Erich Garhammer (Würzburg), ein ausgewiesener Experte im Dialog zwischen Theologie und Poesie, widmet dem großen Schweizer Literaten Thomas Hürlimann anlässlich seines 65. Geburtstags am 21.12. einen Beitrag, in dem er zentrale Momente seines Lebens und Schaffens darlegt.
Thomas Hürlimann, 1950 in Zug in der Schweiz geboren, wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet: dem Rauriser Literaturpreis (1982), dem Preis der Stiftung Bibel und Kultur (1992), dem Weilheimer Literaturpreis (1994), dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1997), dem Joseph-Breitbach-Preis (2001), dem Jean-Paul-Preis (2003), dem Thomas-Mann-Preis (2012), dem Hugo-Ball-Preis (2014) und 2015 dem Theaterpreis der Zentralschweiz.
Tod und Sterben
Seine Berufung zum Schriftsteller ist geprägt vom frühen Tod seines jüngeren Bruders. „Ich möchte mit seinen Augen die Welt betrachten“, das ist sein literarischer Antrieb. Freilich sperrt sich zunächst in ihm alles, über den Tod seines Bruders zu sprechen und zu schreiben. So verfremdet er seine Erfahrungen in die Erzählung „Die Tessinerin“.
Das Schwere ist zwar Schreibanlass, aber der Leser erfährt dabei Schönheit.
Martin Walser hat das Schreiben von Thomas Hürlimann „als Schwere mit Schwung“ bezeichnet. Es hat zwar das Schwere als Schreibanlass, aber der Leser erfahre dabei Satz für Satz Schönheit, obwohl Fürchterliches erzählt werde. In seiner Dankrede für den Weilheimer Literaturpreis sprach Hürlimann vom Sterben seines Bruders und von der Solidarität der Mitschüler: „Nein, den Tod konnten sie ihm nicht abnehmen. Sterben ist ein einsamer Gang – da wird ein Ich endgültig zu dem, was es ist, zum Individuum…Aber seine Maturaklasse ließ Matthias in diesen Karfreitags-Stunden nicht allein…Durch das, was sie in diesem Sterbezimmer erlebten, fanden sie ins eigene Leben.“
Auch seinem letzten Roman „Vierzig Rosen“ ist von Anfang an das Thema von Tod und Vergänglichkeit eingraviert: Marie bekommt vom Blumenboten 40 Rosen überreicht: „Dann umarmte sie das Bouquet und konnte leider nicht verhindern, daß ihr ein leichter, der Süße entfließender Fäkalgeruch in die Nase stieg …Sie hielt den Strauß etwas zur Seite und beobachtete, wie sich der Bote rückwärts davonmachte. Er trug eine schwarze Krawatte, und auf der Ladefläche des dreirädrigen Karrens lag ein Trauerkranz mit violetten Schleifen. Seine nächste Station war der Friedhof, wo um diese Zeit, wenn es zu herbsten begann, jeden Vormittag ein Begräbnis stattfand.“
Die katholische Sozialisation
Das Schreiben von Thomas Hürlimann ist geprägt von seiner katholischen Sozialisation und der klösterlichen Erziehung im Stift Maria Einsiedeln. In seiner Erinnerung „Meine katholische Kindheit“ hält er die sich abzeichnenden Brüche hellseherisch fest. Er beschreibt eine Fronleichnamsprozession, der Madonnenaltar ist an der Zuger Kantonalbank angebracht, von Laubbäumen flankiert, bald allerdings wird das Kapital die verehrte Devotionalie schlucken. Viele seiner Beschreibungen des Klosteralltags in seinem Roman „Der große Kater“ sind Detailstudien des kriselnden monastischen Milieus.
Hürlimann lässt seine Distanz zu dieser Erziehung spüren, er beschreibt den „Club der Atheisten“, dem man nur durch eine besondere Mutprobe beitreten durfte. Zu dieser Mutprobe zählte, während des Gottesdienstes, am besten bei der Wandlung, einen Papierflieger durch das Hl. Geist-Loch der Klosterkirche zu werfen, mit der Aufschrift eines Nietzsche-Zitats: „Religion ist der Wille zum Winterschlaf.“
es soll mir bitte niemand sagen, man könne mit Literatur nichts bewirken
„Die Zöglinge, die Präfekten, das Wallfahrtsvolk – alle schauten andächtig nach vorn, wo der Priester gerade die Hostie hob, hoc est corpus, das ist mein Leib. Der Papierflieger landete, und er schlug ein wie eine Bombe! Am nächsten Sonntag kam wieder ein Satz geflogen, wieder bestand ein Zögling die Aufnahme in den Atheistenclub, und es soll mir bitte niemand sagen, man könne mit Literatur nichts bewirken.“
Im Nachhinein ist Hürlimann bewusst geworden: die metaphysischen Antennen zappeln heute ins Leere, die Verwandlung in der Messe mutierte zur Veränderung: die Veränderung wird permanent eingefordert, aber nichts hat sich verwandelt: „Man trennt sich vom Partner, wechselt den Beruf, das Gesicht wird kosmetisch, die Seele psychologisch behandelt…Veränderungen, wohin man blickt, und nichts, gar nichts verwandelt sich.“
Ein großes Vermissen der Wandlung ist spürbar bei Thomas Hürlimann. In seinem Schreiben leistet er so etwas wie den Versuch einer narrativen Rettung des katholischen Kosmos. Mit „katholisch“ ist freilich keine Einschwörungsformel gemeint oder eine konfessionalistische Apologetik, sondern eher das Plädoyer für die Vielfalt, die Weite und das Abgründige.
Die Katze-das dissidente Tier
Die Katze mit ihrem funkelnden Augenpaar als Wiederverzauberung der Welt spielt im Werk von Hürlimann eine wichtige Rolle. Die Katze ist auch auf dem Deckengemälde in der Klosterkirche Maria Einsiedeln von den Gebrüdern Asam dargestellt worden – neben Judas, wie sie einen Teller ausleckt. Die Katze neben Judas, das dissidente Tier, die Katze, die auf der Arche Noah nicht erwähnt wird, für Hürlimann verkörpert sie das Vitale, das Unzähmbare, das Gegenteil der klösterlich angezielten „Vasenexistenz“. Der Name „Katzentisch“ kommt von Ketzertisch – Hürlimann ist in diesem Sinn ein Ketzer, der über die Katze das Ausgeschlossene, das Verdrängte an den Tisch holen will. Er vertritt einen dissidenten Katholizismus.
Nein, diese Menschen! Sie sind verrückt. Lärmverrückt.
Der Tod seines Bruders brachte ihn zum Erzählen. In der Zwischenzeit hat Thomas Hürlimann selber Erfahrungen mit dem eigenen Tod gemacht. Nach einem schweren operativen Eingriff musste er feststellen, dass ein wichtiger Teil von ihm im Spital zurückgeblieben war. Plötzlich fühlte er sich wie der auferweckte Lazarus, der wieder dem Lärm der Welt ausgesetzt war und Sehnsucht nach der Stille vorher hatte: „Nein, diese Menschen! Sie sind verrückt. Lärmverrückt. Alles, was sie tun, hat den einzigen Zweck, den Geräuschpegel in die Höhe zu jagen; Früchte verkaufen sie, um Preise ausrufen zu können; Auto fahren sie, weil sich die Hupe mit der Faust bearbeiten lässt; am Bartresen stehen sie, um die unablässig quäkenden TV-Apparate zu überschreien, und sollte mich je einer fragen, weshalb ich IHN dafür hasse, dass er mich zurückgeschrien hat ins Leben, würde ich ihm antworten: weil es drüben in der andern Welt so schön still war…und wo, außer in seinem Grab, könnte ich, der unfreiwillig Auferstandene, Ruhe finden?“ Hier haben wir sie wieder, die Schwere mit Schwung des unfreiwillig ins Leben Zurückgekehrten, dankbar zwar, aber sehnsüchtig nach Stille.
Literatur
Thomas Hürlimann, Die Tessinerin. Geschichten, Frankfurt a. M. 1984.
Thomas Hürlimann, Die Satellitenstadt. Geschichten, Frankfurt a. M. 1994.
Thomas Hürlimann, Das Holztheater. Geschichten und Gedanken am Rand, Zürich 1997.
Thomas Hürlimann, Der große Kater. Roman, Zürich 1998.
Thomas Hürlimann, Fräulein Stark. Novelle, Zürich 2001.
Thomas Hürlimann, Vierzig Rosen. Roman, Zürich 2006.
Thomas Hürlimann, Das Einsiedler Welttheater 2007, Zürich 2007.
Thomas Hürlimann, Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand, Zürich 2008.
„Das Unerhörte treibt mich an.“ Gespräch mit Thomas Hürlimann, in: Erich Garhammer (Hg.), Literatur im Fluss. Brücken zwischen Poesie und Religion, Regensburg 2014, 109-112.
Thomas Hürlimann, Kurze Story meiner Auferweckung, in: Die ZEIT 2015, Nr. 13, 58.
Thomas Hürlimann, Meine katholische Kindheit, in: NZZ Geschichte Nr. 2 (2015) 43-58.
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