Wieviel bin ich mir selbst wert? Wieso ist Selbstliebe für den Menschen wichtig und wieso ist sie keine rein private Angelegenheit? Benedikt Schmidt plädiert für eine Ethik der Selbstliebe und zeigt, welche Rolle öffentliche Vorbildgestalten für diese spielen.
Jeder Mensch will glücklich sein. Viele sind es nicht. Der Weg zum eigenen Glück erfordert persönliche Anstrengung. Dafür ist es erforderlich, zu wissen, wer man ist, was man will, was einem wichtig ist – und natürlich auch, was einen daran hindert, endlich man selbst werden zu können. Die Suche nach dem Selbst ist motiviert von der Sorge um das eigene Glück. Wer sich nicht darum sorgt, muss mit den Konsequenzen leben. Denn schließlich gibt es nichts, was mehr in den Raum des Privaten gehört als die Beziehung zu sich selbst.
Dies ist die Standardauffassung, wie sie in Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur weit verbreitet ist. Unter dem Titel der „Selbstliebe“ versprechen sie Unterstützung bei der Suche nach dem Selbst als Weg zum privaten Glück.[1] Ihre Popularität spricht dafür, dass auf Seiten der Nachfrage eine ähnliche Einschätzung geteilt wird. Dies ist das „liberale Grunddogma“ gegenwärtiger Alltagsmoral: Thema der Ethik ist die Sicherung friedlicher und mehr oder minder gleicher Koexistenz von Räumen privater Freiheiten.[2] Was in diesen Räumen jedoch geschieht, ist kein Gegenstand öffentlicher Diskussion. Die Frage gelingenden Selbstbezugs wandert aus dem Feld der Ethik aus in das von Lebenshilfe und Psychologie; in der Terminologie Theologischer Ethik ausgedrückt: Nächsten- nicht aber Selbstliebe ist ein ethischer Begriff; zumindest innerhalb der liberalen Rahmenvorstellung.
Die Frage gelingenden Selbstbezugs wandert aus dem Feld der Ethik in das von Lebenshilfe und Psychologie.
Unstrittig ist, dass für einen glückenden Selbstbezug eine Haltung von Selbstannahme erforderlich ist. Eine Person, die nichts oder nur wenig an sich wertvoll findet, hat zweifelsohne ein Problem mit ihrer Selbstliebe. Inwiefern sich Selbstwertschätzung nicht nur auf einzelne Aspekte (Leistungen, Eigenschaften oder andere Merkmale), sondern auf die ganze Existenz beziehen kann bzw. sollte, sei einmal dahingestellt. Unangemessen erscheint es uns jedoch, wenn eine Person behauptet, alles an ihr müsse wertgeschätzt werden. Ihr jetziges Sein, sei bereits perfekt. Eine derartige Haltung wird gemeinhin als Narzissmus bezeichnet.[3]
Wir können festhalten: Ein gelingender Selbstbezug hängt maßgeblich von einer Haltung der Selbstannahme ab, die auf Formen der Wertschätzung beruht. Diese wiederum sind irgendwo auf einem Spektrum zwischen radikaler Selbstablehnung und unkritischer Selbstaffirmation angesiedelt. Soviel zunächst zur Suche nach dem Selbst. Kommen wir nun zu den besonderen Personen des öffentlichen Leben, also „großen Persönlichkeiten“.
Ein gelingender Selbstbezug hängt maßgeblich von einer Haltung der Selbstannahme ab, die auf Formen der Wertschätzung beruht.
Derzeit erlebt die Weltpolitik eine Wiederkehr „großer Persönlichkeiten“. Was hier „groß“ heißt, darüber lässt sich natürlich streiten. Führungsstärke, Entscheidungsfreudigkeit, Tatendrang und Visionskraft spielen in das als attraktiv empfundene Profil mit hinein. Wer ihnen hingegen ablehnend gegenübersteht, wird von Kompromiss- und Rücksichtslosigkeit, Machtgehabe und Machismus sprechen. Ob wir die Personen als anziehend oder abstoßend empfinden, hängt damit zusammen, welche Idealgestalten wir vor Augen haben. Wie schauen unsere Identifikationsfiguren aus, die die Werte verkörpern, die wir für maßgeblich halten? Natürlich sind das nicht allein persönliche Vorstellungen, sondern es handelt sich um sozio-kulturell vermittelte Leitbilder. Was sind die in unserer Gesellschaft reproduzierten Vorbildtypen:[4] Die Wissenschaftlerin, der Mächtige, die Athletin, der Eremit, die Intellektuelle, der Müßiggänger, die Managerin, der Entertainer, die Influencerin, der Tugendhafte, die Künstlerin, der Arbeiter, die Vermögende…?
Wie schauen unsere Identifikationsfiguren aus?
Ein Blick auf die herrschenden Vorbildtypen zeigt, was gesellschaftlich wertgeschätzt wird. Sie markieren den Raum sozial angebotener Wertschätzungen. Sozial angebotene Wertschätzungen stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen Individuen für ihre Eigenschaften, Leistungen, Wünsche und Ziele Anerkennung durch andere erwarten dürfen – oder eben nicht. Wer sich vor allem als Athletin sieht, wird in einer Gesellschaft, in der körperliche Ertüchtigung einen niedrigen Stellenwert hat, wenig Resonanz erwarten dürfen; ganz anders hingegen, wenn Leistungssport einen wichtigen Platz im öffentlichen Bewusstsein hat. Das bedeutet – um im Bild zu bleiben – natürlich nicht, dass eine entsprechende Gesellschaft nur aus Athletinnen und Athleten bestünde, aber ihr Idealtypus muss als Wert an sich präsent sein. Nicht alle können und müssen Mutter Teresa sein. Aber Mutter Teresa ist nur dann eine moderne Heilige, wenn das Idealbild tätiger Nächstenliebe einen gesellschaftlich anerkannten Wert darstellt. Persönlichkeiten haben eine gute Aussicht als groß zu gelten, wenn sie idealtypisch für Werte stehen, die allgemeine Wertschätzung erwarten dürfen. Was nun konkret als wertschätzenswert gilt, das unterliegt öffentlichen Aushandlungsprozessen.
Im Feld der Wertschätzungen durchdringen sich die Sphäre des Privaten und Öffentlichen
Infrage steht folglich: Welche Wertschätzungen werden gesellschaftlich angeboten? Welche sind für einen selbst wichtig? Und zu welcher Deckung können private und öffentliche Wertschätzungsweisen gebracht werden, sodass Selbstannahme möglich wird? Im Feld der Wertschätzungen durchdringen sich die Sphäre des Privaten und Öffentlichen.[5] Die beiden zentralen ethischen Fragen lauten: Wie kann eine Gesellschaft für die unterschiedlichen Lebensweisen Räume der Resonanz eröffnen, sodass diverse Möglichkeiten der (Selbst-)Wertschätzung eröffnet werden? Welche Auswirkungen haben die individuellen Lebensweisen auf das soziale Miteinander? Dem entspricht ein doppeltes Anforderungsprofil an gesellschaftlich vermittelte Wertschätzungen: Sie müssen erstens möglichst vielen Personen in ihrer Unterschiedlichkeit die Möglichkeit zu einem glücklichen Leben ermöglichen. Und sie müssen zweitens für das soziale Miteinander zuträglich sein. Wird letzteres nicht hinreichend beachtet, kann es passieren, dass manche Persönlichkeit als groß auf Kosten vieler Kleinen gelten darf.
Wer gilt in einer Gesellschaft als „große Persönlichkeit“?
Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wie die Räume der Wertschätzung unserer Gesellschaft strukturiert sind: Stehen sie prinzipiell allen offen, oder nur wenigen? Sind sie faktisch realisierbar, oder haben sie für die überwiegende Mehrheit utopischen Charakter? Müssen sie erarbeitet bzw. erkämpft werden, oder gibt es Strukturen automatischer Teilhabe? Sind sie stärker kompetitiv oder kooperativ? Favorisieren sie selbst erbrachte Leistungen oder zufällige Eigenschaften? Richten sie sich stärker auf materielle oder immaterielle Güter? Fokussieren sie stärker auf Prozesse der Verbesserung oder auf erreichte Zustände? Genügen sie ethischen Kriterien oder nicht?
Das aus den Wertschätzungsmöglichkeiten resultierende Profil einer Gesellschaft ist zugleich beides: öffentlich und privat. Es ist von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Gestaltungsoptionen des eigenen Lebens und des öffentlichen Miteinanders. „Große Persönlichkeiten“ prägen das Profil der Wertschätzungen, sind ihrerseits aber auch Profiteure eines Profils, das sie hat groß werden lassen. Der Umgang mit diesem Profil ist eine genuin ethische Thematik. Denn weder ist es gott- noch naturgegeben. Seine Gestaltung ist der menschlichen Verantwortung anheimgestellt. Die Frage, welches Profil unsere gesellschaftlich vorherrschenden Wertungsweisen aufweisen soll, ist keineswegs harmlos, sondern ihre Antwort hat weitreichende Konsequenzen für die Gestaltungsmöglichkeiten unseres privaten wie öffentlichen Lebens. Anzunehmen, die Frage des Selbstbezugs wäre eine rein private Angelegenheit, ist naiv, und zugleich ein gängiges liberales Missverständnis, das persönliches Gelingen oder Scheitern auf eine Weise individualisiert, die soziale Verantwortungs- und Bedingungsverhältnisse möglicher Selbstannahme abblendet.
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[1] Eine Zusammenfassung der Ratgeberliteratur findet sich in Benedikt Schmidt, Ethik der Selbstliebe. Panorama – Typologie – Konzept, Baden-Baden 2024, 20-31.
[2] Vgl. Beate Rössler, Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben, Frankfurt 2023, 35-37.
[3] Zur Selbstannahme als Dimension von Selbstliebe vgl. Schmidt, Selbstliebe (wie Anm. 1), 698-702.
[4] Vgl. Max Scheler, Vorbilder und Führer, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Schriften aus dem Nachlass, Bd. I, Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. von Manfred Frings, Bonn ³1986, 255-344.
[5] Zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit vgl. Katharina Ebner, Das Recht auf Vergessenwerden und seine Bedeutung für die autonome Lebensführung, in: Thomas Brandecker u.a. (Hgg.), Theologische Ethik auf Augenhöhe, Freiburg u.a. 2021, 284-294, hier 287-291.
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Benedikt Schmidt ist Juniorprofessor für Theologische Ethik am IKT der Humboldt-Universität; zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die „Ethik der Selbstliebe“: https://www.youtube.com/watch?v=G91hj2Jvwq4