Welchen Platz hat Science Fiction in der Theologie? Markus Pohlmeyer über das theologische Potential einer vermeintlich extratheologischen Denkform.
Mein Zugang zu Science Fiction
Als ich noch an einem Gymnasium unterrichtete, war Science Fiction (SF) immer irgendwie in der Lebenswelt meiner Schülerinnen und Schüler präsent („Beam mich rüber!“ – „Witzig, der Beamer ist wieder kaputt!“ Oder: „Luke, ich bin nicht dein Vater, ich bin dein Lateinlehrer!“ – Zitate MP). Und als ich an die Europa-Universität Flensburg kam, erhielt ich die Möglichkeit, im MA-Studiengang „Kultur – Sprache – Medien“ (KSM) Seminare auch über SF zu geben. So entdeckte ich zusammen mit meinen Studentinnen und Studenten (nicht nur der katholischen Theologie), dass Kenntnisse der Weltreligionen, bestimmter Bereiche wissenschaftlicher Theologie und ebenso der großen und kleinen Mythen zum Verständnis sowohl bedeutender SF-Filme als auch grandioser SF-Texte genauso unabdingbar waren wie Grundwissen in Quantenphysik, Evolutionskonzepten oder Relativitätstheorie.[1] Auch publiziere ich gerne in dem Online-Magazin CrimeMag, das ein sehr gutes Forum für essayistische Formen und die Beschäftigung mit Filmen und Serien bietet. Und trotzdem fühle ich mich manchmal – eher in akademischen Kreisen – wie eine ET-LF, eine extratheologische-Lebensform. Aus einem Gespräch: ich sei doch der Theologe, der Gott für eine Science Fiction-Figur halte? Darauf ich, korrigierend: „Nein, das war Homer Simpson!“ (Erläuterung: „Gott ist meine Lieblings-Science-Fiction-Figur.“[2]).
Der Platz für Science Fiction in der Theologie
Große epische – und auch viele kleine – Erzählungen kommen nicht ohne Gott und die Götter aus: von Homer über Vergil, von Dante bis Thomas Mann, über die Genesis bis Wolfram von Eschenbach. (Gut, im Vergleich zum indischen Epos Mahābhārata ist die Bibel eher einer der kürzeren Texte, die sich mit Gott befassen.) Und natürlich, es gibt auch viel, viel Literatur ohne Gott oder mit Göttern.
SF notiert wie ein Seismograph ökologische, soziale, politische und religiöse Umbrüche.
Wenn aber Theologie das Ganze von Gott, Mensch und Welt im Blick hat, kann da auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit SF ihren Platz finden, denn: „SF bedient sich der Mythen und schafft dadurch neue Mythen bis hin zu Neo-Religionen. Wenn Mythos verstanden wird als eine Weltdeutungsgeschichte, dann artikulieren sich in der SF Versuche, die Komplexität einer modernen, industrialisierten und medialisierten Welt und ihre Diskurse zu reflektieren, zu kommentieren und zu extrapolieren – mehr oder weniger gelungen, mehr oder weniger ästhetisch und philosophisch. SF notiert wie ein Seismograph ökologische, soziale, politische und religiöse Umbrüche[…]“[3], die vor allem durch technische und mediale Entwicklungen hervorgerufen werden. SF ist vor allem integraler Bestandteil der Popkultur und durch sog. ‚Produktverbünde‘ von großer, ja gigantischer Reichweite. Und als ein relativ junges Genre (von Platons und Thomas Morus’ Staatsutopien abgesehen) stellt sich SF Grundfragen des Menschseins, auf welche die (Welt)Religionen wie auch Philosophie(n) in Ost und West schon seit Jahrtausenden reagieren, aber nun in einer sich rasant medial und technisch ausdifferenzierenden Industriezeitalter-(Post)Moderne.
Science Fiction handelt von gesellschaftlichen Problemen und dem Scheitern des sog. Ebenbildes Gottes. Genau darin liegt auch ihr theologisches Potential.
Eine offene, neugierige Theologie respektiert den Umgang von SF-Schriftstellerinnen und -Schriftstellern in Hinblick auf religiöse Themen als eigenständige Auseinandersetzung mit komplexen, gesellschaftlichen, oft erschreckenden Problemen und das Menschsein transzendierenden Herausforderungen, die von der Kosmologie und anderen Naturwissenschaften immer weiter getrieben werden, weil sich dieses, unser Universum als ein nie abschließend zu begreifendes Mysterium voller Faszination zeigt. Es ist das Staunen über diesen, unseren Kosmos und wie der Mensch zu neuen interstellaren Kontinenten und Welten aufbrechen kann.
SF behandelt aber auch das katastrophale Scheitern des sog. Ebenbildes Gottes, dass eine natürliche Umwelt und seine Gesellschaftsformen gierig, medial, religiös und/oder politisch fundamentalistisch in Apokalypsen und Dystopien treibt. Die französische Serie Missions [4] zeigt am Beispiel des Mars, wie unsere Vorfahren schon einmal einen Planeten in eine Wüste verwandelt haben, bevor sie zur Erde flohen, die sie jetzt in eine Wüste verwandeln. Science Fiction? Willkommen in der Gegenwart!
Science Fictionals ein zentraler Ort religiöser Sozialisiation
Manche SF-Texte und -Filme legen ihr Verhältnis zu religiösen Vorlagen schon in der Überschrift offen (beispielsweise J. G. Ballard: Vom Leben und Tod Gottes, T. Chiang: Tower of Babylon, W. Jeschke: Das Cusanus-Spiel), manche arbeiten eher zurückhaltend, radikal naturalistisch oder religionskritisch (U. K. Le Guin: Verlorene Paradiese), und manche, nicht selten die besten, mit Ambiguität (2001 – Odyssee im Weltall; Blade Runner). Meine empirisch noch zu belegende Hypothese: SF gehört heute zu den zentralen Orten erster religiöser Sozialisation. „Denn dieses Genre bedient sich wie kein anderes am mythologischen und archetypischen Reichtum der Weltreligionen, aber nicht nur aus kommerziellen Gründen oder weil das (bisweilen, aber nicht immer) phantastisch gute Geschichten sind, sondern auch wegen der Sprach- und Ideenlosigkeit archaischer Weltreligionen bzw. ihrer Institutionen in einer Welt der Quantenmechanik und Kosmologie, der Relativitätstheorie und Evolution, der KIs und atemberaubender Kunstwerke, wie es eben auch Filme sein können.“[5]
Science Fiction: Neue – nicht klassisch christliche – Antworten
Aber selbst wenn SF religiöse Themen aufgreift: Bei der Schaffung beispielsweise von künstlicher Intelligenz oder künstlichen Menschen stellt sich die Theodizee-Frage nun extrapoliert als Anthropodizee-Problem. Messias-Figuren sind ebenso allgegenwärtig – im Guten und im Schlechten – wie überhaupt die Frage oder Suche nach dem Göttlichen; die Antworten aber können und wollen selten die sein, die z.B. aus einer klassisch-christlichen Tradition stammen, eben weil diese bisweilen so erfahren wird, dass sie darauf nicht antworten wolle oder könne. SF kann neue, andere Wege des Denkens, Wahrnehmens und Beschreibens unserer Welt von heute erschließen. Neben dem Roman sind darum short stories eine beliebte Gattung der SF, eben die vielen kleinen Geschichten eines polymythischen Kosmos.
Science Fiction: Verfremdete Gesellschaftskritik
Das Buch Die Kinder der Zeit[6] von Adrian Tchaikovsky spielt mit viel Humor, Ironie und Tragik, dazu hochkritisch durch, wie ein artifiziell angestoßener Evolutionsprozess in Raum und Zeit verlaufen kann; wie durch die Überwindung menschlicher Gewalt das Miteinander verschiedener Spezies möglich wird; wie eine zuvor verehrte Gottheit naturalisiert und dekonstruiert wird, ein Prozess, der aber keine Leere zurücklässt, sondern das Tor zu den Sternen aufstößt; und wie in einer matriarchalischen, nicht-menschlichen Gesellschaft die Männchen im Laufe der Generationen heroisch beweisen, dass für sie die gleichen Rechte gelten müssen wie für die dominanten Weibchen und dass sie wertvolle Beiträge für die Naturwissenschaften leisten können. Der Verfremdungseffekt funktioniert hier phantastisch. Anders gewendet: dass Marginalisieren der einen Hälfte der Bevölkerung führt zu immensen sozialen Spannung und fatalen Ungleichheiten. Erst die Kooperation miteinander und zwischen Spezies macht so etwas wie Raumfahrt und interstellare Reisen möglich.
Science Fiction: Theologische Metatexte
In der unfasslich beeindruckenden Serie Battlestar Galactica (2003-2009) jagen monotheistische Maschinen (die sog. Zylonen) polytheistische Menschen durch die Weiten des Alls – eine dramatische Odyssee. Die allerletzte Folge funktioniert in ihrer Narration gewiss auch ohne Religion, bleibt dann aber meiner Meinung erratisch und in ihrer Ambiguität und Intertextualität vollkommen unverstanden. Es wird nämlich ein Trinität-Metatext entwickelt, in den sich die Akteure und Akteurinnen einreihen, ohne dass sie es so artikulieren oder reflektieren würden. Nur wir Zuschauerinnen und Zuschauer sehen dies! Es gibt die Rolle Gott-Vater, die Admiral Adama (auch der erste biblische Mensch) einnimmt. In der Rolle des Sohnes seine Schwiegertochter Kara (die von den Toten auferstanden, zugleich auch eine Mose-Figur, eine Himmelfahrt erlebt). Und Adamas Sohn im hermeneutischen Rahmen des Heiligen Geistes – mit entsprechender Symbolik.[7] Jene letzte Folge entwickelt auch eine Anthropogenese: Woher kommen wir? Und eine Soteriologie: Können Mensch und Maschine zusammenleben, vor allem da die Zylonen Geschöpfe der prometheischen Menschen sind und gegen diese rebellieren? Hier vertreibt das Geschöpf seine Schöpfer aus dem Paradies. Und kann das Kind einer zylonischen Mutter und eines menschlichen Vaters Ausweg aus der Tragödie sein?
Schließen möchte ich mit einem Zitat von Cixin Liu, einem mittlerweile weltbekannten SF-Autor aus China:
„‘Die SF beschäftigt sich mit Problemen, denen die ganze Menschheit gegenübersteht […]. Dieses Genre hat also eine einzigartige und sehr wertvolle Sichtweise auf die Menschheit – es betrachtet sie stets als eine unteilbare Einheit.‘“[8]
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg.
Bild: Alexander Andrews on Unsplash.
[1] Markus Pohlmeyer: Science Fiction. Filmisch-literarisches Exil des Göttlichen, Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 2014, 77.
[2] Dt. Fassung 2019.
[3] Und ich biete immer wieder an, dass Studentinnen und Studenten Beiträge über ihre Beschäftigung mit Science Fiction in unserer Reihe „Flensburger Studien zu Literatur und Theologie“ publizieren können. Ein Band über Zeitreise(n) ist in Planung.
[4] „The Simpsons, Staffel 9, Episode (© Twentieth CenturyFox, 2007, 1997/98): Der blöde UNO-Club, die deutsche Übersetzung weicht erheblich vom Original ab (‚fictional character‘), ist aber ungleich besser!“ Zitiert nach: Markus Pohlmeyer: Science Fiction. Filmisch-literarisches Exil des Göttlichen, Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 2014, Zitat und Anmerkung 1.
[5] Vgl. dazu Markus Pohlmeyer: Dinosaurier, kosmische Träumer und Minihelden. Zwischen Welten verstrickt V, Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 13, Hamburg 2018, 41.
[6] A. Tchaikovsky: Die Kinder der Zeit. Roman, übers. v. B. Herden, HEYNE, München 2018.
[7] Vgl. dazu Markus Pohlmeyer: Science Fiction. Filmisch-literarisches Exil des Göttlichen, Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 2014, 85-87.
[8] Cixin Liu, zitiert nach N. Cheetham: Die neue Reise in den Westen. Wie Science-Fiction aus China die Welt eroberte, in: Cixin Liu: Die Sonne Chinas, in: Ders.: Die wandernde Erde. Erzählungen, übers. v. K. Betz, J. Fiederling u. M. Hermann, HEYNE; München 2019, 637-649, hier 649. Siehe auch Markus Pohlmeyer: Cixin Liu: „Die Sonne Chinas“ oder Endlich zu den Sternen! Eine Rezension, in: http://culturmag.de/crimemag/markus-pohlmeyer-ueber-die-sonne-chinas-von-cixin-liu/115023, Zugriff am 3.2.19.