Ursula Rapp kennt Spiritualität auch als Teil des körperlichen Empfindens. In der spirituellen Praxis entstehen daraus Körperspiritualität und Körperwahrnehmung.
Spiritualität als eine Haltung und Praxis, die eigene Beziehung zum Ganzen als Transzendenzbezug, Weltbezug, Beziehung zu sich selbst und zu anderen zu leben und zu gestalten, ist ein Lebensweg. Die eigene psychische und körperliche Entwicklung sind das auch. Meinen Körper, mich selbst wahrnehmen und verstehen zu lernen, lässt mich meine Spiritualität und ihre Bedeutung für mich erst verstehen. Sie entfaltet sich langsam entlang alter, erinnerter und neuer seelischer und körperlicher Erfahrungen.
Im Folgenden möchte ich vier Verbindungsfäden dieser Beziehungen legen.
Körperspiritualität
Körper und Spiritualität ist für viele Menschen, die ihre Spiritualität und ihre eigene innere Entwicklung bewusst leben und daran „arbeiten“, eine Spur, die sie neugierig verfolgen. Da gibt es für sie etwas zu entdecken, das bislang in ihrer Spiritualität gefehlt hat.
Für noch mehr andere Menschen (besonders solche, die in Westeuropa aufgewachsen sind) ist das Thema Körperspiritualität, eher eine im besten Fall milde belächelte „moderne“ Entwicklung eines Nebenthemas spiritueller Praxis und Theologie. Man kennt das aus dem Yoga, aber im Christentum sei der Körper eher abgelehnt worden. Diese Sicht ist etwas zu eng, denn nebst aller asketischen Leib- und Sexualitätsfeindlichkeit, die man landläufig – und zurecht – mit der christlichen Tradition verbindet, gibt es durchaus ein christliches Leib- und Körperbewusstsein, das sich in Richtlinien für das Essen und Fasten ebenso ausdrückt wie in Gebärdensprachen und Körperhaltungen des Gebets. Oft wird z.B. auf die neun Gebetsweisen des Dominikus oder das spirituelle Körperbewusstsein der Wüsteneltern verwiesen[1].
Ein christliches Leib- und Körperbewusstsein
Es gibt Menschen, die ihre spirituelle Praxis bewusst als körperliche leben, wie etwa Barbara Lehner: „Spiritualität ohne Körper ist nur die halbe Sache“[2]. Lehner erzählt in einem Interview von körperlicher Präsenz in der Liturgie, ein Schlagwort, das in weiten Kreisen zumindest bekannt ist. Wie kommt man aber zu einer solchen Präsenz? Man muss „mit sich selbst in Kontakt“, im „Hier und Jetzt verwurzelt“[3] sein.
Hier ist ein erster Verbindungsfaden: Körperliche Präsenz in der Liturgie, im Feiern und im Gebet. Körperliche Präsenz, ob in der Liturgie oder im Alltag ist verbunden etwa mit der Wahrnehmung des eigenen Atems, der Verbindung mit dem Boden, dem eigenen Stand, der eigenen Haltung. Es ist letztlich ein „Bei sich selbst sein“, innere Selbstwahrnehmung. Diese zielt zunächst darauf, ganz da zu sein, wie man ist und von da aus in die Beziehung zu anderen zu gehen, es ist Körperspiritualität.
Leib als Tempel G‘ttes
Sebastian Painadath schreibt: „Im Gebetsvorgang wird der Leib ausgeklammert, und so entsteht im Glaubensvollzug eine Art Leibfeindlichkeit. (…) Der Leib soll [jedoch] als Tempel des göttlichen Geistes verstanden werden, als Ort der Verwandlung. Das Heil entsteht im Ganzwerden. Dies ist ein leibbezogener Prozess.“[4]
Das Heil entsteht im Ganzwerden.
Die Forderung, den Leib als „Tempel G’ttes“ und damit als „Ort der Verwandlung“ zu verstehen, kann kognitiv sein, dieses Verstehen ist aber immer auch ein körperliches und dieses geht langsam und still. Die Verwandlung geschieht – nach Painadath – durch G’tt, durch das Einwohnen G’ttes. Christliche Mystiker:innen wie Johannes Tauler z.B., sprechen deshalb von einem Leerwerden für G’tt. Das Leerwerden braucht Zeit, die Körpererfahrung braucht auch Zeit. Nur kognitiv zu verstehen, geht schneller. Hier geht es um Körperverstehen und Verwandlungserfahrung zum Heilen und Ganzwerden.
Eine zweiter Verbindungsfaden verläuft also zwischen Erfahrung und Körper: Erfahrung g’ttlichen Wirkens ist Körpererfahrung, Verwandlung und Heilung. Der spirituelle Weg ist ein körperlicher.
Körper als Zugang zum „Ganzen“
Auch Lehner sieht das ähnlich: „Körperspiritualität“ bedeute, man suche „über den Körper Zugang zum Ganzen“. Wenn es über den Körper eine Nähe zum „Ganzen“ gibt, dann muss im menschlichen Körper etwas für diese Verbindung zum Ganzen grundgelegt sein.
Der eigene Körper ist für die meisten Menschen hierzulande spirituelles und seelisches Niemandsland, unbekannte, nicht spürbare Leere. Die meisten Menschen in Westeuropa sind sich der physiologischen Aufgaben des Körpers, die bestenfalls auch erfüllt werden, bewusst. Der Körper ist Teil des Selbstausdrucks, indem er gestaltet wird z. B. durch Kleidung, Frisur, Tattoos, Piercings, bis hin zur Art des Gesundheitsbewusstseins, der Ernährung, Freizeitgestaltung etc. In alledem ist der Körper oft Leistungsanforderungen ausgesetzt. „Körper“ ist ein physisches Wesen oder „Ding“, nicht aber Ort und Ausdruck der Seele, eines menschlichen bewussten oder unbewussten Innenlebens.
Der Körper ist Teil des Selbstausdrucks.
Eine dritte Verbindungslinie ist damit das Herantasten an ein Bewusstsein, dass der Körper ein Ausdruck der Seele ist. Wenn Spiritualität ein Verbundensein ist mit uns selbst, der Umwelt, dem G’ttlichen, dann kann das nicht ohne Körper geschehen.
Körpergewahrsamkeit
Den Körper als „Zugang zum Ganzen“ zu erleben, setzt voraus, dass wir ihn wahrnehmen als das, was wir sind und wie wir gerade da sind, nicht etwas, das wir haben. Präsenz, auch sogenannte „geistige Präsenz“, ist immer eine körperliche, ein körperlicher Prozess. Körper zu verstehen als das, was ein Mensch ist, wie er in der Welt ist, aber auch, wie er gerade momenthaft da ist, versteht dieses Dasein – das „selbst sein“ – als ein komplexes und je einzigartiges Zusammenspiel von Selbstbild und Selbstideal, eigenem Selbstgefühl und Körperbild. Es zeigt sich in der Art, in Kontakt zu treten mit der Umwelt, wie sich ein Mensch ausdrückt, Freude, Lust und Trauer empfindet, aber auch im Atem, im Bodenkontakt und in körperlichen Haltungen. Dies ergibt sich genetisch und biografisch und gestaltet sich, weil der Körper Träger frühester Erfahrungen aller Art ist.
Zusammenspiel von Selbstbild und Selbstideal, eigenem Selbstgefühl und Körperbild
Genau als dieser Ort des Selbstseins zeigt sich in ihm die menschliche Seele, werden Ressourcen, die Kraft- und Lebensquellen und ihre Begrenzungen aufspürbar. Um sie aufzuspüren, braucht es wieder und wieder das bewusste Spüren und Wahrnehmen von Atem, Bodenkontakt und Befindlichkeit im Jetzt. Daraus entsteht eine Sensibilität für sich selbst, für das, was sich im Inneren zeigt, für das, wofür es noch keine Worte geben mag, von dem man aber spürt, dass es fundamental wichtig ist für das eigene Leben, den eigenen Weg, auch wenn es dafür nicht gleich oder vielleicht nie Worte geben wird. Manchmal in solchen Momenten „übernehmen die Tränen das Verstehen“[5] – oder auch ein Lachen, ein Zittern.
Das bewusste Spüren und Wahrnehmen von Atem, Bodenkontakt und Befindlichkeit im Jetzt.
Ein vierter Faden lässt sich somit von der Gewahrsamkeit des körperlichen Daseins zum inneren, seelischen Erleben spannen. Denn „Jedem seelischen Erleben entspricht ein körperliches Erleben“[6] und so entspricht jedem spirituellen Erleben ein körperliches.
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Ursula Rapp ist Professorin an der Kirchlichen pädagogischen Hochschule Edith Stein, promoviert und habilitiert im Fach „Exegese des Alten Testaments“ sowie Bioenergetische Analytikerin unter Supervision. Sie lebt derzeit in Salzburg.
Beitragsbild: Pezibear / Pixabay.com
[1] Vgl. z. B. Dyckhoff, Peter, Mit Leib und Seele beten. Die neun Gebetsweisen des Dominikus, Freiburg i. Brsg. u.a. 2016; Evagrius Pontikus, Über die acht Gedanken, Eingeleitet und übersetzt von Gabriel Bunge (= Weisungen der Väter Bd. 3), Beuron 42007.
[2] https://www.kath.ch/newsd/barbara-lehner-eine-spiritualitaet-ohne-koerper-ist-nur-die-halbe-sache/
[3] Z. B. ebd.
[4] Sebastian Painadath, Der Geist reißt Mauern nieder. Die Erneuerung unseres Glaubens durch interreligiösen Dialog, München 2002, 105.
[5] Bodrožić, Marica, Die Rebellion der Liebenden. Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten, München 2024, 92.
[6] https://www.bioenergetische-analyse.org/.