In der aktuellen Situation erleben wir die grundlegende Unverfügbarkeit des Lebens in besonders eindrücklicher Weise. Ulrike Wagner-Rau bedenkt, wie darüber – auch im Kontext der Seelsorge – zu sprechen wäre.
Was stärkt eigentlich die Lebenskraft und das Vertrauen in diesen Corona-Tagen? Die Frage beschäftigt mich. Oft findet sich, gerade aus christlich inspirierten Mündern, die Beschwörung der Hoffnung, des Vertrauens und der Kraft. „Als Christen leben wir nicht aus der Angst, sondern aus dem Vertrauen“, schreibt der Ratsvorsitzende auf der Homepage der EKD. Ist es ermutigend, was da geschrieben steht?
Beschwörung der Hoffnung, des Vertrauens und der Kraft?
Manchmal liegen Themen in der Luft, ehe sie konkret werden. Im Dezember 2018 erschien ein kleines Buch von Hartmut Rosa, das 13 Monate später bereits die 6. Auflage erlebte. „Unverfügbarkeit“, so der Titel. In diesem Buch macht der Autor zum Thema, was sich dem Machbaren entzieht. Er schreibt darüber nicht in einem primär warnenden und kulturpessimistischen Ton. Vielmehr verdeutlicht er an individuellen und sozialen Phänomenen, dass Unverfügbares die Quelle für Lebendigkeit ist.
Das Erschreckende und Bedrohliche zu verhindern, entzieht sich oft der Hand der Menschen, aber ebenso dies, das Schöne und Beglückende herbeizuführen. Überraschend ist es, dass wir überhaupt leben. Unausweichlich ist es, dass wir irgendwann sterben. Und zwischen diesen beiden Polen liegt vieles, das uns widerfährt, ohne dass wir es planen und kontrollieren können, dem wir durch Zuwendung, Bildung, Erkundung und Handeln einen Weg bahnen, aber das sich letztlich so und nicht anders zeigt – anders als das, was geplant war. Ohne dieses überraschende Moment gäbe es nichts Neues auf der Welt.
Unverfügbares ist die Quelle für Lebendigkeit.
Eine andere Vertreterin der Soziologie, Hilge Landweer, hat 2012 einen Aufsatz über das Unverfügbare geschrieben. Der Begriff, das ist erstaunlich, wird erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gebräuchlich. Hilge Landweer fragt, warum gerade damals eine Erfahrung, die es menschheitsgeschichtlich selbstverständlich auch vorher gab, auf diese Weise bestimmt und dadurch auch mit Aufmerksamkeit versehen wurde. Ihre These: Zu der Zeit beschleunigte sich der wissenschaftliche Fortschritt so, dass seine Folgen nicht immer abzusehen waren. Die Rede von der Unverfügbarkeit will in diesem Prozess als Stolperstein wirken, der eine Pause zum Nachdenken schafft darüber, wie das Leben weitergehen soll.
Stolperstein Coronakrise
Das Coronavirus liegt jetzt als massiver Stolperstein im Weg. In einem wahnsinnigen Tempo setzt es weltweit scheinbare Selbstverständlichkeiten des Lebens außer Kraft. Terminkalender leeren sich ebenso rasch wie Straßen und Plätze. Was den Tag ausfüllt, muss neu entdeckt werden.
Oder gerade andersherum: Unablässig ist beschäftigt, wer die Kranken versorgt und pflegt, die nötigen Hilfsgüter herstellt, die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln, Informationen und Unterhaltung sicherstellt, nicht zuletzt wer politische Entscheidungen treffen und die Krise verwalten muss. Kassierer*innen im Supermarkt erfahren unerwartete Aufwertung und Anerkennung.
Virolog*innen, vorher nur im kollegialen Kreis bekannt, sind in aller Munde. Sie nehmen in gewisser Weise priesterliche Funktionen wahr: Sie haben das Wissen, und sie sind potenziell die Träger der Hoffnung, dass ein Impfstoff oder ein hilfreiches Medikament entwickelt wird. Ihre Glaubwürdigkeit wächst in dem Maß, in dem sie nicht nur ihr Können, sondern auch die Grenzen ihres Vermögens offenlegen. Das finde ich auch theologisch bemerkenswert.
Glaubwürdigkeit wächst, wo Wissenschaftler*innen auch die Grenzen ihres Vermögens offenlegen.
Man kann beobachten, dass Menschen auf je unterschiedliche Art und Weise mit der Frage umgehen, was ihr Leben jetzt trägt. Berichte aus China zeigen, wie die häusliche Isolation die Psyche und das Zusammenleben in Zerreißproben führen. Ungerechtigkeit in den ökonomischen Grundlagen und Wohnverhältnissen bilden sich verschärft ab. Während die einen darum ringen, die Miete für ihre enge Wohnung im Block zu erübrigen, genießen die anderen die Frühlingssonne im Garten oder im nahegelegenen Wald.
Und es häufen sich die Sinnangebote, die die Krise deuten wollen: Welche Chancen liegen in der Erschütterung? Was kann und muss sich an unserem Leben und Wirtschaften ändern? Antworten auf diese und ähnliche Fragen sind notwendige Versuche, das unverfügbare Geschehen der Virusinfektion zu ordnen, zu verstehen, auf irgendeine Weise umzugehen mit einer unsichtbaren, aber höchst wirkmächtigen Bedrohung. Denn Ohnmacht ist ein beängstigendes Gefühl, das schwer zu ertragen ist.
Ohnmacht ist ein beängstigendes, schwer zu ertragendes Gefühl.
Das Umgehen mit dem Unverfügbaren führt in den Kern der Religion. Dass ein Kind geboren wird, wird auch heute von vielen Menschen ein Wunder genannt, die Gesundheit gerade unter Älteren ein Geschenk. Und Tod und Sterben, so ein Ergebnis der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, sind das religiöse Thema par excellence.
Insofern sind Christ*innen und Kirchen jetzt herausgefordert: Haben sie etwas zu sagen in einer Situation, in der sehr viel zu tun ist, aber offenkundig auch vieles unverfügbar bleibt? Hinzu kommt die Last, die aus dem Wissen um die prekäre Situation der Kirchen erwächst. Kommt es nicht darauf an, das Richtige zu tun und zu sagen? Besteht vielleicht jetzt die Chance, die Relevanz der christlichen Botschaft deutlich zu machen?
Der Druck, in der Krise (er)lösende Antworten zu geben und Hoffnung zu spenden, ist groß.
Der Druck, in der Krise (er)lösende Antworten zu geben und Hoffnung zu spenden, ist groß. Viele Pfarrer*innen senden die Botschaft jetzt online, erproben neue Formate, um den Gemeinden nahe zu sein. Auch die Kirche lernt viel in diesen Zeiten.
Wichtig erscheint es mir, in all den Aktivitäten nicht aus dem Blick zu verlieren, dass das Vertrauen nicht durch Beschwörung wächst, sondern seinerseits im Kern unverfügbar ist, ein Geschenk, dem man mit wachsender Lebenserfahrung vielleicht etwas gekonnter den Weg bereiten kann, aber das eigensinnig kommt und geht. Ohnmacht und Angst sind unvermeidbar. Darüber zu sprechen, gibt auch anderen die Möglichkeit, das zu tun. Das ist schwierig genug. Aber noch schwieriger ist die Angst vor der Angst. „[…] in Ängsten […] und siehe, wir leben.“ Paulus gibt in dieser Hinsicht eine gute Leitlinie vor.
Über Ohnmacht und Angst zu sprechen, gibt auch anderen die Möglichkeit, das zu tun.
Im Spannungsfeld von Angst und Vertrauen, von Schmerz und Sehnsucht haben wir letztlich keine Kontrolle über unser Leben. Das ist schrecklich und schön zugleich. Schrecklich, weil es uns verwundbar macht, und schön, weil wir uns nicht selbst genug sein müssen und auch wunderbare Dinge ohne unser Zutun geschehen können.
In der Seelsorge ist es das Schwerste, die Ohnmacht ertragen zu lernen. Alle wollen trösten und Mut machen und suchen das richtige Wort. Aber oft gibt es das gar nicht. Wenn man das verinnerlicht, kann man gemeinsam die Ohnmacht, die Angst und den Schmerz aushalten oder Wege suchen, die dem Nichts-tun-Können eine Form geben. Dann kommt irgendwann der Mut zum nächsten Schritt – meistens jedenfalls.
Das richtige Wort – oft gibt es das gar nicht.
Ich finde es wichtig, über Vertrauen und Hoffnung zu sprechen. Aber es muss erkennbar bleiben, wie flüchtig deren Präsenz in unserem Leben ist. Angst und Verletzlichkeit brauchen gleichermaßen Raum. Beide Seiten gehören zusammen. „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.” (Leonard Cohen) So ähnlich hat Paulus das auch formuliert.
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Prof. Dr. Ulrike Wagner-Rau ist Professorin i.R. für Praktische Theologie an der Philipps-Universität Marburg.
Bild: Kintsugi-Schale, Haragayato / CreativeCommons