Kirchliche Lehre kann nicht nur mehr oder weniger überzeugend sein. Sie kann auch toxisch wirken. Ruben Schneider geht den konkreten Folgen lehramtlicher Positionen in der katholischen Morallehre nach und zeigt deren fatales Potenzial auf.
In einem neuen Arbeitstext des Synodalforums zur Sexualmoral heißt es, dass die Autor*innen „die verschiedenen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten der Menschen“ und ihre Paarbeziehungen würdigen wollen (Votum 9). Ein „Alternativvotum“ will hingegen nur die Menschen als solche annehmen und achten, nicht aber ihre Orientierungen, Identitäten und Beziehungen. Ähnlich hat sich nun der polnische Episkopat zu Wort gemeldet: Man beabsichtigt LGBT*-Personen als Menschen zu achten, verurteilt aber ihre sexuellen Handlungen. Dies entspricht der geltenden katholischen Lehre, dass man homosexuellen Personen „mit Achtung, Mitleid und Takt“ begegnen soll, während aber homosexuelle Handlungen als „objektiv ungeordnet“ und „intrinsisches Übel“ (malum intrinsecum) verdammt werden (KKK 2357f.). Doch kann die Kirche wirklich die Personen achten, wenn sie das Ausleben ihrer Orientierung als intrinsisches Übel stigmatisiert?
Veranlagung und Verlangen lassen sich nicht trennen.
Die Lehre betrifft nämlich nicht nur das Ausleben der Orientierung. Nach scholastischer Lehre wird die Natur jeder Veranlagung (potentia) durch ihren zugehörigen Vollzug (actus) bestimmt. Daher ist dem lehramtlichen Dokument Homosexualitatis problema (1986) zufolge auch die homosexuelle Veranlagung unabhängig von ihrem tatsächlichen Vollzug eine „objektiv ungeordnete Neigung“ (propensio obiective inordinata). Bereits das bloße Verlangen nach ungeordneter Lust ist laut KKK 2351 in sich Unkeuschheit. Die homosexuelle Orientierung als solche, d.h. die homosexuelle Gefühlswelt und Liebe, ist eine Hinordnung auf ein intrinsisches Übel. Dies betrifft das Innerste einer Person, die innersten sexuell-erotisch-romantischen Bedürfnisse und Gefühle. Der Lehre zufolge gärt also in der eigenen Seele ständig das unfreiwillige Verlangen nach einem intrinsischen Übel. Das subjektiv Höchste, die eigene Liebe, verkehrt sich in das objektiv Schrecklichste, in den Abgrund der Gottesferne (vgl. Schneider 2019: 41). Dieser Horror bleibt für homosexuelle Menschen, die im Raum der katholischen Kirche leben und von ihr geprägt werden, nicht ohne massive psychische Folgen.
Beziehungsethische Betrachtung
statt Naturrecht
Von Kritiker*innen der geltenden Lehre wird oft auf den Stand der Humanwissenschaften hingewiesen, die Homosexualität als eine natürliche Normvariante menschlicher Beziehungsfähigkeit ansehen (vgl. Bosinski 2015). Zudem ist es seit Jahrzehnten Konsens in der moraltheologischen Forschung, dass die naturrechtliche Verurteilung homosexueller Handlungen und Beziehungen einer beziehungsethischen Betrachtung zu weichen hat (vgl. Goertz 2015). Viel dringender scheint mir jedoch der Blick auf diese massiven psychischen und auch körperlichen Folgeschäden zu sein, welche die systematische Stigmatisierung und Viktimisierung bei Homosexuellen auslöst.
Das Problem:
Chronischer Minoritätenstress
Die empirische Psychologie und die Sozialforschung haben zu den psychosozialen Folgen der religiösen und säkularen Verurteilung von Homosexualität in den letzten Jahrzehnten in Quer- und Längsschnittstudien sowie in Meta-Analysen einen beachtlichen Bestand an empirischer Forschung zusammengetragen. Das etablierte psychologische Modell hierzu nennt sich Minoritätenstressmodell (Minority Stress Model, vgl. Meyer 1995, 2003, Hatzenbuehler 2009, Saha et al. 2019, Timmins et al. 2020). Mit ihm wird der sogenannte chronische Minoritätenstress erfasst, dem Homosexuelle meist ihr Leben lang signifikant ausgesetzt sind. „Stress“ ist hier nicht im alltäglichen Sinne zu verstehen, sondern es handelt sich um eine ernsthafte körperliche Auswirkung auf das Nervensystem (Distress). Im chronischen Fall kann Distress dramatische Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit haben.
Strukturelle und institutionelle Diskriminierung
Diese Folgen werden von sogenannten minoritäten-spezifischen äußeren und inneren Stressfakoren bzw. Stressoren (stressors) verursacht. Zu den äußeren Stressoren (distal stressors) gehören Vorurteilserfahrungen (prejudice events) wie Diskriminierung, Stigmatisierung und Marginalisierung, körperliche und psychische Gewalt, aber auch alltägliche Mikroaggressionen. Ebenso zählen strukturelle und institutionelle Diskriminierung dazu, wie etwa moralische Verdammung (z.B. durch die geltende katholische Sexuallehre), sozialer Ausschluss und rechtliche Diskriminierung (etwa der Ausschluss von der Ehe). Diese äußeren Stressoren wirken bereits auf homosexuell veranlagte Kinder und Pubertierende, bevor ihre Homosexualität erwacht. Da sie die heteronormativ-antihomosexuelle Welt, in der sie aufwachsen, als eine natürlich gegebene und sinnstiftende Welt erfahren, verinnerlichen sie unhinterfragt die Vorurteile dieser Welt, bevor sie sich dagegen wehren können (Parra et al. 2016).
An die Stelle von Liebe und Selbstliebe tritt toxischer Selbsthass.
Diese Verinnerlichungs- bzw. Internalisierungsprozesse, die das ganze Leben von homosexuellen Menschen fortlaufen können, führen zu inneren Stressoren (proximal stressors) (Timmins et al. 2020: 661f.). Der erste innere Stressfakor ist internalisierte Homophobie bzw. internalisierte Homonegativität (IH). Es handelt sich dabei teils um ein unbewusstes Introjekt und teils um eine bewusste Aneignung der heteronormativen Antihomosexualität: Wir lernen spätestens seit Beginn der Pubertät, dass die eigene Sexualität nicht in die Ordnung der Welt passt, dass sie abartig und verabscheuungswürdig ist. Diese negative Sicht wird zu einem tiefsitzenden Teil des eigenen Selbstverständnisses. Das, was das Zentrum der eigenen Sehnsucht ist, die Liebe zu Menschen gleichen Geschlechts, wird von uns selbst verdammt und stigmatisiert (self-stigma). An die Stelle der Liebe und Selbstliebe treten toxischer Selbsthass sowie Schuld- und Schamgefühle. Homosexuelle verbannen durch diese psychischen Mechanismen ihre sexuelle Identität aus ihrem Ich und entwickeln zu Überlebenszwecken eine deviante Fake-Persönlichkeit. Der zweite innere Stressor ist Stigma-Wahrnehmung (perceived stigma): damit ist die konstante Sensibilisierung für Diskriminierung und Stigmatisierung gemeint. Homosexuelle befinden sich in einem Zustand ständiger Hyper-Wachsamkeit gegenüber möglichen Gefahren, und in einem Zustand der sozialen Unsicherheit und chronischen Angst vor Ereignissen, die ihr verborgenes Selbst angreifen könnten (Malyon 1982: 60f., Meyer 1995: 40f., Berg et al. 2016, Saha et al. 2019: 89:6f.).
Wenn das eigentliche Selbst unterdrückt wird
Internalisierte Homonegativität (IH) führt insbesondere zu einem Konflikt zwischen den impliziten homosexuellen Bedürfnissen und dem expliziten Ziel, keine homosexuelle Person sein zu wollen. Im Gehirn sind implizite Bedürfnisse neuropsychologisch im parallelverarbeitenden System des rechten präfrontalen Cortex („integrated Self“) lokalisiert. Die expliziten Ziele hingegen haben ihre neurophysiologische Basis in der linken Gehirn-Hemisphäre, die der Sitz des analytischen „Ego“ ist (Kuhl/Quirin/Koole 2015). Ein authentisches Selbst reift, wenn beide neurophysiologischen Systeme in Harmonie gebracht werden. Durch internalisierte Homonegativität entsteht hingegen eine dauerhafte, tiefe Disharmonie zwischen Ego und Selbst, die nicht ohne konkrete körperliche Folgen bleibt. Unser eigentliches Selbst bleibt zu lange unterdrückt und verleugnet, die homosexuelle Identitätsformung (Homosexual Identity Formation HIF) ist gebrochen. In der entscheidenden Entwicklungsphase der Jugend entsteht daher kein gesundes und authentisches Selbstverhältnis. Abwehrmechanismen, Erkenntnismuster, psychische Integrität und Objektbeziehungen bleiben unterentwickelt und sind gestört (Malyon 1982: 60, Rowen et al. 2003, Jellison 2003). Dieses gebrochene Selbstverhältnis kann die Form eines Traumas annehmen, das sich tief in die Nervenbahnen einschreibt. Die meisten homosexuellen Jugendlichen haben nie authentische Liebe erfahren: alle Liebe, selbst die der Eltern, erreicht nicht ihr authentisches Selbst. Viele Homosexuelle bleiben daher ihr Leben lang seelisch tief verwundete Menschen (Downs 2012: 19-29).
Eine bittere Allianz:
Homophobie und Depression
Die psychischen Langzeitfolgen dieser Mechanismen umfassen unter anderem Angststörungen, Coping-fatigue, ADHS, Körper-Dysphorie, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Depression, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und eine hohe Suizidalität (Meyer 1995, Sattler 2018: 5f.). Die körperlichen Folgen umfassen Herzkreislauf-Erkrankungen, Esstörungen, Störungen im Hormonhaushalt, Alkoholismus und Drogensucht, und vieles mehr. Mehrere Studien konnten einen signifikanten Zusammenhang zwischen internalisierter Homophobie und Depression aufzeigen, indem empirisch nachgewiesen wurde, dass homosexuelle Menschen weniger des stress-regulierenden Hormons Cortisol produzieren als Heterosexuelle (Allostatic-Load-Modell, Parra et al. 2016, Sattler 2018: 11). Andere Studien konnten zeigen, dass Homosexuelle ab dem Teenageralter ein höheres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen aufweisen (Hatzenbuehler et al. 2014).
Höheres Krankheitsrisiko und
höhere Selbstmordrate
Die gesundheitlichen Auswirkungen von Minoritätenstress konnten bis auf die Ebene der Gen-Expression nachgewiesen werden (Flentje et al. 2018). Mit zunehmendem Alter wird der allgemeine Gesundheitszustand von LGBT-Personen im Vergleich zu Heterosexuellen deutlich labiler, und insgesamt ist aufgrund von höherem Krankheitsrisiko und höherer Selbstmordrate die Lebenserwartung deutlich geringer als die Heterosexueller (IOM 2011: 260, Sattler 2018: 9). In den Niederlanden ist die Suizidrate Homosexueller um das Zehnfache höher als bei Heterosexuellen, in Schweden um das Dreifache – und das, obwohl in den Niederlanden seit 2001 und in Schweden seit 2009 die gleichgeschlechtliche Ehe legal ist. Auch in Kanada wurde trotz Gay Marriage kein Rückgang in den Suizidraten Homosexueller beobachtet (Aggarwal et al. 2014) [the „Dutch Paradox“], Björkenstam et al. 2016, Hobbes 2017).
Langzeitwirkungen
Der Kern all dieser Probleme der Gay Community liegt darin, dass sich die durch Stigmatisierung induzierten Entwicklungsstörungen der Jugend in Psyche und Körpergedächtnis einbrennen und das gesamte Erwachsenenalter hindurch weiterwirken. Daher bestehen die eigenen Probleme auch nach dem Coming-out weiter und verstärken sich sogar, wenn in der Gay Community gebrochene Menschen aufeinander treffen: Der „extra-minority stress“ wandelt sich in einen „intra-minority stress“ (Kumar 2020). Dieser besteht in gegenseitiger Diskriminierung wegen Aussehen und Status, in Körper-Dysphorie, enormer Ablehnungssensitivität (rejection sensitivity – es ist schlimmer, wenn einen die eigenen Leute ablehnen, Pachankis et al. 2008) und in sozialängstlichen Symptomen, die auch nach dem Coming-out fortdauern. Dies kann zu tiefer Einsamkeit (gay loneliness) und zu einer konstanten Re-Traumatisierung und Verstärkung von Depression und Angst führen (Pachankis et al. 2015, Hobbes 2017). Das ändern auf Dauer auch keine rein äußerlichen, rechtlichen Verbesserungen wie die Einführung der Ehe für alle, wie es die Erhebungen zu den Suizidraten zeigen. Wahre Verbesserung muss an den inneren Wurzeln ansetzen. Denn Selbsthass und Depression sind nichts anderes als internalisierte Wut (internalized rage): die gegen sich selbst gerichtete Wut darüber, seines authentischem Selbst beraubt worden zu sein (Downs 2012: 33-38).
Kirchliches Lehramt
mit lebensmindernden Folgen
Das römische Lehramt trägt mit seiner Doktrin, dass Homosexualität eine Hinordnung auf ein intrinsisches Übel ist, zu dieser Beraubung des authentischen Selbst bei. Diese Doktrin und ihre dramatischen psychophysischen Folgen sind eine „Form von Missbrauch“ (Remenyi/Schärtl 2019: 13). Eine Korrektur ihrer Lehre kann die Kirche jedoch aus ihren eigenen spirituellen Quellen schöpfen: so haben etwa die Regeln zur Selbstfindung des Ignatius von Loyola genau das Ziel, das eigene authentische Selbst zu finden, es anzunehmen und in das Gesamt des eigenen Lebens in gelingender Weise zu integrieren (Brüntrup 2020). Und eine solche Korrektur aus den eigenen Quellen erlaubt keinen endlosen Aufschub, denn es geht bei LGBT-Inklusion nicht nur um irgendwelche progressiven Ideologien, sondern es geht um Menschenleben. Hier zeigt sich letztlich, wie ernst das Eintreten für den Lebensschutz in Theologie und Lehramt tatsächlich genommen werden kann.
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Autor: Dr. Ruben Schneider ist Habilitand an der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg und Forschungsstipendiat am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie der Ruhr-Universität-Bochum.
Foto: Jude Beck / unsplash.com
Literatur (zusätzlich zu Verlinkungen im Text):
Bosinski, Hartmut A.G. (2015), „Eine Normvariante menschlicher Beziehungsfähigkeit: Homosexualität aus der Sicht der Sexualmedizin“, in: Goertz, Stephan (Hrsg.), Wer bin ich, ihn zu verurteilen? (Goertz 2015), 91—130.
Downs, Alan (2012), The Velvet Rage. Overcoming The Pain of Growing Up Gay In A Straight Man’s World, 2nd edition, Boston: Da Capo Press.
Goertz, Stephan (Hrsg.) (2015), Wer bin ich, ihn zu verurteilen? Homosexualität und katholische Kirche (Katholizismus im Umbruch, 3), Freiburg i. Br.: Herder
IOM (Institute of Medicine) (2011), The Health of Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender People: Building a Foundation for Better Understanding, Washington, DC: The National Academies Press.
Kuhl, J. / Quirin, M. / Koole, S.L. (2015), „Being Someone: The Integrated Self as a Neuropsychological System“, in: Social and Personality Psychology Compass (9:3), 115–132.
Remenyi, Matthias / Schärtl, Thomas (2019), „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise, Regensburg: Pustet, 9—15.
Sattler, Frank A. (2018), Minderheitenstress und psychische Gesundheit von Lesben, Schwulen und Bisexuellen, publikationsbasierte Dissertation im Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg.
Schneider, Ruben (2019), „Found Again. Mein Leben als homosexueller Katholik im Kampf mit internalisierter Homophobie“, in: Remenyi, M. / Schärtl, Th. (Hrsg.), Nicht ausweichen (Remenyi/Schärtl 2019), 38—51.