Soll das „Fest der Beschneidung Jesu“ wieder eingeführt werden? Norbert Reck mahnt an, dass eine Wiedereinführung des Festes mehr bedeuten müsste als eine bloße Feier der Nähe des Christentums zum Judentum.
„Habt ihr Katholiken nicht gerade Wichtigeres zu tun?“ fragte ein Freund, als ich ihm erzählte, dass verschiedene katholische Theologen (keine Theologinnen) sich derzeit dafür stark machen, das abgeschaffte „Fest der Beschneidung des Herrn“ wieder einzuführen. Auf den ersten Blick mutet das – mitten in einer veritablen Kirchenkrise – tatsächlich wie ein abseitiges Thema an; mir scheint aber, dass dabei nichts weniger als die Identität des Christentums verhandelt wird. Doch nicht alle Wortführer haben dabei dieselben Ziele.
Die Identität des Christentums verhandeln
Der Schweizer Jesuit Christian Rutishauser ist sicher der umtriebigste der Protagonisten. Zusammen mit Mitbrüdern und Kollegen reichte er schon 2009 eine Petition für die Wiedereinführung des Fests bei Benedikt XVI. ein und übergab sie später erneut an Papst Franziskus. Er sieht in der Beschneidung Jesu ein wichtiges Moment, das an Jesu Judesein erinnert und Judentum und Christentum enger verbinden könnte. Das Fest der Beschneidung, das in der katholischen Kirche über Jahrhunderte am 1. Januar gefeiert wurde, könnte christlichen Gottesdienstbesuchern die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens deutlicher vor Augen führen.
Im Judentum symbolisiert die Beschneidung den Eintritt der männlichen Juden in den Bund mit Gott und weist so auch Christen auf eine Heilsgeschichte hin, die lange vor der Geburt Jesu ihren Anfang nahm. Der Theologe Paul Petzel sieht im Fest der Beschneidung darüber hinaus die Gelegenheit, die Unverfügbarkeit Jesu zu thematisieren: „Wir gehören ihm an, doch er gehört nicht uns.“
Die Unverfügbarkeit Jesu thematisieren
Würde das Fest wieder eingeführt, sei dies zudem, so meint der Wiener Dogmatikprofessor Jan-Heiner Tück, in einer Zeit des zunehmenden Antisemitismus „ein demonstrativer Akt der Solidarität mit den Juden heute“, die u. a. wegen der Beschneidung immer wieder Anfeindungen ausgesetzt seien. Im Kampf gegen die Pest des Antisemitismus müsse die Kirche darum, wie Patrik Schwarz in der ZEIT schrieb, „ihre stärkste Kraft“ ins Feld führen: „den Chef selber, Jesus Christus“.
Gewiss sind diese Ziele aller Ehren wert – aber können sie mithilfe des alten Beschneidungsfests auch tatsächlich erreicht werden? Das versteht sich keineswegs von selbst.
Das Judesein Jesu ist ja keine neue Entdeckung, die der christlichen Judenfeindschaft ein für alle Mal einen Riegel vorschöbe. Als 1523 Martin Luther seine Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei herausbrachte, war das für die Angehörigen des Judentums in den deutschen Landen nicht unbedingt eine gute Nachricht. Denn Luther warf ihnen vor, den Glauben ihrer Väter zu verraten, wenn sie sich weigerten, den Juden Jesus als den Sohn Gottes anzuerkennen. Aus dem Judesein Jesu ergab sich also mitnichten die Achtung aller Angehörigen des jüdischen Volks, sondern vielmehr die Einteilung in gute und schlechte Juden (wobei alle Juden, die nicht Christen wurden, zu den schlechten rechneten).
Die bloße Erinnerung an das Judesein Jesu garantiert noch nicht die Achtung aller Angehörigen des jüdischen Volks.
Als gut zweihundert Jahre später der Aufklärer Hermann Samuel Reimarus fast dieselben Worte über Jesus gebrauchte – »Uebrigens war er ein gebohrner Jude« – hatte das andere, aber keineswegs bessere Folgen, denn Reimarus fuhr fort: »und wollte es auch bleiben; er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen«.
So ging es plötzlich nicht mehr bloß um die ethnische Herkunft Jesu, sondern um seine Identität, an der er aus freiem Willen festhielt. Mit einem Mal lasen sich die Evangelien ganz anders: Jesus ging „nach seiner Gewohnheit am Schabbat in die Synagoge“ (Lk 4,16), hielt die Gebote der Tora für maßgeblich (Mt 5,17–18), pilgerte mehrmals zu Pessach und anderen Festen nach Jerusalem (Joh 3; 12; 5,1; 7,10; 10,22) und sah sich „nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24).
Das Judesein Jesu als Verunsicherung der Theologie
Für die christliche Theologie bedeutete das eine noch nie dagewesene Verunsicherung. Wie konnte ein bewusster und toratreuer Jude zugleich die Zentralgestalt des Christentums sein? Das ging nur, wenn man das Judesein des irdischen Jesus so weit wie irgend möglich ignorierte und stattdessen Christus als Gottmenschen und Überwinder des Judentums darstellte. Oder indem man behauptete, dass das Judentum „schon lange eine tote Religion“ (Friedrich Schleiermacher) sei und dass „die Juden des Gottesmordes schuldig“ (Joseph Kleutgen SJ) seien.
Somit reagierte ein Großteil der christlichen Theologie aller Konfessionen im 19. Jahrhundert auf das Judesein Jesu gerade nicht mit freudigem Zugehen auf die jüdische Geschwisterreligion, sondern mit einer erneuerten Kollektion judenfeindlicher Diskurse. Und in vergleichbarer Weise war auch das Fest der „Beschneidung des Herrn“ keineswegs ein Fest der guten Nachbarschaft mit dem Judentum. Wie Paul Petzel eindringlich gezeigt hat, verband sich mit dem Fest über weite Strecken eine judenfeindliche Sinngebung.
Über lange Zeit verband sich mit dem Fest „Beschneidung des Herrn“ eine judenfeindliche Sinngebung.
Das Blut, das bei der Beschneidung Jesu floss, sah man als Vorausdeutung des Kreuzestodes, also als Resultat eines Anschlags. Besonders in der Ikonografie entsprechender Szenen wurde es augenfällig: „Die Beschneidung wird zunehmend brutalisiert und im selben Zuge judenfeindlich zugespitzt. Das Messer gerät größer und größer, das Gesicht des Mohel zunehmend grimmiger und das Kind immer ängstlicher, wenn nicht gequälter“ (Petzel). Ritualmordlegenden entspannen sich in unmittelbarer Verbindung mit dem Narrativ.
Die Frage des Bibelwissenschaftlers Christoph Dohmen, ob die Schoa möglich gewesen wäre, „wenn wir Christen an jedem Weihnachtsfest uns daran erinnert hätten, dass Gott nicht nur Mensch geworden ist, sondern als Jude Mensch wurde“, lässt sich zumindest mit Blick auf das Beschneidungsfest klar beantworten: Die jahrhundertealte liturgische Erinnerung an den beschnittenen Juden Jesus hat weder Pogrome, Vertreibungen noch die Schoa verhindert.
Warum das Fest 1960 abgeschafft wurde (nicht 1969 im Zuge der Liturgiereform des II. Vaticanums, wie Patrik Schwarz mit antikonziliarem Zungenschlag behauptet), ist unklar. Es mag als „zu historisierend“ empfunden worden sein, wie Christian Rutishauser vermutet; man könnte aber auch denken, dass es nach der Schoa untragbar geworden war.
1960 war ja zugleich das Jahr, in dem die Streichung der Formulierung von den „treulosen Juden“ in der Karfreitagsliturgie durch Papst Johannes XXIII. für alle Kirchen verbindlich wurde. Mit Sicherheit wurde damals kein Fest der Freundschaft mit dem Judentum mutwillig preisgegeben. Denn ein solches gab es nicht.
Warum das Fest 1960 abgeschafft wurde, ist unklar.
Klar ist, dass die Wiedereinführung des Fests nicht per se Gutes mit sich bringt. Die Hinweise auf das Judesein Jesu und auf seine Beschneidung führen nicht zwingend dazu, dem Judentum mit Respekt zu begegnen. Man kann auch heute, als wäre nichts geschehen, von der „Umstiftung des Sinai-Bundes in den neuen Bund im Blute Jesu“ reden und die Juden, die den Jesus-Bund ablehnen, des Bundesbruchs zeihen, wie das Joseph Ratzinger letzten Sommer in der Zeitschrift „Communio“ getan hat, deren Schriftleiter Jan-Heiner Tück ist. Feierte man in diesem Sinne den beschnittenen Juden Jesus, wäre nichts gewonnen, sondern lediglich der furchtbare alte Suprematieanspruch des Christentums erneuert.
Alles hängt davon ab, ob man Jesu Judesein im Sinne einer ethnischen Herkunft oder im Sinne einer Identität versteht. Hält man sich an Ersteres, bleibt man im ethnisch-rassistischen Denken befangen, das stolz darauf ist, wenn es sagen kann: „Einige meiner besten Freunde sind Juden.“ Der biblische Befund dagegen unterstützt, wie weiter oben schon angedeutet, Letzteres: Jesus war Jude, wollte auch nie etwas anderes sein, brach die Tora nicht und hatte auch nicht die Absicht, das Judentum zu „überwinden“.
Das bringt aber für die christliche Theologie eine Menge anspruchsvoller Fragen mit sich: Wenn Jesus von Nazaret die Tora lehrte und das Heil für die Menschen in der Nächstenliebe und in der Liebe zum Gott Israels sah – wie müsste dann eine Christologie aussehen, die Israel nicht des Bundesbruchs bezichtigt und das Judentum nicht als „heillos“ herabwürdigt?
Wie müsste eine Christologie aussehen, die Israel nicht des Bundesbruches bezichtigt?
Mit Sicherheit reicht es nicht, die „liturgische Partitur“ des Beschneidungsfests „von antijudaistischen Überbietungsspuren“ zu reinigen, wie Tück meint. Petzel und Rutishauser zeigen in ihren Arbeiten deutlich, dass hier mehr zu tun ist, wenn solch ein Beschneidungsfest nicht in den Verdacht geraten soll, dass die Christen damit vornehmlich sich selbst und ihre behauptete neue Nähe zum Judentum feiern wollen.
Und wenn es wirklich um einen „Akt der Solidarität mit den Juden heute“ (Tück) gehen soll, dann könnte es nicht schaden, sich für die Bedeutung, die die Beschneidung im Judentum der Gegenwart hat, zu interessieren. Nicht erst seit der Frankfurter Beschneidungskontroverse von 1843 zwischen BefürworterInnen einer Reform und VerteidigerInnen der Tradition gibt es im Judentum dazu eine Bandbreite von verschiedenen Positionen – auch von Frauen, die zu den 52 Prozent im Judentum gehören, die nicht beschnitten sind. Sie wahrzunehmen könnte der katholischen Diskussion, die derzeit ausschließlich von Männern geführt wird, guttun.
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Norbert Reck ist katholischer Theologe, freier Autor und Übersetzer. Im September erscheint sein neues Buch „Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums“ im Grünewald-Verlag.
Bild: Circumcision of Christ, detail from Twelve Apostles Altar (Zwölf-Boten-Altar). Painting by Friedrich Herlin of Nördlingen, 1466. Rothenburg ob der Tauber.
Literatur:
Paul Petzel, … dass ein beschnittener Jude unser Herr ist … Anmerkungen zu einem erneuerten Fest In Circumcisione Domini, in: Florian Bruckmann – René Dausner (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Gespräche zwischen christlicher Theologie und jüdischem Denken, Paderborn u. a. 2013, 659–684
Joseph Ratzinger, Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat „De Judaeis“, in: Communio 47 (2018), 387–406.
Christian Rutishauser, Das Fest der Beschneidung Jesu – ein Plädoyer für dessen Rückgewinnung, in: ders., Christlichen Glauben denken. Im Dialog mit der jüdischen Tradition, Münster 2016, 233-248.
Patrik Schwarz, Was Papst und Kirche am 1. Januar verpasst haben, in: Die Zeit, Nr. 3, 10. Januar 2018, Beilage „Christ und Welt“, 1–2.
Jan-Heiner Tück, Beschneidung des Herrn. Warum Papst Franziskus eine Lücke in der katholischen Gedenkkultur schließen sollte, in: Communio 48 (2019), 216–230.