Max-Josef Schuster mit einer Rezension zu: Lisa Oesterheld, Beten mit dem Bleistift, Echter Verlag Würzburg 2022.
Man sollte sich vom eher biederen Cover nicht täuschen lassen: dieses schmale, klug konzipierte und flüssig geschriebene Buch mit seinen 125 Seiten atmet eine große Weite. Obwohl die Autorin in der christlichen Tradition verwurzelt ist, richtet sie sich an „alle, die mit dem Medium des Schreibens einen spirituellen Erfahrungsweg gehen möchten.“ Vor allem aber ist dieses Buch nicht nur ein pragmatischer Praxis-Ratgeber, wie es heute viele gibt, sondern durch und durch theologisch reflektiert. Sparsam, aber präzise gesetzte Anmerkungen und ein umfassendes Literaturverzeichnis ermöglichen es den Interessierten, Herkunft, Hintergründe und Bezugspunkte des Konzepts und einzelner Übungen genauer kennenzulernen.
Die Weite wird eingelöst in 35 anschaulichen Doppel-Impulsen zu Alltags-Themen wie Zeiten, Orte, Stille; Name, Mutter, Vater, Hände, Füße; Tür und Tor, Baum, Garten; Loslassen, Trauer, Nacht; Danken, Lied, Freundschaft. Zu jedem Thema gibt es einen Schreib-Impuls zur eigenen Biographie und einen weiteren Impuls zu einem kurzen biblischen Text – wobei für die Autorin Bibeltexte „ein universaler Schatz für jeden spirituell suchenden Menschen“ sind. Alle Impulse ermöglichen subjektive Zugänge zu den Bibeltexten: Sie können beispielsweise eine Person aus dem Text auswählen und aus ihrer Perspektive schreiben, oder aus dem Bibeltext ein Wort auswählen, mit dem Ihr Schreiben beginnt.
Die Aufmerksamkeit gilt nicht außerordentlichen ekstatischen Erfahrungen, sondern schlichten Alltags-Regungen wie Freude oder Zorn, Trauer oder Langeweile.
Damit geht das Buch über bewährte Methoden des biographischen Schreibens hinaus – oder, treffender: es vertieft diese Methoden – und berührt die Ebene spiritueller Erfahrungen. Lisa Oesterhelds (frei)berufliche Praxis als Autorin und Theologin, geistliche Begleiterin und Leiterin von Schreib-Workshops sowie ihre eigene Verwurzelung in der Tradition der Exerzitien („Geistlichen Übungen“) des Ignatius von Loyola kommen ihr dabei entgegen. Ignatius hat ja am Anfang der Neuzeit eine Methode entwickelt, wie (selbst)kritische Individuen „Gott in allen Dingen“ suchen und finden können: die Aufmerksamkeit gilt nicht außerordentlichen ekstatischen Erfahrungen, sondern schlichten Alltags-Regungen wie Freude oder Zorn, Trauer oder Langeweile. Folglich ist „Gott“ hier kein über den Wolken thronender alter Mann mit Bart, sondern eine dynamische und kreative Wirklichkeit in der Welt und im Menschen: „Im Innersten und in unserer größten Lebendigkeit (!) ist Gott auffindbar“.
„Prozess der Selbstwerdung“ – mit dem Ziel, lebendiger zu werden.
Die Schreib-Übungen unterstützen einen „Prozess der Selbstwerdung“ – mit dem Ziel, lebendiger zu werden. Sie sind meilenweit entfernt von religiösem Rigorismus, aber auch von gesellschaftlichem Leistungs- und Optimierungsdruck. Freude und innere Ruhe, Großherzigkeit und innere Weite sind für die Autorin Zeichen dafür, auf dem richtigen Weg zu sein.
Skizzen von alltäglichen Erlebnissen eröffnen die einzelnen Kapitel. Sie sind keine beliebigen „Anekdoten“, sondern enthalten bereits das Wesentliche: Lisa Oesterheld kennt auf dem Übungsweg keine „spirituellen Sonderwelten“ (und gottlob auch keine kirchlichen). Das Motto des Buches bringt das wunderbar auf den Punkt: „die größte Tröstung, die er (Ignatius) empfing, war, den Himmel zu schauen und die Sterne.“ Nicht der exklusiv religiöse Himmel („heaven“) ist hier gemeint, sondern schlicht das nächtliche Firmament („sky“)!
Der Theologe Rainer Bucher hat kürzlich an dieser Stelle gefordert, angesichts des Verschwindens der selbstverständlichen Volksfrömmigkeit, angesichts der Distanz der lehramtlichen Theologie zum heutigen Denken und angesichts der Distanz der akademischen Theologie zum Alltag der Menschen endlich den weisheitlichen (geistlich-spirituellen) Schatz der christlichen Tradition nicht nur einigen wenigen „religiösen Virtuos*innen“ zu überlassen, sondern ihn in aller Freiheit und ohne Rekrutierungs-Absichten „breitflächig, niederschwellig und in unterschiedlichsten Formen zur Verfügung zu stellen.“
Lisa Oesterhelds Buch leistet für dieses wichtige Zukunftsprojekt einen fundierten Beitrag: einerseits eine verlockende Anleitung für Interessierte und Neugierige weit über den Bereich der Kirchen hinaus. Andererseits bietet ihr Buch eine wahre Fundgrube bewährter Methoden für haupt- und ehrenamtliche Frauen und Männer, die in Seelsorge und Geistlicher Begleitung andere Menschen lebens- und situationsgerecht auf ihren Alltagswegen unterstützen.
Für eine Kirche, in der Amtsträger immer noch meinen, einzelne Gläubige zu deren Heil in diverse Kollektive „einbinden“ und vor dem Relativismus warnen zu müssen, ist der spürbare Respekt der Autorin vor der höchstpersönlichen Lebenssituation des einzelnen Menschen eine bitter notwendige Herausforderung zur Kurskorrektur. Vor allem aber zeigt Lisa Oesterheld mit ihrer klugen Aktualisierung der ignatianischen Exerzitien, dass nicht erst heute (Zeitgeist-Verdacht!), sondern schon längst in der kirchlichen Tradition (!) diejenigen Methoden bereitliegen, die heutigen Menschen dienen. Die Erkenntnis von Juan de Polanco SJ (1517-1576), dem Sekretär und Vertrauten des Heiligen Ignatius, könnte das Motto der Autorin für ihr Buch sein: „Was an sich das Bessere ist, ist nicht für jeden Menschen das Bessere“.
Autor: Max-Josef Schuster ist Pastoralreferent in Nürnberg.
Bibliographische Angaben: Lisa Oesterheld, Beten mit dem Bleistift, Echter Verlag Würzburg 2022, ISBN: 978-3-429-05798-5