Corona hält die Welt im Griff. Längst ist klar geworden, was dies für die Gesellschaft bedeutet. Auch die Konsequenzen für das kirchliche Leben treten zu Tage. Es ist nicht so, dass dies nur negativ zu Buche schlüge. Von Wolfgang Reuter.
In kreativer Weise entwickeln sich neue Formen und Gestalten kirchlichen Lebens auf unterschiedlichen Ebenen. Im diakonisch-caritativen Bereich erfinden Menschen miteinander neue, der Situation angemessene Formen solidarischen Handelns. Darin ereignet sich zugleich Gemeinschaft. „Kirche sein und Kirche werden“ bekommt – gerade in dieser Zeit und in diesen Vollzügen – neue Gestalt. Zugleich erleben wir, dass andere Bereiche kirchlichen Lebens zum Erliegen kommen.
Unterbrechung in der Seelsorge?
Wir feierten in diesem Jahr das Osterfest ohne aktive Teilhabe und Teilnahme an den üblichen Gottesdiensten. Die Seelsorge ist in vielen ihrer Handlungsfelder eingeschränkt, wenn nicht gar ganz eingestellt. Auszeit für die Gottesdienste – Unterbrechung in der Seelsorge? Seelsorge braucht keine Quarantäne, aber Abstinenz könnte zu ihrem Qualitätsmerkmal werden.
Einfach das tun, was wir immer tun …
Andreas Odenthal hat in Hinblick auf liturgische Vollzüge jüngst auf die „unaufgeregte Weise des Gotteslobes“ im Stundengebet der Kirche, hier speziell der Mönche der Abtei Gerleve, hingewiesen. Sie hatten sich entschieden, die Öffentlichkeit nicht an der gestreamten Konventmesse, sondern an ihrem Stundengebet, an Vesper und Komplet, teilhaben zu lassen. Dies ist, so Odenthal, insofern beeindruckend, als die Mönche hier einfach (nur) das tun, was sie immer tun. Das Stundengebet ereignet sich tagtäglich zur gleichen Zeit, „ganz ohne Kosten-Nutzungs-Rechnung“ und ohne jeden Optimierungszwang – eine bewährte Praxisform angesichts der derzeit kontroversen Diskussion um die Feier der Eucharistie ohne Gemeinde[1].
… geht nicht immer
Man wünschte sich, Gleiches auch über die Praxis der Seelsorge sagen zu können. Wenn Seelsorger*innen allerdings in dieser Zeit der Corona-Pandemie ungeschützt das machen, was sie immer tun, nämlich in Kontakt treten und in die Beziehung gehen, um nahe bei den Menschen zu sein, kann das in letzter Konsequenz für sie, und nicht zu vergessen auch für andere, tödlich enden.
In Kontakt treten und in die Beziehung gehen kann in letzter Konsequenz tödlich enden.
Was unlängst aus Italien berichtet wurde, nämlich dass zahlreiche Priester in Ausübung ihres Amtes zu Tode kamen, weil sie bei den mit dem Coronavirus Infizierten blieben, löste in den sozialen Medien kontroverse Debatten aus. Es kam zu ersten Idealisierungen, allerdings auch zu großer Ratlosigkeit. Beides kulminierte in der Frage, ob dieses seelsorgliche Verhalten nun falsch war oder richtig[2]. Ganz ehrlich: Diese Frage kann und will ich gar nicht beantworten. Sie ist auch nicht meine primäre Fragestellung.
Seelsorge in Zeiten von Corona?
Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen unseres Seelsorgeteams in einer psychiatrischen Klinik stehe ich vor einer ganz anderen Frage. Wie geht denn eigentlich Seelsorge unter den gegenwärtig einschränkenden, eng gesteckten Rahmenbedingungen? Die Nähe zu den Menschen, eines der Qualitätsmerkmale von Seelsorge, ist nicht mehr möglich. Wir können in der Seelsorge gerade genau das nicht tun, was wir sonst immer getan haben. Das Virus beschert uns hier einen ungeahnten Verlust, den wir nicht leugnen können. Aus diesem Dilemma scheint es kaum einen Ausweg zu geben. Viele agieren in dieser Situation im gegenpoligen Spannungsfeld zwischen Melancholie und Hoffnung. Manche retten sich in pastoralen Aktionismus, andere nehmen, wie oben erwähnt, lebenszerstörende Selbsthingabe in Kauf. Angesichts der Pluralität dessen, was in der Seelsorge alles möglich ist, stehen Seelsorger*innen vor der alles entscheidenden Frage: Wie geht Seelsorge in Zeiten von Corona für mich?
Abstinenz – ein Qualitätsmerkmal …
Ich versuche (m)eine Antwort. Als eines von vielen Merkmalen dessen, was Seelsorge ausmacht, drängt sich mir die Haltung der „Abstinenz“ auf. Das mag auf den ersten Blick paradox klingen und widerspricht gewiss auch manch einem Idealbild von Seelsorge, allem voran dem, als Seelsorger nahe bei den Menschen sein zu müssen. Abstinenz ermutigt zur gegenteiligen Haltung. Sie wird zu einem Qualitätsmerkmal für Seelsorge, indem sie die Erfahrung des Getrenntseins zulässt und ihr Handeln hieraus konzipiert. Um das klarzustellen: Hier geht es nicht darum „Nichts“ zu tun.
Hier geht es nicht darum „Nichts“ zu tun.
Vielmehr ist gemeint, mit den gegenwärtig auferlegten Verlusten in der seelsorglichen Praxis umzugehen, deren Wirksamkeit zu erkennen und von daherkommend, die seelsorgliche Beziehung auf neue Weise relational und heilsam zu gestalten. „Relational-heilsame Seelsorge“ verschreibt sich nicht allein dem Postulat der Nähe zu den Menschen. Ihr Leitkriterium ist es vielmehr, Beziehung in der Dynamik von Bindung und Trennung, Nähe und Distanz miteinander zu gestalten[3]. Ein Blick in die klassische Psychoanalyse wie auch in die christliche Ur-Kunde (Mk 16,1-8) kann hier inspirieren.
… der Psychoanalyse
Sigmund Freud hatte das neue Heilverfahren der Psychoanalyse mittels eines Paradigmenwechsels im Arzt-Patientinnen-Verhältnis entwickelt. Er hatte erkannt, wie heilsam Abstinenz als die gemeinsame Haltung von Arzt und Patientin sein können. So wurden der Verzicht auf vorschnelle Deutungen und die Enthaltsamkeit in Hinblick auf die Realisierung gegenseitiger Beziehungswünsche und Rettungsphantasien zu einem unverzichtbaren Bestandteil seiner neuen Theorie und Praxis. Abstinenz ist seitdem ein paradoxes, zugleich aber auch konstitutives Merkmal und Qualitätskriterium für die Beziehung in der psychoanalytischen Behandlung[4]. In dieser Hinsicht kann sie der Seelsorge eine Richtung vorgeben.
Abstinenz – ein Wagnis in der Seelsorge
Seelsorge kann sich auf die Haltung der Abstinenz einlassen, indem sie unter den gegenwärtigen Bedingungen die Erfahrung des Getrenntseins zulässt und ihr Handeln primär von daher konzipiert. Der damit einhergehende Verzicht auf die Nähe zu den Menschen stellt natürlich einen Verlust dar, den Viele gerne aus der Welt schaffen möchten. Genau dies ist nicht die Intention seelsorglicher Abstinenz. Sie erweist sich gerade dann als heilsam, wenn Seelsorger*innen dem Impuls zur Wiederherstellung des Gewohnten und des schon immer Praktizierten widerstehen.
Die Erfahrung des Getrenntseins zulassen.
Einer abstinenzgeleiteten Seelsorge geht es nicht darum, die Verluste, die wir gegenwärtig erleiden, möglichst schnell wieder zu heilen. Ihr ist vielmehr daran gelegen, dass sich alle Beteiligten auf die Wirkung des Verlustes als eine Erfahrung des ganz und gar Anderen einlassen und daraus dann eine der Situation angemessene, neue Praxis entwickeln. Das ist ein echtes Wagnis und eine große Herausforderung.
Der Ostermorgen – ein Moment der Abstinenz
Die biblische Ur-Kunde bietet hierzu ein Praxismodell an. Der „gründende Verlust“ des Ostermorgens (Michel de Certeau), an dem die Frauen am leeren Grab zunächst nicht mehr ein noch aus wussten, kann zum Leitmotiv gegenwärtiger Seelsorge werden. Mit dem leeren Grab und der Abwesenheit des dort Gesuchten konfrontiert, verfolgen die Frauen gerade nicht das Ziel, den auferstandenen Herrn schnellstmöglich wieder dort hineinzulegen und damit das Alte und Gewohnte, das was sie schon immer taten, zu praktizieren.
Sie lassen sich auf die Wirkung der ganz und gar neuen Erfahrung ein.
In ihrem Schrecken und Entsetzen, in ihrem Schweigen und in ihrer Flucht vom leeren Grab (Mk 16,8) lassen sie sich auf die Wirkung der für sie ganz und gar neuen Erfahrung der Abwesenheit des Auferstandenen ein[5]. Gegenüber dem Impuls, den Verlust rückgängig zu machen, verhalten sie sich – gottlob – abstinent. Der Moment der Abstinenz am Grab ist konstitutiv für das, was dann alsbald die Kirche werden soll.
In der Abstinenz Beziehung gestalten
Im gesellschaftlichen und kirchlichen Leben, wie auch in der Seelsorge, stehen wir derzeit vor großen Verlusten. Die sonst so gewohnte Nähe zueinander ist uns abhandengekommen. Dies fordert gerade in der Seelsorge die kreative Handhabung von Abstinenz. Für mich heißt das, den Verlust von bisher gewohnten und bewährten seelsorglichen Handlungsmöglichkeiten zuzulassen, auszuhalten und in der Dynamik von Bindung und Trennung, Nähe und Distanz situationsangemessen zu handeln. Die amerikanische Psychoanalytikerin Darlene Ehrenberg beschreibt die analytische Situation als „Begegnung an der intimen Grenze der Beziehung“. Dort gelte es, so Ehrenberg, optimale Nähe bei gleichzeitig maximaler Abgrenzung zu gestalten. Sie vertraut der Wirkmacht dieser Dynamik[6]. Die derzeitige Situation fordert Seelsorger*innen dazu heraus, der Abgrenzung Raum zu geben – Abstinenz zu wagen . Für manchen Seelsorger mag dies neu sein. Aber es ist lebenswichtig!
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PD Dr. Wolfgang Reuter ist Seelsorger für Menschen mit psychischer Erkrankung. Leiter der Klinikseelsorge am LVR-Klinikum, Kliniken der Heinrich-Heine-Universität. Bis 2018 war er Professor für Pastoralpsychologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Psychoanalytiker in eigener Praxis.
Bild: Stephen Rahn / StockSnap
[1] Andreas Odenthal, Stellvertretender Lobgesang – Zu Gottesdiensten in der Coronakrise, 1.4.2020 https://www.kirche-und-leben.de/artikel/stellvertretender-lobgesang-zu-gottesdiensten-in-der-corona-krise/.
[2] Vgl. Evelyn Finger und Ulrich Ladurner, Diese Priester starben am Coronavirus in: DIE ZEIT Nr. 14, 26. März 2020 https://www.zeit.de/2020/14/italien-priester-coronavirus-infizierte-tote-vorbilder
[3] Vgl. Wolfgang Reuter, Relationale Seelsorge in: Uta Pohl-Patalong / Antonia Lüdtke (Hg.), Seelsorge im Plural. Ansätze und Perspektiven für die Praxis, Berlin2 2019, 92-105. Ders., Heilsame Seelsorge. Ein psychoanalytisch orientierter Entwurf von Seelsorge mit psychisch Kranken, Münster 2004.
[4] Sigmund Freud, Wege der psychoanalytischen Therapie in: GW XII, 183-194, 187. Vgl. Jürgen Körner, Artikel: Abstinenz; in: W. Mertens, B. Waldvogel (Hg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart 2008, 1-6.
[5] Vgl. Michel de Certeau, Mystische Fabel, Berlin 2010 (Paris 1982), 8.
[6] Darlene Ehrenberg, Jenseits der Wörter, 51-67, Stuttgart 1976.
Von Wolfgang Reuter bisher auf feinschwarz.net erschienen:
Kirche im Missbrauchsstrudel – Beziehungstrauma und traumatisches Milieu
Brief-Geheimnis. Das Schreiben des Papstes an das Volk Gottes zwischen den Zeilen gelesen