Wachen und Schlafen sind schon lange mehr als physiologische Zustände, sie sind Metaphern für kontroverse Weltdeutungsmodelle. Eine religionsgeschichtliche Rekonstruktion von Theresia Heimerl.
Wie christlich ist es, woke zu sein? Eine Suchanfrage zu „Christentum wokeness“ in Google zeigt: Die neue Wachheit und ihre Verhältnisbestimmung zum Christentum gibt es nicht nur, sie bewegt auch, von der Katholischen Akademie bis zu KatNet. Ich möchte in den folgenden Überlegungen die Frage umdrehen und fragen: Wie hält es das Christentum mit dem Schlaf?
Religionsgeschichtlich gewinnt zumindest in der Altersfrage eindeutig der Schlaf. Man braucht nicht Edward Tylors (heute in dieser Form nicht mehr vertretene) Animismustheorie zu bemühen, sondern nur ins Alte Testament zu blicken: Der Schlaf ist ein Zustand, der Transzendenzbegegnung ermöglicht. Jakob, Joseph, Samuel und andere machen ihre Gotteserfahrungen im Schlaf, ebenso wie jene, die durch den Schlaf in einem antiken Heiligtum Antworten des Gottes auf ihre im Wachzustand ungelösten Leiden und Probleme suchten, wie Aelius Aristides im zweiten Jahrhundert n. Chr. berichtet. Der Schlaf weitet die begrenzten Möglichkeiten des Wachzustandes, er ermöglicht es der Seele umherzuschweifen in einer Zwischenwelt von Göttern und Irdischen, Leben und Tod, um Vorstellungen aus dem Alten Ägypten und der Native Americans salopp zusammenzufassen.
Wie hält es das Christentum mit dem Schlaf?
Wach zu sein bedeutet in diesem Modell, auf die sichtbare Welt, das Hier und Jetzt, den eigenen Verstand und die eigene Handlungsfähigkeit, vor allem aber den eigenen Körper begrenzt zu sein. Der Schlaf eröffnet zumindest für einige Stunden den Weg in andere Welten, er vergewissert die Existenz der Götter oder Geister – und er gibt eine Vorahnung auf den Tod. Schlaf und Tod sind nicht nur in der antiken Mythologie (und in Robert Schneiders Roman aus 1992) verwandt. Was wir heute als Euphemismus verstehen, wenn von den Toten als Entschlafenen oder dem Einschläfern der Haustiere die Rede ist, bedeutet religionsgeschichtlich zunächst eine innere Nähe der mythologischen Brüder in einem Zustand der Grenzüberschreitung, dessen Unterschied nur in der Dauer und der (Ir)Reversibilität liegt.
Der Wachzustand ist in dieser Weltdeutung dem Alltag gewidmet, vor allem aber der Arbeit. Zu lange zu schlafen führt nicht erst im Kapitalismus, sondern schon in Spr 6,10f. zu Verdienstentgang und Armut: „Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern, / noch ein wenig die Arme verschränken, um auszuruhen. Da kommt schnell die Armut über dich (…)“. Das Wachsein hat hier keine ontologische, sondern allenfalls eine moralische Komponente, die Kritik zielt allerdings nur auf die (Un)Verhältnismäßigkeit von Schlafen und Wachsein ab, nicht auf den Schlaf als solchen.
Kontrolle und Kontrollverlust
Zwei weitere Aspekte von Wachen und Schlafen werden in diesem Weltbild noch gar nicht problematisiert:. Gott lässt Adam in einen tiefen Schlaf fallen und als er aufwacht, fehlt ihm eine Rippe, dafür hat er Eva (Gen 2, 21 ff.) – wir wachen auf, und die Welt ist eine andere, irgendein Gott oder Dämon hat die Kontrolle übernommen, während wir schliefen. Derartige daseinsverändernde (Schöpfungs)Mythen gibt es quer über den Globus, sie sprechen von einem aus heutiger Sicht hemmungslos naiven Grundvertrauen in die Transzendenzen und ihr Handeln am Menschen und der Welt. Niemand will wachbleiben aus Angst vor dem, was ihm die Götter antun, man legt sich vielmehr zu ihren Füßen schlafen, um nach dem Aufwachen eine himmlische Überraschung vorzufinden. Das letzte Beispiel dieses vertrauensvollen Schlafes ist die Erzählung vom Seesturm am See Genezareth in Mt 8, 24 – 26. Jesus schläft ungerührt, während rundum alles außer Kontrolle gerät und die Jünger nicht verstehen, wie ihr Rabbi so unwoke angesichts des drohenden Untergangs sein kann.
Die religiöse Einordnung von Schlafen und Wachen hat sich zu dieser Zeit schon verändert, ihre Bedeutung als Metaphern für die Kosmologie und Anthropologie beinahe umgekehrt. „In einen tiefen Schlaf fiel ich durch ihre Speise, abgesunken war alle Erinnerung“ klagt das narrative Ich im Perlenlied in den Thomasakten aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert und beschreibt damit den Tiefpunkt seiner Heldenreise, deren Wendepunkt im Weckruf des himmlischen Boten „Erwache und steh auf von deinem Schlaf“ kommt. Der Schlaf ist nicht mehr Begegnungszone mit dem Göttlichen, sondern perfides Mittel böser Mächte, um den Menschen von der Erkenntnis seiner Situation als fremdbestimmter Gefangener abzuhalten. Der Schlaf öffnet nicht mehr das Tor zur Erfahrung einer anderen, göttlichen Welt, er wird zum Synonym für die Unwissenheit um die eigene Göttlichkeit. Wach zu sein bedeutet nicht mehr, den Alltag zu meistern, sondern um die trügerischen Machtverhältnisse in der Welt und ihre einschläfernden Drogen zu wissen. Das Erwachen wird zum Versprechen und Schlüsselbegriff – und zum elitären Differenzkriterium.
Teil einer metaphysischen Auseinandersetzung zwischen Licht und Finsternis
Wachsein verspricht Kontrolle, der Schlaf hingegen bedeutet, von Mächten im Dunkel kontrolliert zu werden. Zu wachen oder zu schlafen wird Teil einer metaphysischen Auseinandersetzung zwischen Licht und Finsternis: „Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis. Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein.“ (1 Thess 5,5f.) Die neue, gnostisch-dualistische Deutung des Schlafens und Wachens begleitet das Christentum seit seinen Anfängen, auch wenn wohl viele heute den alten weißen Mann Paulus als Ahnvater der neuen Wachheit empört zurückweisen würden. Das Misstrauen gegenüber dem Schlaf bleibt. Manchmal noch öffnet er die Tür zu Gott, öfter aber zu den Dämonen, seine fehlende Kontrolle macht ihn unzuverlässig. Er wird durch exzessives Wachen in der Praxis des asketischen Schlafentzugs ersetzt, der die Seele kontrolliert zur Transzendenzerfahrung bringen soll. Die Erfahrung der Gottesschau aber wird selbst von Kontrollfreaks wie Augustinus noch immer in den alten Bildern des Schlafes und Todes beschrieben.
Ein Hauch von Paranoia
Die Absage an den Schlaf und der Aufruf zum konstanten Wachsein haben von ihrem religionsgeschichtlichen Anfang an einen Hauch von Paranoia, gegründet in der Vorstellung einer grundsätzlich vom Bösen beherrschten Welt, in der statt Gottvertrauen fundamentales Misstrauen herrscht. Das Wachen und seine Wortfamilie sind nicht umsonst im Deutschen ebenso Teil der militärischen wie der religiösen Sprache, die Wachsamkeit nicht weit von der Überwachung entfernt. Wer einmal erwacht ist, muss im Kampfmodus gegen die Finsternis des Schlafes der Unwissenheit bleiben und ständig all jene aufrütteln, die wieder einzuschlafen drohen.
Stay woke ist ironischerweise auch der Kampfruf des Kapitalismus, lange bevor er wieder einmal zur existenziellen Forderung einer dualistischen Weltdeutung mit mittelkleiner Transzendenz wird. Wie Jonathan Crary in „Schlaflos im Spätkapitalismus“ ausführt, dient die ständige Wachheit weit über die von Karl Marx noch als natürliche Grenze der Produktivität gesetzte Zeit des Schlafes hinaus den Herren dieser Welt. Vielleicht ist es heute nicht mehr der Schlaf der Vernunft, der die Ungeheuer gebiert, sondern die Ermüdung des allseits geforderten Wachseins, die uns zwar das Tor zur möglichen Gottesbegegnung verschließt, dafür aber jede Menge innerweltlicher Dämonen vorgaukelt. Ja, vielleicht gilt hier sogar die alte theologische Denkfigur vom Teufel, der sich als Engel des Lichts tarnt und längst die grelle Gereiztheit und Unduldsamkeit der schlaflosen Wächter:innen und ihrer misstrauischen Weltsicht als sein Betätigungsfeld entdeckt hat.
Wokeness ist religionsgeschichtlich betrachtet eher eine Fortsetzung der (wirkmächtigen) gnostischen Unterströmung im Christentum als seine genuine Lehre. Der Schlaf ist keine List sinstrer Mächte, sondern ein Geschenk Gottes, um uns ganz unproduktiv alles zuteilwerden zu lassen, um das berühmte Zitat aus Ps 127 gegenwartsbezogen zu paraphrasieren. Und wer bereit ist, im Vertrauen auf Gott sogar einen Seesturm zu verschlafen, ist vielleicht nicht woke, aber gut ausgeschlafen.
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Theresia Heimerl ist Professorin für Religionswissenschaft an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Graz.
Literatur
Otto Betz / Tim Schramm, Perlenlied und Thomasakten. Texte aus der Frühzeit des Christentums, Zürich u.a. 1985
Jonathan Crary, Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin 2014.
Jonathan Z. Smith, Sleep, in: Encyclopedia of Religion 12, Chicago 22005, 8439 – 8442.
Stephan Lüttich, Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Von der Gnade der nächtlichen Ruhe, in: Glaubenssachen https://www.ndr.de/kultur/sendungen/glaubenssachen/manuskript618.pdf [abgerufen am 3.12.2023]