Zwischen dem Tabu des Scheiterns und seinen Chancen geht Birgit Stollhoff der theologischen und existentiellen Bedeutung dieser Erfahrung nach und findet Impulse zwischen Tod und Auferstehung.
Zwei Männer sitzen in einem gut ausgeleuchteten, repräsentativ eingerichteten Raum begleitet von lauter Kameras ein einem scheinbar endlos langen Tisch voneinander getrennt. So sieht es aus, wenn Friedensverhandlungen scheitern und ein Krieg beginnt.
Scheitern ist ein tragisches Wort, es geht um Ohnmacht, Schicksal, den Menschen, der sein Glück unwiderruflich zerstört hat. Bei Scheitern geht es um das Gewicht eines ganzen Lebens oder gar einer ganzen Gesellschaft, die Frage nach Schuld und (Mit-)Verantwortung. Scheitern hat viele Aspekte. In der Kirche begegnet uns Scheitern oft, wenn es um Lebensentwürfe geht – die gescheiterte Ehe, die gescheiterte Berufung. Hier ist Scheitern mit Tabus belegt. Scheitern ist hier ein moralisches Urteil, eine moralische Wertung. Die Frage ist, um wessen Wertung es sich dabei handelt – wer trifft hier eine Aussage über einen Bruch, eine einschneidende Änderung in wessen Biographie? Wer scheitert? Der Austretende? Die Eheleute? Die Gemeinschaft, aus der ausgetreten wird? Die Kirche mit Ihrem Anspruch? Anders ist es, wenn man Scheitern als Prozess betrachtet, der erst durch dieses Zugrunde-gehen neue innovative Perspektiven eröffnet. Dann erscheint Scheitern bei aller Endgültigkeit als eine österliche Chance.
Scheitern als Voraussetzung für innovative Perspektiven
Gesellschaftlich ist Scheitern negativ besetzt, gleichzeitig hat es viele Facetten: Politiker scheitern an ihren Zielen, gesellschaftliche Strategien scheitern an der Realität oder den Menschen. In Amerika gehört das Scheitern etwa in Konzernen dazu – wer nichts wagt und auch mal bei einem Projekt oder Start-up scheitert, gewinnt langfristig auch nichts. In Japan kann der Gescheiterte die gesellschaftliche Ehre mit einem Rücktritt noch retten. Und in Deutschland? Da scheitert eher der/ die Einzelne, auch Scheitern ist hier privatisiert.[1] Sportler:innen scheitern an Sekunden oder Millimetern oder an sich selbst. Und auch zwischen den Geschlechtern ist Scheitern noch unterschiedlich konnotiert, wie sich etwa am aktuellen Umgang von Politikern und Politikerinnen mit Fehlern gut zeigt: „Männer scheitern als Helden.“ – „Frauen scheitern an sich selbst.“[2]
Scheitern ist weitgehend privatisiert
Beim Scheitern geht es um das Gewicht eines ganzen Lebens oder gar einer ganzen Vision für ein Land, es geht um alles oder nichts. Für Zwischentöne oder Graustufen ist beim Scheitern kein Platz, alles wird mitgerissen. In der Seefahrt bezeichnet der Begriff „zur-Scheiter-gehen““ den Vorgang, wenn ein Schiff an der Klippe zerschellt.[3] Gegenüber dem ungefährlicheren „auf-Grund-laufen“ gibt es hier keine Möglichkeit zur Rettung von Passagieren oder Gütern mehr, es geht nicht um einen nebensächlichen Misserfolg, sondern um das Ganze und dessen unwiderruflichen Verlust.
Es geht ums Ganze
und einen kompletten Verlust?
Im kirchlichen Kontext betrifft „Scheitern“ das ganze Leben, die großen Lebensentscheidungen – etwa der Entscheidung für die Ehe, für die Priesterweihe oder den Orden. Passt aber bei einer Trennung, einer Laisierung oder einem Austritt ein Wort wie „Scheitern“? Oder enthält das schon in Urteil? Ist der Begriff zu einseitig negativ?
Das hängt davon ab, wie man das Leben und Lebensentscheidungen betrachtet – ohne, dass sich diese Betrachtungsweisen gegenseitig ausschließen, sie können auch nebeneinander bestehen und richtig sein:
Die eine moraltheologisch-dogmatische Sicht etwa von Klaus Denner und Dirk Gärtner[4] setzt an der Freiheit des Menschen an. Danach hat der Mensch die Freiheit und Pflicht von Gott, sein Leben zu gestalten. Es geht um ein gelingendes Leben. In dieser Freiheit hat der Mensch die Wahl. Verbunden mit dem Aspekt der Selbstdetermination kann aber jede Wahl, die Ausdruck von Freiheit ist, auch unwiderruflich für die Zukunft binden.
Bemühen um gelingendes Leben
Wer eine solche Entscheidung später revidiert, weil sie im Leben untragbar geworden ist, kann das Ziel des gelingenden Lebens verfehlen, er würde scheitern. Und er muss sich die Frage nach der individuellen Schuld stellen. Wobei hier darauf zu achten ist, dass sich diese Frage nicht nur bei dem/der Gescheiterten selber stellt. Auch die an einer Berufung und Wahl Mitwirkenden – die Vorgesetzen, die Gemeinschaft – müssen sich fragen, ob sie hier nicht selber am eigenen Anspruch gescheitert sind, ob sie schuldig wurden. Für den, der gescheitert ist, bleiben die Caritas und die (Rechts-)Mittel der Epikie (Billigkeit) sowie des Dispenses aus Gnade. Gestärkt wird durch das Wissen um ein mögliches Scheitern das umso bewusstere Bemühen um ein gelingendes Leben.
Das Leben bleibt immer Fragment
Ein anderer Ansatz nach Henning Luther[5] und Michael Kern[6] geht davon aus, dass das Leben immer nur fragmentarisch gelebt werden kann. Der evangelische Theologe Henning Luther greift dazu einen Brief Dietrich Bonhoeffers über die eigene Kriegsgeneration auf – der angesichts der aktuellen Entwicklungen wieder tragisch-aktuell klingt: „Je länger wir aus unserem eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind, desto mehr empfinden wir, daß unser Leben – im Unterschied zu dem unserer Eltern – fragmentarischen Charakter hat.“[7] Nach Luther ist der Mensch per se fallibel, er lebt immer unvollendet in den Ruinen seiner Vergangenheit und den Baustellen seiner Zukunft.
Konzept der nicht-abgeschlossenen Identität
Es gibt keine geschlossene Identität, sondern „nur“ Sehnsucht und Schmerz[8]: die Trauer bezüglich der nicht realisierten Sehnsüchte und Wünsche der Vergangenheit; die Hoffnung bezüglich des Neuen in der Zukunft und die aus der Begegnung mit dem sich genauso verändernden Anderen erwachsende Liebe. Ähnlich wie dieses Konzept der nicht-abgeschlossenen Identität setzt auch Michael Kern an: Er hinterfragt Kants Konzept des „mündigen Menschen“. Für ihn steht der per se fallibele Mensch im Kontrast zu den Souveränitäts- und Erfolgsnormen, welche die Gesellschaft postuliert. Gerade in diesem Scheitern sieht er aber auch ein großes kreatives, befreiendes Potential. Für Kern ist Scheitern ein Prozess. Er setzt an den bestehenden Ordnungen, Erwartungen, Normen, dem soziokulturellen, von außen vorgegeben Rahmen, diesen nennt er „Position“.
Entscheidend ist, was dem Scheitern folgt
In diesem Rahmen sind Aktivitäten nach bekannten Zielen und Erfolgsparametern möglich. Beim Scheitern zerbricht dieser Rahmen, Scheitern wird als von außen kommend und passiv erlebt, es führt zu einem Verlust dieser Ordnungen, der Scheiternde erlebt sein Scheitern subjektiv und ohnmächtig – diesen Schritt nennt Kern „Negation“. Pastoral und ekklesiologisch interessant ist der Schritt, der auf dieses Scheitern folgt oder folgen kann: die „Transgression“, das Überschreiten des bestehenden Ordnungs- und Handlungsrahmens durch den/die Scheiternde/-n! Hier entsteht ein „Drüben“, es werden neue Handlungsmöglichkeiten entdeckt, neue Ziele formuliert. Hier wird deutlich, welch kreatives Potential ein Scheitern haben kann, wie viel Freiheit ein bewusstes Scheitern bedeuten kann. Es wird aber auch deutlich, warum ein aktiver Umgang mit dem Scheitern bedrohlich ist für die Gesellschaft: Wer scheitert, zeigt nicht nur die Enge und Grenzen des bisherigen Systems auf, er zeigt auch neue Optionen, neue Lebens- und Gesellschaftsmöglichkeiten auf.
Christliches Erfahrungen als Anschlusspotenzial
Hier wird der österliche Aspekt deutlich und hier kann die kirchliche Sprache vom Scheitern ansetzen: Die Bibel bringt Scheitern in allen Facetten zu Sprache, als Erfahrung Einzelner, als der eines Volkes und in Kreuz, Tod und Auferstehung Jesu Christi. Auch die Geschichte der Kirche ist voller Geschichten vermeintlich Gescheiterter, die zu Heiligen wurden. Damit hat die Kirche ein großes Sprach- und Erfahrungspotential zum Umgang mit Scheitern.
Liturgische Einbindungen
Scheitern ist gesellschaftlich ein schmerzhafter Prozess, der einerseits in der Öffentlichkeit passiert, andererseits als Tabu die Betroffenen sprachlos macht. Könnte hier die Kirche nicht etwa in der Liturgie eigene Prozess-Erfahrungen gestalten, die aus diesen oft ohnmächtig erlebten Scheitern eine Erfahrung des bewussten Aufhörens, einen bewusst gegangenen Schritt des öffentlichen Beendens macht? Bei der die Gemeinschaft sich mit dem/der vermeintlich Gescheiterten verbunden weiß in gegenseitigen Fürbitten und Segenswünschen?[9] Gerade in der Liturgie könnte hier deutlich werden, dass Scheitern eingebunden ist in die Erfahrung von Tod und Grabesruhe, aber auch von Auferstehung, Gemeinschaft und nachösterlicher Sendung.
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Autorin: xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Bild: Mabil Amber / pixapay.com
[1] Vgl. Backert, Wolfram: Kulturen des Scheiterns: Gesellschaftliche Bewertungsprozesse im internationalen Vergleich, in: Junge, Matthias (Hg.): Scheitern: Aspekte eines sozialen Phänomens, Wiesbaden 2004, S. 65,74.
[2] Jakobs, Monika: Scheitern als Erfolgsfaktor? Frauen und Männer setzen auf unterschiedliche Strategien, um Scheitern zu bewältigen, in: Evangelische Aspekte 28 (4), 2018, S. 25.
[3] Vgl. Kern, Christian: Ziemlich menschlich – zum gesellschaftlichen und spirituellen Umgang mit Scheitern heute, in: Bibel und Kirche 72 (3), 2017, S. 163.
[4] Gärtner, Dirk: Gelingen im Scheitern: Moraltheologische Überlegungen zu zwei Kategorien einer christlichen Identität, Regensburg 2020.
[5] Luther, Henning: Religion und Alltag: Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992.
[6] Kern, Christian: Scheitern einräumen: eine Theologie der Fallibilität, Salzburg, 2018.
[7] Bonhoeffer, Dietrich; Bethge, Eberhard: Widerstand und Ergebung – Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, 198011, S. 117.
[8] Vgl. ebd., S. 170.
[9] Hinweis der Autorin: In einzelnen Ordensgemeinschaften und Priesterseminaren gibt es etwa solche Rituale bereits, das hat eine Umfrage anlässlich der Masterarbeit der Autorin zum Ihema „Liturgien zum Umgang mit Scheitern“ ergeben.