Zum Tod von Norbert Blüm. Von Annette Schavan.
Norbert Blüm konnte fuchsteufelswild werden, bis ins hohe Alter. Das war vor allem dann so, wenn er spürte, dass sein Gegenüber sehr wohl verstanden hatte, was gemeint war, sich aber aus Gleichgültigkeit oder Kalkül der Debatte verweigerte. Er war ein ehrlicher Makler für die Anliegen derer, die keine öffentliche Stimme haben. Er war davon überzeugt, dass es gerecht zugehen muss in der Politik und die Möglichkeiten des Staates nicht klein geredet werden dürfen.
Die CDU setzte ihm zu, wenn er den Eindruck gewann, sie verleugnete das Erbe der Katholischen Soziallehre. Das war so auf dem CDU-Parteitag 2003. Es ging um die Kopfpauschale in der Krankenversicherung und allerlei neue Ideen, die ihm abstrus vorkamen. Er war außer sich, als er auf der Bühne stand und auch dann noch redete, als kaum jemand ihm zuhörte.
Der Katholischen Soziallehre verpflichtet
Die neuen Ideen, die Norbert Blüm als zutiefst ungerecht und dem Zeitgeist geschuldet bewertete, haben in der Folgezeit zu heftigen Debatten geführt, sind aber nicht in der politischen Praxis angekommen. Niemand hat dazu je eine Kabinettsvorlage geschrieben. Die Ideen waren für den intellektuellen Disput in der Union gut, haben den Praxistest aber nie bestehen müssen. Norbert Blüm hat das früher gespürt als andere. Er war eben nicht gestrig, wie manche ihn damals bezeichneten.
Das markanteste Beispiel für seine politische Weitsicht ist die Einführung der Pflegeversicherung. Er hat sie mit Experten konzipiert, hat dafür gefochten und sie schließlich durchgesetzt. Die Pflegeversicherung wurde am 1. Januar 1995 als eigenständiger Zweig der Sozialversicherung eingeführt. Das war ein Meilenstein in der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland und deshalb so weitsichtig, weil mit den zunehmenden demographischen Veränderungen der Bedarf an Pflege stets zunehmen wird.
Initiator der deutschen Pflegeversicherung
Wie sähe schon heute die familiäre Wirklichkeit bei uns ohne diese Pflegeversicherung aus, wenn Pflegeleistungen notwendig sind? Die überwältigende Mehrheit pflegebedürftiger Menschen kann in Deutschland zuhause gepflegt werden. Das ist nur durch diese von Norbert Blüm durchgefochtene Innovation in der Sozialversicherung möglich und sie gehört zu den großen humanen Fortschritten in der Gestaltung unserer Gesellschaft.
Norbert Blüm hat damit auch einen Beweis dafür geliefert, dass Politik nicht nur in den Zeiträumen von Legislaturperioden denkt und entscheidet. Sie tut es dann nicht, wenn die handelnden Politiker*innen über konzeptionelle Kraft und Kreativität verfügen und eine zukunftsfähige Vorstellung von dem Ressort haben, das sie führen. Dann können sie es auch führen und Politik prägen. Wer Bundestagsdebatten zu Blüms Themen und mit seinen Reden nachliest, kann das gut erkennen. Er redete auch im Parlament eindringlich und mit Freude an seinen Konzepten und den geistigen Grundlagen seiner Politik.
Von großer sprachliche Kraft
Norbert Blüm argumentierte sprachgewaltig. Sein Sprachduktus war gekennzeichnet von der Klarheit der Aussage und dem Willen zur Kommunikation. Er nutzte Sprache eher selten, um sich der Aussage zu verweigern. Es ist in diesen Tagen oft in Erinnerung gerufen worden, wie sehr seine sprachliche Kraft auch nach seiner politischen Zeit öffentlich prägte. Er wusste um seine Wirkung und setzte sie bis zuletzt ein, um Botschaften zu senden, die die Sorge um den Menschen betrafen.
Er schrieb Bücher, stand auf Bühnen, auch im rheinischen Karneval. Zuletzt diktierte er seiner Frau einen Text „Was bedeutet mein Unglück?“ über seine Tage nach der schweren Erkrankung, die ihn weitgehend gelähmt an den Rollstuhl fesselte. Dieser Text ist ebenso ein Vermächtnis wie sein Appell – kurz danach – , in der Zeit der Pandemie nicht die Familien in Not zu vergessen. Er hatte für die Zeit, die ihm nicht mehr vergönnt war, Verabredungen mit Journalisten getroffen, in seinem Garten sitzend, geistig präsent wie immer.
Norbert Blüm hat die Soziallehre der Katholischen Kirche durchdrungen. Zunächst Werkzeugmacher bei Opel in Rüsselsheim, studierte er Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theologie an der Universität Bonn. Er hat schon sehr früh verstanden, wie sehr Theologie ein „kulturelles Laboratorium“ sein kann, wie es Papst Franziskus jüngst formulierte. Er hat das anders genannt. Für ihn war klar: Männer und Frauen, denen das Christentum am Herzen liegt, können mit ihrem Glauben einen Gestaltungswillen verbinden, der zuvörderst die Sorge um den Menschen einschließt.
Kein Christentum in Nischen und Gegenwelten
Blüm wusste wie schnell der Mensch dem Menschen ein Wolf wird. Blüm war als einem Menschen mit Erfahrungen aus vielen Jahren im öffentlichen und politischen Leben klar, wie schnell zivilisatorische Standards ins Wanken geraten. Er kannte die Versuchungen der Christdemokratie, sich selbst fremd zu werden und nur noch über mehr konservative oder liberale Profilierung zu sprechen. Er wollte kein Christentum in Nischen oder Gegenwelten. Er fand, dass unsere modernen Gesellschaften durchdrungen werden können von der Menschenliebe, die mit dem Christentum verbunden ist. Er bewertete Freiheitsliebe und Gerechtigkeit als konstitutiv für Gesellschaften, die den Anspruch der Humanität haben.
Norbert Blüm war streitbar im besten Sinn. Er konnte sich in die Positionen und Erfahrungen anderer hineinversetzen. Er warb für Konsequenz und langen Atem. Nichts geht schnell, wenn es eindringen soll in die Mentalität und die Veränderungsbereitschaft einer Gesellschaft. Das gilt auch für Parteien. Das wusste er und ließ sich nicht davon abhalten, sein Credo immer und immer wieder öffentlich zu äußern. Notfalls schuf er auch einprägsame Bilder, wie jene in einem Flüchtlingslager, in dem er vor fünf Jahren (im Alter von 80 Jahren !) übernachtete. Norbert Blüm hatte einen langen Atem und eine große Liebe zum Menschen.
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Annette Schavan war von 2005 bis 2013 Bundesministerin für Bildung und Forschung, zuvor 1995 bis 2005 baden-württembergische Ministerin für Kultus, Jugend und Sport.
Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F078539-0037 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0