Zudem war mir sehr klar, dass wir uns nicht nur im Dezember in der Bergregion aufhielten und es jeden Tag einen Wintereinbruch geben könnte, sondern auch, dass der Weg von nun an an allen sensiblen nuklearen Anlagen vorbei führen würde. So viel Auswahl an Straßen und Wegen von West nach Ost gibt es dann doch nicht. Also, die Voraussetzungen für eine positive Lernerfahrung waren denkbar schlecht.
Ashura-Prozession mit zwei Reisefahrrädern
Der Weg in die Stadt führt wie in jede Stadt über die große Einfahrtstraße. In der Mittagszeit ist Stau, wie immer und wie in jeder Großstadt. Dieser Stau ist allerdings ein anderer. Ich habe nicht den Eindruck, dass alle Autofahrer ungeduldig sind. Es ist ein beinahe ruhiger Stau. Das Hupkonzert hielt sich mit anderen Geräuschen so ziemlich die Waage, und das war das erstaunliche: Diese anderen Geräusche waren nicht andere hupende Autos, nur größer, so etwas wie LKWs, Autowerkstätten, andere Werkstätten, Bauarbeiten, Märkte, sondern ein einheitlicher Musikklangteppich, der sich nicht aus Lautsprechern unterschiedlicher Güte mit religiösen Liedern der gleichen Form zusammensetzte. Auf der Hauptstraße angekommen, wussten wir warum. Wir landeten mitten in einer der vielen Prozessionen zum Ashura-Fest. Meine erste Lernerfahrung war eine sehr praktische: Diese Prozession ist ästhetisch, unblutig und ausgesprochen melodisch, zudem entspricht sie den Logiken wohl aller Prozessionen, dass es viele Menschen am Rand gibt, die den Hauptdarstellenden mit Begeisterung zuschauen und jubeln (ja, jubeln) und dass anschließend der Straßenverkehr normal weitergeht. Mit den Fahrrädern klar im Vorteil, konnten wir uns bis zur Prozession vorarbeiten. Eh ich mich versah, befand ich mich mitten in der Prozession. Es ist vermutlich die erste Ashura-Prozession gewesen mit zwei Reise-Fahrrädern als Teilnehmenden.
Wie dem auch sei, einmal drin hieß drinnen bleiben, also gingen wir mit, bis sich ein Ausweg anbot. Unterwegs wird uns ein Hotel angeboten, die Tradition erklärt und gezeigt, wo es das Essen gibt, das es für alle umsonst gibt. Wieder auf den Rädern, suchen wir das Hotel, finden es nicht, verfransen uns immer mehr. An einem Kreisel greifen uns zwei Studenten auf, finden ein anderes Hotel, regeln alles und nehmen uns mit „zum Feiern“. Wir werden den Familien vorgestellt, den Freunden. Fahren mit lauter Pop-Musik durch die Stadt, zu immer neuen Prozessionen, zum Essen, zu dem Ort, an dem die Schafe geschächtet werden, wieder zum Essen, zum nächsten Tee, zur nächsten Prozession, schließlich zur Nachtprozession. Zwischendurch gibt es Tee bei den Eltern, BBC läuft, man diskutiert die Weltpolitik. (Zur Erinnerung: Osama bin Laden lebte noch, Fukushima stand noch, Mahmut Ahmadinedschad war Präsident und den IS gab es noch nicht auf der Weltagenda).
Freiheit hinter Mauern
Ich lerne die hohen Mauern an den Häusern und die verschlossenen Fenster anders zu sehen, lerne Familien kennen, die gemeinsam mit Freunden, Männer und Frauen, zusammensitzen, ohne Kopftuch, und über Politik reden. Ich spreche mit Studierenden, die das Land verlassen haben und solche, die bleiben wollen. Solche, die Angebote aus Amerika haben und andere, die einfach studieren. Ich erfahre von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Prozession die Bedeutung dieser für ihr Leben, ohne jede religiöse Mission. Ich trinke gefühlte vier Liter Tee in diesen Tagen und esse mindestens ein Schaf. Ich sitze in fremden Wohnungen auf dem Boden und stehe in der Küche, fahre in fremden Autos durch fremde Städte.
Meine erste persönliche Lernerfahrung: Say Yes. Dies ist die Weisheit, die mir über die drei Monate die vielen Iranerinnen und Iraner beigebracht haben. Zu einer Einladung, einem Gespräch, einem Tee, einem Stück Brot, einem Schluck Wasser, einer Party im Norden Teherans, einer Übernachtung in der Station des Roten Halbmondes in der Wüste Ja zu sagen. Das Wesentliche an dieser Erfahrung ist die Schlichtheit derselben. Es geht dabei nicht um die großen Fragen des Lebens, sondern um die überlebenswichtigen. Für die iranische Kultur ist dies die Gastfreundschaft und dass kein Mensch alleine sei. Wie unterschiedlich dabei das Selbstverständnis der Menschen ist, lässt sich meist recht schnell in der Selbstbezeichnung ablesen, die zwischen persisch und iranisch-religiös changiert. Dazwischen gibt es so ziemlich alle Konzeptionen und im Verborgenen wohl auch viele Lebenskonzeptionen. Viele Schattenseiten sind uns erspart geblieben, zum Glück, nicht aber die existenzielle Not, in der viele Iraner und Iranerinnen leben in der schlechten Wirtschaftslage.
Party in der Trutzburg
Die zweite persönliche Lebenserfahrung ist ein paar Wochen später. Inzwischen einigermaßen geübt im Lesen einiger Buchstaben und versöhnt mit dieser anderen Form der Gastfreundschaft bin ich doch sehr erstaunt, dass ein Geländewagen mit quietschenden Reifen vor uns hält und uns zum Anhalten zwingt. Es springt ein vor Begeisterung laut rufender junger Mann aus dem Auto, rennt auf uns zu und umarmt uns. Ich denke nur: Kennen wir uns? Es zeigt sich, dass er die Friedensfahne an meinem Rad als Regenbogenfahne umgedeutet hat und aus dem Häuschen ist, dass in seinem Land jemand mit einer Regenbogenfahne Fahrrad fährt. Er lädt uns nach Teheran ein, besteht darauf, den Lebensmitteleinkauf für uns zu machen und braust winkend und hupend davon. Kopfschüttelnd schauen wir diesem Auftritt von ca. 15 Minuten hinterher. Yes sagen gelernt habend, nehmen wir sechs Wochen später die Einladung an. Wir werden mit dem Taxi im Süden Teherans, eine arme Gegend, abgeholt, werden quer durch die Stadt und 1000 Höhenmeter höher in den Norden zu den Reichen gefahren. Eine Trutzburg von Hochhaus. Dort wartet die Partygesellschaft auf uns: Vater, Mutter, der besagte Sohn (schwul), eine Freundin (geschieden, uneheliches Kind), ein weiterer Freund, Tante (Schönheitschirurgin, wohl auch getrennt), alles Muslime. Es gibt bestelltes Essen, zum Trinken wahlweise Whisky oder Starkbier, zum Nachtisch Hasch oder Alkohol. Wir brechen so ziemlich alle Regeln, werden nach zwei Bier (die ersten seit zwei Monaten) recht angeheitert mit dem Taxi wieder in den Süden gefahren. Inzwischen ist der Sohn nach Australien ausgewandert. Ich habe immer noch Kontakt zu ihm.
Anders, besser leben
Ich lerne, die hohen Mauern noch einmal anders zu deuten und die Nischen, die das Überleben, sogar in so einer lebensgefährlichen Situation, noch ermöglichen. Ich habe großen Respekt davor, in eine so lebensgefährliche Situation fremde Menschen einzuladen. Ich erlebe aber auch die andere Seite im Iran, die Hoffnung, aus diesem Land herauszukommen, um leben zu können. Dies wird im zweiten Iranbesuch 2015 noch einmal verstärkt. Das Dauerthema ist inzwischen, wie an ein Schengen-Visum zu kommen ist. Die meisten haben mit der Religion kein Problem, auch sonst sehen sie keine Gefährdung. Sie wollen einfach anders, besser leben. Das Besser-Leben ist sehr konkret, nämlich mit nur einem Job überleben zu können und nicht mit dreien, eine eigene Wohnung haben zu können und nicht verheiratet noch bei den Eltern zu wohnen. Die wirtschaftliche Situation ist noch einmal verschärft. Aber auch in dieser Situation, als Touristin ohne Rad: Einladungen und immer und sofort ernste Gespräche. Ich lerne in diesen Situationen, dass es möglich sein muss, wildfremde Menschen einzuladen, oder doch wenigstens für Bekannte die Türen offen zu haben und vor allem: Gespräche über ernsthafte Themen zu suchen und zu führen, die Oberflächlichkeit zu verringern. Vor allem aber lerne ich, mit der Angewiesenheit in einem fremden Land, einer fremden Kultur, einer fremden Sprache und fremdem Alphabet umzugehen. Was mache ich, wenn ich nichts verstehe, nichts lesen kann und nichts sagen kann? Wie komme ich an Brot? Wasser? Einen Schlafplatz? Es gibt gar keine andere Wahl, als Hilfe anzunehmen und in diese Art der Beziehungen einzutauchen.
Shahnaz
Dies erleben wir noch einmal auf der Suche nach einem Hotel in Teheran. Ich werde von einer Frau angesprochen, die mir erst Gebäck und dann uns einen Schlafplatz anbietet. Es stellt sich heraus, dass die gesamte Familie Fahrrad fährt. Sie auch, obwohl es nicht wirklich gerne gesehen wird. Diese Begegnung entwickelt sich zu einer Freundschaft, die bis heute hält. An Shahnaz erlebe ich die Veränderung im Iran am stärksten. Vor fünfeineinhalb Jahren hat sie die Rolle der Ehefrau und Mutter ausgefüllt. Ihr Mann verkauft, wie auch sein Vater, Schuhe im großen Basar.
Heute studiert Shahnaz, unterrichtet und verdient eigenes Geld, hat ein Piercing in der Nase und repräsentiert das Selbstverständnis einer Frau, die es im Iran immer gegeben hat, die aber nun auch aus den traditionellen Bereichen zu kommen scheint. Mit Shahnaz verbindet mich nun eine Form der Freundschaft, die ich als dritte Lernerfahrung bezeichnen möchte: dass es möglich ist, über viele Jahre den Kontakt zu pflegen in einer fremden Sprache, die sie sich nun selbst beibringt (Englisch), um besser kommunizieren zu können, und dass dabei die Frage, was eigentlich das gute Leben ist, das verbindende Suchen ist neben der Freude, um die Freundin im anderen Land zu wissen und die Hoffnung, sich alle paar Jahre zu sehen. Die Frage nach dem guten Leben und nach dem Bewahren dieser Erde ist die Frage, die sich durch alle Gespräche durchgezogen hat und die als gemeinsamer Nenner von Christen und Muslimen für die vielen Iraner, die ihre Zeit, ihren Platz, ihr Essen und ihre Hoffnungen mit uns geteilt haben, deutlich war.
Veränderungen nach fünf Jahren
Die Veränderungen im Land sind mir im Frühjahr 2015 im Vergleich zu den Monaten Ende 2010/2011 sehr aufgefallen. Die Farben werden mehr, die Mäntel kürzer, die Kopftücher knapper, auch im Süden Teherans. Die Hoffnung ist spürbar, dass es aufwärts geht, sehbar aber auch die existentielle Not über die wirtschaftliche Lage. Die Moscheen waren leer, selbst an Freitagen für Touristen geöffnet, diese immer noch interessiert beguckt und freundlich angesprochen. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass die Angst in dem Maße mitläuft wie es noch vor fünf Jahren war. Die Gespräche sind freier, Unterbrechungen werden unwilliger hingenommen.
Durch den Iran mit dem Fahrrad zu fahren, bedeutet durch die Wüste zu fahren, die Wüste wird zur steten Begleiterin. Sie ist reale Wüste oder Wüste durch Wassermisswirtschaft, meine romantischen Vorstellungen einer Wüste habe ich aufgegeben, eine Wüste ist vor allem eines: unaufgeräumt! Jede Spur bleibt, jede neue legt sich über die alte, Müll bleibt liegen und fliegt umher. Aber sie ist still. Und bleibt wunderschön. In allem. Dies gehört wohl zum Fremd-Sein aus eigenem und zudem luxuriösem Entschluss dazu, dass es möglich ist, eine Wüste schön zu finden.
Bildquelle: http://rubin.rub.de/de/tee-trinken-und-abwarten sowie Gunda Werner