Jahrzehntelang hat die kirchliche Bürokratie Missbrauchstaten vertuscht. Annette Jantzen erläutert dazu im Interview Haltungen und Muster aus der Geschichte totalitärer Systeme.
Michael Schüßler: Die katholische Kirche in Deutschland investiert einiges in Aufarbeitung und Prävention von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch. Was bis heute aber irritierend ist: Wie konnte die kirchliche Bürokratie jahrzehntelang Taten vertuschen und Täter einfach versetzen? Annette, du bist promovierte Kirchenhistorikerin: Wie lässt sich erklären, dass Kardinäle lieber geheime Aktenordner angelegt haben, als die Behörden zu informieren?
Annette Jantzen: Ich würde zunächst einmal unterscheiden zwischen den persönlichen Motivationen und den systemimmanenten, in der Institution tradierten Werthaltungen, die sich im persönlichen Handeln zeigen. Um zu erklären, warum beispielsweise Joachim Kardinal Meisner auf die Idee kam, die entsprechende Aktensammlung ausgerechnet unter dem Titel „Brüder im Nebel“ zu führen, müsste man tiefer in die Biographieforschung gehen.
Kollektiver Konsens des Nicht-Benennens
Auf der Ebene der Institution aber lässt sich beschreiben, wie kollektiver Konsens des Nicht-Benennens dazu führt, dass man sich überhaupt keinen rechten Begriff vom Geschehenen macht. Zu fragen wäre auch noch nach der generellen Akzeptanz „weltlicher“ Gerichtsbarkeit über dieses Nicht-Benannte, das dem ethischen Urteil durch die Tabuisierung entzogen worden war, und nach den Nachwirkungen der sogenannten Sittlichkeitsprozesse der NS-Justiz, die als Maßnahmen der Kirchenverfolgung in die Erinnerung eingegangen waren.
Der auf tragische Weise verunglückte Historiker Thomas Großbölting hat genau das als „zweiten“ Skandal der Missbrauchstaten bezeichnet: Es wurde vertuscht und verschleiert, weil man offenbar taub war für das Geschehene. Man sah nur „Fälle“ auf dem Schreibtisch der Kirchenbürokratie. Solche Muster sind kein ganz neues Phänomen, oder?
Nein, solche Muster gibt es auch anderswo und in Kontexten, an die in diesem Zusammenhang zu denken ein intensives Gefühl der Beklemmung auslöst. Dass es Täter gibt, die dadurch zu Tätern werden, dass sie anderen die Taten ermöglichen, und ohne deren Beitrag die Taten nicht hätten geschehen können, und wie die Haltungen solcher Täter beschrieben können, das hat nämlich Hannah Arendt sehr präzise in ihrem Prozessbericht „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ dargelegt. Wenn man die Täterhaltungen, mit denen sie Eichmann charakterisiert, von diesem konkreten Fall abhebt und ausschließlich diese Haltungen anschaut, dann ergibt sich ein erschreckendes Muster. Ihre Beschreibung der Person Eichmanns lässt sich nämlich auf die vier Begriffe „Wirklichkeitsverweigerung, Erfahrungsverlust, Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit“ bringen, wie es Ursula Lutz und Thomas Wild in ihrer Einleitung zu ihrem dokumentierenden Band „Eichmann war von empörender Dummheit“ tun (Arendt/Fest 13). Diese Haltungen ermöglichten Eichmanns Täterschaft, und diese Haltungen finden sich auch in anderen Kontexten, wo Menschen Verbrechen administrativ ermöglichen. Wirklichkeitsverweigerung, Erfahrungsverlust, Pflichttreue, Veranwortungslosigkeit: So kann man auch die Haltung der kirchlichen Vertuschungstäter fassen, und einmal gedacht, lässt dieser Gedanke sich nicht mehr ungedacht machen.
Wirklichkeitsverweigerung, Erfahrungsverlust, Pflichttreue, Veranwortungslosigkeit
Natürlich muss man die Parallele in den Täterhaltungen insofern einschränken, als die institutionelle Eingebundenheit der Täter grundverschiedene Motive hatte. Eichmann, der präzise und effizient den industrialisierten Völkermord geplant hatte, wirkte in einer Organisation, die genau zu diesem Zweck aufgebaut worden war, und die Taten folgten seiner Aktion. Kirchliche Vertuschungstäter arbeiten nicht initial aktiv, sondern reaktiv, um Täter zu decken und die Institution zu schützen. Die kirchliche Organisation soll es trotz der Taten geben, Eichmanns Behörde gab es zum Zweck der Taten. Diese Unterscheidung ist essentiell. Die verbleibende Parallele in den Haltungen ist erschreckend und abgründig genug.
Gut, dass du bei dieser heiklen Parallele gleich auf die Grenzen hinweist. Aber du nennst ja vier Begriffe für das Phänomen, die wirklich interessant sind. Kannst du das näher erklären?
Von Arendts Beobachtungen aus sind es zwei Begriffspaare, und jedes Paar ist wie eine Medaille mit zwei Seiten. Wirklichkeitsverweigerung und Erfahrungsverlust hängen ebenso zusammen wie Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit. In Arendts Darstellung bezeichnet die „Wirklichkeitsverweigerung“ das, was Arendt Eichmanns „absolute[n] Mangel an Vorstellungskraft“ nennt, denn „er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen“ (Arendt 117f.), oder, anders ausgedrückt, auf seinen „Unwille[n], sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist.“ (Arendt/Fest 44). Sie geht einher mit der anderen Seite der Medaille, dem Erfahrungsverlust, mit dem Eichmann rundheraus erklären konnte, „mit der Tötung der Juden nichts zu tun [gehabt zu haben]“ (Arendt 80).
Das Ineinander von Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit ist evident, denn mit pedantischer Genauigkeit organisierte Eichmann, der sich selber als „gesetzestreuen Bürger“ betrachtete, die ungeheuren Verbrechen, ohne sich irgendeine Vorstellung von der Abscheulichkeit dieser Verbrechen zu machen.
Das schiere Nichtbegreifen, was die Missbrauchstaten bedeuten
Gestützt auf diese vier Grundhaltungen kann Eichmann dann geradezu treuherzig beteuern, dass ihm niemand je gesagt habe, dass das, was er tue, Unrecht sei. Im Zitat aus dem Prozessbericht: „Niemand […] ist an mich herangetreten und hat mir Vorhaltungen gemacht wegen meiner Amtstätigkeit.“ (Arendt 234). Wohlgemerkt: Amtstätigkeit. Bürokratischer kann man die eigene Aufgabe, einen Völkermord zu verwalten, wohl nicht beschreiben.
Abgelöst vom Usprungsort kann man mit den vier Begriffen die Haltungen der kirchlichen Vertuschungstäter beschreiben: die Haltung der absoluten Unempfindlichkeit gegenüber dem Leid der Betroffenen, also die Wirklichkeitsverweigerung. Das schiere Nichtbegreifen, was die Missbrauchstaten bedeuten und dass auch Vertuscher Täter sind – Erfahrungsverlust. Pflichttreue und Verantwortungslosigkeit sind quasi selbsterklärend und laufen auf den unbedingten Vorrang des Institutionenschutzes hinaus.
Es gibt also bei solch bürokratischer (Mit)Täterschaft meist kein Schuldbewusstsein. Ein Muster, das sich auch bei den Vertuschungstätern in der Kirche findet?
Ob dem einen oder anderen Vertuschungstäter doch mal Zweifel gekommen sein mögen, ist auf der persönlichen Ebene ohne sehr genauen Blick in die Biographie kaum zu sagen. Institutionell bildet sich ein solches Schuldbewusstsein nur sehr bedingt ab, nämlich im Umgang mit Beweisen. Aber über weite Strecken der Täterschaft der Vertuschungstäter scheint mir das gegeben zu sein, was Arendt als Eichmanns „empörende Dummheit“ bezeichnet. Sie benennt damit nämlich nicht den Grad seines Intellekts, sondern den Umstand, dass Eichmann keinen Begriff davon gehabt habe, Umgang mit sich selbst zu haben, mit sich selbst zusammenzuleben, und aus diesem Umgang mit sich selbst zu moralischen Urteilen zu kommen. Sie nennt das, zu sagen: „‚Dies und dies will ich nicht tun.‘ Denn mit jemand, der dies getan hat, will ich nicht zusammenleben.“ (Arendt/Fest 52) Das Agieren der Vertuschungstäter lässt über weite Strecken nicht erkennen, dass sie zu solchen moralischen Urteilen gekommen seien. Stattdessen haben sie Verantwortung geleugnet und in allen Hierarchieebenen glatt über das eigene Wissen und Mitwissen gelogen.
Mit jemand, der dies getan hat, will ich nicht zusammenleben
Ich wage die These, dass hier statt eines Schuldbewusstseins ein Konzept von Sünde leitend war, bei dem das eigentliche Vergehen nicht an einem anderen Menschen, sondern gegen Gott begangen wird. Dann geht es nämlich nicht mehr darum, ob ich mit jemand zusammenleben kann, der dies oder dies getan hat, sondern was Gott von dem Ganzen hält. Und wenn die Kirche schließlich eine gottgewollte Institution ist und das Sexualitätstabu zudem noch dafür sorgt, dass es keine Worte gibt, um überhaupt zu einem Begriff der sexuellen Selbstbestimmung zu kommen, und man damit auch keinen Begriff von den verheerenden Folgen der sexuellen Gewalt hat, dann ist die Vertuschung als Institutionenschutz folgerichtig. Man sieht das auch in der Rechtsstruktur, wo bis zur jüngsten Revision des sechsten Buchs des Codex Iuris Canonici sexuelle Gewalt gegen Kinder eben ein Vergehen gegen die Kirche war, bei dem der so tief verletzte Mensch nur als Zeuge galt. Es ist von bitterer Konsequenz, dass die Betroffenen bis heute im kirchlichen Agieren Statisten der Statistik bleiben, dass kaum ein Verantwortungsträger, der seine Erschütterung ausdrückt, nur ansatzweise einen Begriff davon zu haben scheint, was da Ungeheuerliches passiert ist – das zeigt sich nochmal exemplarisch bei der Empörung in der Leitung des Erzbistums Köln über den Rosenmontagswagen zum Missbrauchsskandal.
Dass es irgendwo doch ein Bewusstsein für etwas Unrechtes gab
An der erwähnten Stelle des Umgangs mit Beweisen möchte ich aber noch eine Differenzierung einziehen, denn darin scheint mir ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Täterhaltungen zu bestehen. Die Motivation der Beweisvernichtung der kirchlichen Vertuschungstäter weicht nämlich eklatant von der von Arendt her gewonnenen Tätertypologie ab. Die NS-Täter vernichteten Beweise systematisch und in klar abgrenzbaren Zeiträumen, nämlich im Angesicht der Niederlage. Kirchliche Vertuschungstäter sorgten eher dafür, dass erst gar keine Beweise anfielen oder zumindest keinen Außenstehenden in die Hände fielen – da sind wir wieder bei den „Brüdern im Nebel“. Das lässt darauf schließen, dass die Verkehrung der Maßstäbe von Recht und Unrecht nicht total war, dass es irgendwo doch ein Bewusstsein für etwas Unrechtes gab. Das gibt Grund, anzunehmen, dass hier eine Einsicht in die Schuld noch möglich ist.
Zum Schluss eine große Frage, die wir hier nur anreißen können: Wie müsste diese Einsicht in quasi „bürokratisches Unrecht“ bei Verantwortungsträgern die Institution katholische Kirche verändern?
Ja, was bedeutet es für die Institution Kirche, dass sich in ihr an Schlüsselstellen und oft über Jahrzehnte Tätertypologien finden, wie wir sie aus totalitären Systemen kennen? Mir scheint offensichtlich, dass da eigentlich kein Stein auf dem anderen bleiben kann, und das ausgerechnet in einer Situation, in der wir gesellschaftlich dringend gefordert wären. An dieser monströsen Täterschaft wird deutlich, dass hier Fundamente falsch gelegt sind, vor allem hinsichtlich der Konzeption von Autorität und Gehorsam – daran hängen dann auch Fragen nach Offenbarung, Überlieferung und Wahrheitsanspruch. Deutlich wird aber auch die fatale Tendenz zur Selbstsakralisierung im ganzen metaphysischen Überbau. Wenn Fundamente und Deckenabschluss falsch konzipiert sind, was bleibt dann noch? Aber die Fassade steht noch, und sie wird nicht nur von denen gestützt, die mit Macht ausgestattet sind, sondern auch von uns allen, den Bystandern und Mitläufer*innen. Wir wollen das auch nicht sehen. Dabei ist eine unbeeindruckt stehende Fassade angesichts der angerichteten Verheerungen noch erschreckender als ein Zusammenbruch. Du bist Pastoraltheologe – ich könnte die Frage also an dich zurückgeben.
Das Bearbeiten der Symptome wird diese Krise nicht lösen
Aber du hast mich gefragt, und mein vorläufiges Fazit ist: Um das Evangelium ist mir nicht bange. Ich habe eine vage Ahnung von Menschen, die sehr bescheiden mit einer großen Hoffnung unterwegs sind, und deren erste Sorge den Verwundeten gilt. Aber die Kirche, wie wir sie kannten, wird zumindest bei uns binnen kurzer Zeit keine relevante Erscheinungsform des Christlichen mehr sein. Das hat auch andere Auslöser als den Missbrauchsskandal, aber dieser verweist auf den tieferliegenden Grund der Krise und darauf, dass das Bearbeiten der Symptome diese Krise nicht lösen wird.
Literatur:
Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, erweiterte Neuausgabe, München 2. Auflage 2024.
Hannah Arendt/Joachim Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe, herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild, München 2. Auflage 2020.
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Bild: Michael Soledad auf unsplash.
Annette Jantzen, Dr. theol., ist Teil der Projektleitung von „Kirche im Mentoring – Frauen steigen auf“ beim Hildegardis-Verein. Sie betreibt den Blog www.gotteswort-weiblich.de und ist als Autorin tätig.