Die groß angelegte deutsche „Seelsorgestudie“ wird kontrovers diskutiert. Mit einem kritischem Blick auf Wiener Forschungsergebnisse schaltet sich Paul Weß in die Debatte ein.
In den Jahren 2012–2014 wurde in 22 der 27 deutschen Diözesen eine „Seelsorgestudie“ als „Befragung zur Lebens- und Berufssituation von Priestern, Diakonen und Laien im hauptberuflichen pastoralen Dienst in Zeiten kirchlichen Wandels“ durchgeführt, deren Ergebnisse Mitte April 2015 zum Teil vorgestellt wurden. Sie erreichte nach damaliger Angabe eine Rücklaufquote von 42 Prozent, die für „ausgesprochen zufriedenstellend und ‚tragfähig‘“ erklärt wurde. „Bei den Priestern überraschend gut repräsentiert“ war laut dem Bericht „die Gruppe der älteren und alten Priester (‚Pensionäre‘)“ (vgl. „Überraschend zufrieden bei knappen Ressourcen“ in: Herder Korres-pondenz 2015/6/22–26; hier 22).
2016 wurden dieselben Fragen auch 1361 SeelsorgerInnen in der Erzdiözese Wien gestellt, ergänzt um einige weitere zu dem hier laufenden „Diözesanen Entwicklungsprozess“ mit seinen „drei Dimensionen: Durch Mission in die Breite wachsen / Durch Jüngerschaft in die Tiefe wachsen / Strukturen den aktuellen Erfordernissen entsprechend verändern“. Diese spezielle Erhebung, in der das Anliegen der größeren Breite durch Mission vor jenes der größeren Tiefe gestellt wurde, bezog sich auf die „Bildung von Seelsorgeräumen, Pfarrverbänden und so genannten ‚Pfarren Neu‘“, die derzeit – wie auch anderswo – in der Wiener Diözese im Gang und umstritten ist. Die Ergebnisse dieser Befragung wurden am 17. Februar 2017 in einem nicht medienöffentlichen Studientag in der Akademie der Wissenschaften in Wien, zu dem 400 Priester, Diakone und Laien im pastoralen Dienst gekommen waren und an dem auch Erzbischof und Kardinal Christoph Schönborn teilnahm, präsentiert und vom Leiter der Studie, Professor Christoph Jacobs von der Theologischen Hochschule in Paderborn, in 12 Thesen zusammengefasst (vgl. KATHPRESS-Infodienst Nr. 749, 24. Februar 2017, 2–8).
Haben Jüngere andere Sorgen?
In der Erzdiözese Wien haben – nach einem nochmaligen Aufruf des Kardinals – 55,5 Prozent der Befragten die Fragen beantwortet (im Bericht darüber wurde der Rücklauf in den beteiligten deutschen Diözesen mit 43,1% angegeben). Wie zuvor in Deutschland wurde auch hier vom Studienautor festgestellt, dass die Ergebnisse für alle Betroffenen repräsentativ seien, ohne dies genauer zu begründen. Es fällt schwer, dieser Meinung zu folgen, weil doch damit zu rechnen ist, dass die Nicht-Teilnehmenden nicht nur aus Zeitmangel, sondern auch oder vielleicht vor allem aus inhaltlichen Gründen nicht reagierten. Möglicherweise haben sie sich in ihren eigentlichen Problemen und Sorgen nicht angesprochen gefühlt oder konnten aus anderen Gründen mit den gestellten Fragen wenig anfangen. Wenn sich in Deutschland die älteren und alten Priester überdurchschnittlich beteiligt hatten, kann man doch die Ergebnisse nicht ohne Weiteres in gleicher Weise auf die jüngeren übertragen. Diese haben vielleicht andere Sorgen und Probleme als die in der Studie erfragten.
In Wien wiederum fiel der hohe Anteil an Ordenspriestern (35%; inkl. geistlicher Gemeinschaften: 42%) auf (laut „Thesenpapier zur Ergebnispräsentation der Seelsorgestudie in der Erzdiözese Wien“ von Prof. Dr. Christoph Jacobs). Legt das nicht die Vermutung nahe, dass viele Weltpriester die Fragen auch aus sachlichen Gründen nicht ausgefüllt haben, vielleicht weil sie mit ihrer Situation schwerer zurechtkommen und eigentlich keine Hilfe erwarten? Vermutlich wäre es sinnvoll, bei solchen Erhebungen am Ende noch die Frage „Warum wollten oder konnten Sie diesen Bogen nicht ausfüllen?“ zu stellen und auch hier mehrere Möglichkeiten einer Antwort anzugeben. Darauf könnte man im Begleitbrief zur Studie ausdrücklich hinweisen und die Nicht-Ausfüllenden ersuchen, zumindest darauf zu antworten und sie so zurückzusenden.
Wo blieb die Frage nach dem Glauben?
Es ist hier natürlich nicht möglich, die gestellten Fragen anzuführen. Sie betrafen die Spiritualität in ihren unterschiedlichen Formen, den Umgang mit Gefühlen und die Bereitschaft, anderen zu helfen, das geistliche Leben, die Beziehungen zu wichtigen Menschen, den Bereich der Sexualität und den Zölibat, die Zufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit, eine Beurteilung der Leitung in der eigenen Diözese und ausführlich den eigenen Gesundheitszustand sowie das persönliche Wohlergehen. Noch weniger können die Ergebnisse angegeben oder kommentiert werden, die auch nicht in den Details veröffentlicht wurden.
Folgende Kritik am Inhalt der Studie dürfte wohl berechtigt sein: In ihr wurden die heutigen Glaubensfragen und Glaubensnöte nicht thematisiert, sondern kam der Glaube nur indirekt in den Fragen zum Schwerpunkt „Spiritualität“ zur Sprache. Dort konnte man in einer sechsstufigen Skala zwischen „nie/fast nie“ und „mehrmals täglich“ zu folgenden Aspekten ankreuzen:
„Ich spüre Gottes Gegenwart.
Ich finde Kraft in meinem Glauben.
Ich fühle inneren Frieden.
Ich fühle mich Gott nahe.
Ich spüre Gottes Liebe.
Ich bin berührt von der Schöpfung.“
Glaube und Spiritualität sind jedoch nicht dasselbe. Verschiedene Arten von Glauben bis hin zum Glauben an die Wissenschaft und auch der Unglaube sind die Grundlage ganz verschiedener Arten von Spiritualität; die christliche baut auf den christlichen Glauben auf. Um diesen hätte es also zuerst gehen müssen. Denn wenn ich Zweifel habe, ob Gott überhaupt ist und ob er so ist, wie er in der Kirche unter Berufung auf die Bibel und das Lehramt verkündet wird, als „allmächtig“ usw., dann werde ich schwer die spirituellen Erfahrungen machen können, die hier genannt wurden. Solange ich etwa keine Antwort finde auf die Frage, wie sich das oft unfassbare Leid in der Welt – zu einem großen Teil ohne persönliche moralische Schuld der Menschen – mit dem Glauben an einen liebenden Gott in Einklang bringen lässt, werde ich diesen nicht verkünden können. Das belastet Seelsorger und Seelsorgerinnen dann nicht nur persönlich, sondern auch in ihrem Beruf. Wo wurden sie in der Seelsorgestudie danach gefragt? Daraus würde sich wohl einiger Reformbedarf auch in der kirchlichen Lehre über den Glauben und seine Begründung ergeben.
Nicht Struktur-, sondern Glaubensfragen
Obwohl viele Bischöfe durchaus mit Recht sagen, dass die entscheidenden Probleme der Kirche heute nicht in den Strukturfragen, sondern in den Glaubensfragen liegen, ziehen sie keine Folgerungen daraus. Eine könnte aber gerade darin liegen, die kirchlichen Strukturen so zu ändern, dass mehr „Orte des Glaubens“ als Erfahrungsräume entstehen können, wo der Glaube nicht nur einfach verkündet, sondern bezeugt wird und durch Begegnung vermittelt werden kann (vgl. Weß, Gemeindekirche – Ort des Glaubens. Die Praxis als Fundament und als Konsequenz der Theologie. Graz 1989).
Doch Prof. Jacobs schreibt in DIAKONIA 48 (2017), 4, im Rückblick auf die Befragung in Deutschland: „In großer Spannung zur hohen persönlichen Le-benszufriedenheit steht die große Unzufriedenheit mit dem Zustand der kirchlichen Organisation. […] 64% der Priester halten die Zukunftsstrategien ihrer Diözese für unklar. 60% haben kein positives Vertrauen, dass ihre Diözese die Zukunft meistern wird.“ Interessant ist auch seine Feststellung: „Um das Jahr 2035 wird das Verhältnis der Priester ‚über 65 Jahren‘ zu ‚unter 65 Jahren‘ ungefähr zwei Drittel zu ein Drittel betragen. Damit wird die Gruppe der alten Priester in einer neuen Weise für die Pastoral zugleich bedeutsam und herausfordernd: […] Das müsste m. E. zu einer Neubesinnung auf den Wert dieser Gruppe, zu einer Neubewertung ihrer Rolle und sogar zu einer Neubewertung dieser Art des Priesterseins führen.“ – Kann in einer solchen Vision die Zukunftsstrategie der Diözesen liegen? Was ist, wenn es einmal auch nur mehr wenige Priester über 65 Jahren gibt?
Rein psychologische Studie ohne Pastoraltheologie?
Der Autor schreibt im genannten DIAKONIA-Artikel zur Seelsorgestudie: „Die Motivation der ‚Forschungsgruppe Seelsorgestudie‘ ist pastoral- und gesundheitspsychologisch – nicht pastoraltheologisch oder dogmatisch. Es geht um Förderung von Gesundheit und Motivation im pastoralen Dienst“ (S. 2). – Kann eine rein psychologische Studie ohne Pastoraltheologie die Situation der Seelsorgenden, also der die Pastoraltheologie Praktizierenden, erforschen? Außerdem ist diese als ein Bereich der gesamten Theologie nicht von der Fundamentaltheologie und damit auch nicht von der Dogmatik zu trennen, setzt diese sogar als grundlegend voraus. Man hätte also ebenfalls und sogar primär erkunden müssen, wie es den Seelsorgerinnen und Seelsorgerinnen in diesen Themen und damit in den Fragen des Glaubens geht.
Kann die Krise durch Mission überwunden werden?
Dass in der Wiener Erhebung das Prinzip „Mission first“, ein Grundanliegen des Erzbischofs, nur von 40 Prozent der Befragten bejaht wurde, beunruhigte den Kardinal nicht; dabei bleibt offen, ob es nicht noch weniger gewesen wären, wenn alle geantwortet hätten. Gegen diesen Vorrang der „Breite durch Mission“ gegenüber einer größeren „Tiefe durch Jüngerschaft“ ist einzuwenden, dass Mission eigentlich nicht möglich ist, wenn sie nicht auch Orte nennen kann, wo das gelebt wird, was da verkündet wird; oder anders gesagt: In die Breite kann nur etwas wachsen, was schon da ist. Eine Mission durch Berufung auf die Bibel oder die Lehre der Kirche genügt heute nicht mehr, wenn deren Glaubwürdigkeit nicht durch entsprechende Praxis bezeugt wird. Daher müsste es primär darum gehen, Gemeinden zu bilden, in denen der Glaube in Liebe gelebt und wirksam wird, die anziehend wirken, und in die zu kommen man einladen kann (vgl. Paul Weß, Auf der Suche nach der Kirche der Zukunft, in „feinschwarz.net“, 26. April 2016). Dafür sind anonyme „Großpfarren“ und „Seelsorgeräume“ nicht geeignet. Um die Erhaltung oder noch mehr um die Bildung entsprechender Gemeinden müsste es also in neuen Seelsorgekonzepten zuerst gehen.
Gemeindemangel
Paul M. Zulehner hat dies nach der Befragung in Wien auch eingemahnt. Er fordert einen „Perspektivenwechsel vom Priester zur gläubigen Gemeinde“ und schreibt: „Doch wie geht es durchaus lebensfähigen Pfarrgemeinden dabei, wenn sie wegen fehlender Priester aufgelöst und zu Filialgemeinden umdefiniert (manche sagen: abgewertet) werden?“ Erst wer das gläubige Volk und die Gemeinden vorrangig im Blick hat, denke und handle im Sinn des Konzils ekklesial und nicht mehr klerikal. Daher „wäre zu hoffen, dass auf die Studie über die Zufriedenheit der Priester rasch eine Studie über die Zufriedenheit in den Pfarren, alt oder neu ist egal, erfolgt“. Als anderen Weg „statt der Bildung von Großräumen samt Auflösung von Pfarren“ schlägt Zulehner vor, „gemeindeerfahrene Personen auszubilden und zu ordinieren“ (KATHPRESS-Infodienst Nr. 749, 24. Februar 2017, 5f.).
Die Frage ist allerdings, wie viele der derzeitigen „Pfarrgemeinden“ schon geschwisterliche Gemeinden im Sinn des Neuen Testaments sind (vgl. Joh 13,34f) und sich in ihnen genügend geeignete Personen finden lassen und bereit erklären, diese Aufgabe zu übernehmen, ohne die Sorge haben zu müssen, für alles „letztverantwortlich“ zu sein und damit zum „Gemeindeersatz“ zu werden. Dennoch wäre es völlig falsch, nur auf Neubildungen von Gemeinden zu setzen; vielmehr ist es vor allem eine Herausforderung an die bestehenden Pfarreien, solche Gemeinden zu werden. Hier müsste ein Konzept für die zukünftige Pastoral in der Krise der traditionellen „Volkskirche“ und angesichts des damit verbundenen Priestermangels ansetzen. Eine Neustrukturierung in Seelsorgeräumen nach der Zahl der noch vorhandenen Priester ist da keine Lösung. Jetzt geht es in der Kirche um die Verwirklichung des Vorrangs des gemeinsamen Priestertums vor dem Amtspriestertum, aber als Voraussetzung dafür um die Bildung von Gemeinden, in denen Ersteres gelebt und wirksam werden kann.
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Bildquelle: Erzdiözese Wien