Die kirchliche Lethargie im Umgang mit der ökologischen und klimatischen Krise lässt Jürgen Manemann an etablierten Kirchenkonzepten zweifeln. Er plädiert mit dem Ansatz einer „Exoduskirche“ für ein revolutionäres Christentum, das sich am Möglichkeitssinn orientiert.
Die Verdunkelung des Zukunftshorizontes
Die Hoffnung stirbt. Der Zukunftshorizont verdunkelt sich immer mehr. 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen sind durch die Klimakrise „hochgradig gefährdet“, so nachzulesen im jüngst veröffentlichten Bericht des Weltklimarates. Jeden Tag sterben 150 Tier- und Pflanzenarten aus … Der Zustand der Schöpfung ist eine Verachtung Gottes. Und wie reagiert die katholische Kirche hierzulande? Eigentlich gar nicht, allenfalls zögerlich.
Keine Taten hervorgebracht
Ja, es gibt viele Papiere, Verlautbarungen, Predigten, in denen das Päpstliche Lehrschreiben Laudato si‘ aus dem Jahr 2015 zitiert wird, sogar ein „Umweltbericht“ wurde veröffentlicht. Unzählig sind die Forderungen zur „Bewahrung der Schöpfung“. Auch gibt es viele einzelne Umweltaktionen, etwa das Klimafasten. Aber all die Worte und Aktionen haben bislang keine Taten hervorgebracht, die der Höhe der Herausforderung angemessen wären. Im Vergleich zu anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen wird der Kirche ein „randständiges gesellschaftspolitisches Engagement“ attestiert. Warum sehe ich meiner Kirche die Leidensgeschichte nichtmenschlicher Kreaturen so wenig oder überhaupt nicht an? Und warum verhält sich meine Kirche so mitleidlos gegenüber den zukünftigen Generationen?[1]
Mangel an Schöpfungscompassion
Solche Anfragen offenbaren die „Apokalypse-Blindheit“ (G. Anders) der Kirche, ihre Unfähigkeit, die ökologische und klimatische Katastrophe als Katastrophe zu erkennen. Eine solche Blindheit gründet in einem Mangel an Wirklichkeitsbewusstsein, der wiederum in einem sinnlichen Erfahrungsverlust gründet.
Der Kirche fehlt die Schöpfungscompassion
Die Institution Kirche hat sich von der Schöpfung entfremdet. Sie unterhält zur Schöpfung eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (R. Jaeggi). Sie predigt die „Bewahrung der Schöpfung“, spricht von „Schöpfungsverantwortung“, aber es fehlt ihr die Schöpfungscompassion. Eine solche „Mitleidenschaft“ (J.B. Metz) zeichnet sich dadurch aus, dass sie aufgrund der Nähe, die sie zu Menschen, Tieren, Pflanzen und zu allem, was sie wahrnimmt, besitzt, nicht nur ein Wissen hat, sondern auch eine Erfahrung. Schöpfungscompassion sensibilisiert für die Erkenntnis, dass dieser Mensch, der mir begegnet, nicht bloß ein Alter Ego, sondern einzigartig ist, dass dieses Tier nicht bloß Vieh ist, dass diese Pflanze nicht bloß Gewächs ist, sondern dass dieser Mensch, dass dieses Tier, dass diese Pflanze etwas ist, das jeweils sein bzw. ihr Leben lebt.[2]
Wider die Sentimentalität
An die Stelle einer solchen Sensibilität ist in der katholischen Kirche Sentimentalität getreten. Die Kirche tut sich leid. Sie hat mehr Mitleid mit sich hat als mit der Welt. Sie kreist um sich selbst und versinkt in Selbstmitleid über den eigenen Relevanzverlust. Dieser gründet in einer Identitäts- und in einer Kirchenkrise. Die Identitätskrise wurde durch eine Verbürgerlichung des Christentums ausgelöst, während die im engeren Sinne als Kirchenkrise bezeichnete innerkirchliche Erschütterung das Resultat vermachteter klerikaler Strukturen ist. Beide Krisen offenbaren, dass die Kirche an einer Selbstbezüglichkeit leidet, die erst aufgebrochen wird, wenn es gelingt, sich von der Fixierung auf das institutionelle Überleben zu verabschieden und Kirche- und Christ:in-sein als Lebensform wiederzuentdecken.
Exoduskirche [3]
Zur Schöpfungscompassion befähigt, wird die katholische Kirche nur, wenn sie ihrem Auftrag gerecht wird, Ekklesia („die Herausgerufene“), das heißt, Exoduskirche zu sein. An der Zeit ist deshalb eine nachbürgerliche und nachkapitalistische „Initiativkirche“ (J.B. Metz).
Der Kirchenraum ist gentrifiziert
Eine solche Kirche würde ernstmachen mit dem eigenen Anspruch, Kirche für und in der Welt zu sein. Sie wäre eine Exoduskirche, die sich als Teil einer „Revolution für das Leben“ verstehen würde, wie sie von der Philosophin Eva von Redecker angedacht wird. Diese Revolution nimmt ihren Ausgang „von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben“ und kämpft „für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben“[4]. Doch stattdessen schließt sich die Kirche ab. Sie hat ihren Kirchenraum mittlerweile gentrifiziert. Produktive Störungen, die in prophetischer Absicht die Kirche an ihre eigene Botschaft erinnern, werden im Keim erstickt. Hier sei nur an die Aktion der Klimagerechtigkeitsbewegung „Extinction Rebellion“[5] im Kölner Dom erinnert.
Revolutionäres Christentum
Exoduskirche konfrontiert jegliche „Ontokratie“ (A. v. Leeuwen), die das Bestehende als ewig während legitimiert, mit G-ttes Macht, indem sie an einen neuen Himmel und eine neue Erde erinnert. Aus diesem Grund steht sie für eine nachkapitalistische Kirche. Kirche als Exoduskirche befreit aus den Fesseln sogenannter Realpolitik, deren Vertreter:innen beanspruchen genau zu wissen, was es mit der Realität auf sich hat. Aber wer weiß schon zu sagen, was die Realität ist, geschweige denn, was in der sogenannten Realität möglich ist und was nicht? Wie lässt sich überhaupt herausfinden, was die Gegenwart an Möglichkeiten bereitstellt? Wer tatsächlich das Mögliche Wirklichkeit werden lassen möchte, muss immer auch das Unmögliche wünschen. Das Unmögliche ist nämlich nicht das Gegenteil des Möglichen, sondern dessen Bedingung. Realpolitik, die auf diese Zusammenhänge nicht reflektiert, zerstört mit ihrem sogenannten Realitätssinn jeglichen Möglichkeitssinn. Eine solche Politik steht in der Gefahr, in bloße Verwaltung umzukippen.
Wider die falsch verstandene Realpolitik
Exoduskirche ist Ausdruck eines revolutionären Christentums[6]. Sie steht für eine Exodus-Politik, die auf die Veränderung der Parameter zielt, die als „möglich“ und „real“ festgelegt sind. Sie ist unterbrechende Politik. Als solche begnügt sich nicht mit Realitätssinn, sondern evoziert Möglichkeitssinn. Dabei wendet sie sich gegen eine zerstörerische, eskalierende „kapitalistische Sachherrschaft“ (E. v. Redecker). Anders als viele Revolutionen, die aus der Geschichte bekannt sind, entsteht die „Revolution für das Leben“, wie von Redecker zeigt, aus Wechselwirkungen zwischen verändernden Alltagspraktiken und Strukturumwälzungen. Es geht ihr um eine Gleichursprünglichkeit von Selbsttransformation und Gesellschaftstransformation. Dabei wendet sich diese Revolution gegen Rücksichtslosigkeit, gegen die Perspektive unendlicher Steigerung. Sie setzt auf Suffizienz und fordert die Anerkennung menschlicher und planetarer Begrenzungen ein. Eine solche Revolution könnte die extraktivistische Zerstörung stoppen. Sie zerstört nicht. Sie rettet, was durch unsere Herrschaftsbeziehung zerstört zu werden droht.
Aufstehen für eine neue Welt
Kirche avanciert zur Exoduskirche, wenn sie Initiative in dem Sinne ergreift, dass sie Initium wird: (Neu-)Anfang. Ihre Aufgabe besteht darin, die Hoffnung auf Auferstehung nicht zu verwalten, sondern sie dadurch einzulösen, dass sie aufsteht für eine neue Welt, indem sie jegliche Komplizenschaft mit dem Tod verweigert, im alltäglichen Leben gegen die vielen Tode ankämpft (den Tod durch Verlassenheit, den Tod durch Unsichtbarkeit, den Tod durch Apathie, den Tod durch Bequemlichkeit und Zufriedenheit, den Tod der Vergessenheit), immer wieder aufs Neue aufsteht gegen Entfremdungen, Ungerechtigkeiten und das Leben vor dem Tod feiert. Eine solche Kirche würde gemeinsam mit anderen Akteur:innen neue Projekte initiieren, die neue Lebensformen generieren, welche unsere extraktivistische Zivilisation aufbrechen für Neues: „WE ARE UNSTOPPABLE, ANOTHER WORLD IS POSSIBLE!“
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Autor: Jürgen Manemann, Prof. Dr., Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover. Zuletzt erschien von ihm: „Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer“ (Bielefeld 2021) und „Demokratie und Emotion. Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet“ (Bielefeld 2019).
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[1] Die folgenden Ausführungen basieren wesentlich auf: J. Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021.
[2] Vgl. M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten. Wege und Abwege der Ethik, Zug/ Schweiz 1999, 116/117.
[3] Der Pastoraltheologe Salvatore Loiero arbeitet zurzeit an einer „Exoduspastoral“.
[4] E. v. Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt 2020, 9.
[5] Zu Extinction Rebellion: Extinction Rebellion Hannover, Hope dies – Action begins. Stimmen einer neuen Bewegung, Bielefeld 2019.
[6] Vgl. J. Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021.