Sexualerziehung, besonders als obligatorische in der Schule, gibt immer wieder Anlass zu erbitterten Diskussionen. So wendet sich die Volksinitiative „Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule“ gegen eine schulische Sexualerziehung vor dem 9. Lebensjahr. Befürchtet wird die Verführung zu frühzeitiger sexueller Aktivität und schwindendes Schambewusstsein. Viele unterstützen diese Initiative aus religiösen Gründen. Von Monika Jakobs.
In den meisten Religionen und Glaubensrichtungen wird Sexualität in irgendeiner Weise bewertet und geregelt: sexuelle Orientierung, Geschlechtsrollen, sexuelle Praktiken, weiblicher Zyklus, Empfängnis. Je konservativer eine Religion, desto stärker wird auf Heterosexualität, auf Restriktion des Geschlechtsverkehrs innerhalb der Ehe, auf der Einschränkung von Empfängnisverhütung und auf strikten Geschlechtsrollen zwischen Mann und Frau beharrt. Die katholische Sexualmoral muss hier als Beispiel immer wieder herhalten. Gleichzeitig sind die sexuellen Normen, ihr Zusammenhang mit Körperfeindlichkeit und mit dem Bild der Frau immer wieder heftig diskutiert worden. Die neuesten kirchlichen Umfragen haben zudem ergeben, dass die Durchsetzungskraft dieser Sexualmoral sehr gering ist.
Kosten restriktiver Sexualmoral: Körperfeindlichkeit und Sprachlosigkeit
Trotzdem sind die Kosten der restriktiven Sexualmoral hoch: Körperfeindlichkeit und Sprachlosigkeit in sexuellen Belangen. Darauf hat eindringlich der Jesuit Klaus Mertes bei der Aufdeckung der Missbrauchsskandale hingewiesen. Sprachlosigkeit verhindert eine hilfreiche Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und es schwächt Opfer von sexueller Gewalt, wenn sie das Erlebte nicht artikulieren können.
Schamhaftigkeit und Keuschheit werden im 19. Jahrhundert zu den Schlüsselwörtern katholischer Sexualmoral; Unkeuschheit gilt als Verstoß gegen das sechste Gebot. Konsequenterweise zieht dies ein Regime des Verbietens und Verdrängens von Sexualität mit sich. Noch in der reformkatechetischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts findet man Beispiele von Lehrgeschichten für Kinder, in denen Unkeuschheit als der Blick auf das nackte Brüderchen veranschaulicht wird.
Sexualität wird verherrlicht und gleichzeitig dämonisiert.
Das schamhafte Wegschauen gilt als ideale Reaktion, das Sprechen über das Gesehene jedoch als Verstärkung der Verfehlung. Die Tabuisierung von Sexualität führt zu ihrer Mythologisierung. Sie hat zwei Seiten: Sexualität wird verherrlicht, masslos überschätzt und gleichzeitig dämonisiert. Dämonisiert wird Sexualität auch in einer Rhetorik, welche kindliche Unschuld durch frühzeitiges Sprechen über Sexualität gefährdet sieht und wo sexuelle Freizügigkeit Jugendliche auf immer verdirbt. Wie viel und welche Sexualerziehung brauchen also Kinder und Jugendliche?
Schon im Kindergarten und in der Primarstufe ist kindliche Sexualität präsent: in ihrem Interesse am Körper und an der Fortpflanzung, gelegentlich aber auch in aggressiver sexueller Rhetorik oder gar Übergriffen unter Gleichaltrigen, letztere oft als Nachahmung von erlebten Verhaltensweisen und ohne Verständnis von Sexualität. Auch hier erweist sich Verdrängen und Negieren als ungeeignetes Mittel. Aus kindlicher Sicht ist das Erforschen des eigenen Körpers und die Frage danach, wo die Kinder herkommen Teil der Aneignung der Welt. Das Thema ist per se nichts Besonderes. In dieser frühen Phase geht es darum, dass die Kinder den eigenen Körper kennenlernen können. Aktivitäten wie körperbetonte Spiele und Austoben sind dabei ein wichtiger Erfahrungsraum. Sie lernen ihre eigenen Grenzen kennen, können angenehme von unangenehmen Berührungen zu unterscheiden, lernen Grenzen zu setzen und die Grenzsetzungen anderer zu respektieren.
Es handelt sich hierbei noch nicht um Sexualerziehung im engeren Sinne, sondern um die Schaffung der notwendigen Basis von Selbstvertrauen und Selbstwahrnehmung, die dazu beiträgt, sich in der Gruppe behaupten zu können. Gleichzeitig muss sich eine selbstverständliche, nicht-dramatisierende Sprachfähigkeit entwickeln. Wenn Kinder spontane Fragen haben, verdienen sie eine alters- und sachgerechte Antwort. Selbstverständlich lernen sie, alle Körperteile zu benennen. Die Sprachfähigkeit ist ein wichtiges Instrument des Selbstschutzes. Unwissen in diesem Bereich schwächt sie und macht sie anfälliger für Übergriffe.
In der Adoleszenz gewinnt die Sexualität aufgrund der körperlichen und psychischen Veränderungen eine besondere Brisanz. Es gehört zu den Entwicklungsaufgaben Heranwachsender, ihre eigene, auch geschlechtliche Identität zu finden und prinzipiell zu Paarbeziehungen fähig zu werden. Beide Aufgaben haben mit Sexualität zu tun, gehen aber darüber hinaus. Sie sind verbunden mit der Ablösung von der kindlichen Identität und von der elterlichen Einflussnahme, und zielen auf Erlangung innerer Unabhängigkeit einerseits und dem Aufbau eigenständiger Beziehungen andererseits. Gleichaltrige Freundschaften werden wichtig. Sie sind gleichzeitig Experimentierfeld für ein neues Bewusstsein von dem, was man ist und was man sein will. Die Inszenierung des Körpers durch Kleidung, Haltung, Schmuck etc. wird zum Ausdrucksmedium dieser Identitätsfindung, die in der aufregenden Spannung zwischen dem Streben nach Einzigartigkeit und dem Bedürfnis nach Normalität steht.
Für Jugendliche, die den herrschenden Attraktivitätsvorstellungen nicht genügen oder von der heterosexuellen Norm abweichen, ist dieser Prozess besonders anspruchsvoll. Es trifft übrigens nicht zu, dass die Jugend immer „frühreifer“ wird. Empirischen Befunden zufolge haben 2/3 – 3/4 der 18jährigen sexuelle Erfahrungen, meistens innerhalb einer festen Beziehung. Dieser Wert hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht verändert. Verändert hat sich jedoch dank des Internets die Zugänglichkeit zu sexuellen und pornographischen Darstellungen. Heute braucht man keine Unterwäschekataloge mehr, um Sexualität zu erkunden.
Jugendlichen beanspruchen ein traditionelles Bild von partnerschaftlicher Sexualität.
Das Angebot im Internet kann jedoch durchaus fragwürdig oder sogar schädlich sein: sexistisch, herabwürdigend, gewaltsam oder Sexualität mit Kindern darstellen. Fast alle Jungen und ungefähr die Hälfte der Mädchen haben solche Darstellungen schon freiwillig oder zufällig gesehen. Allerdings scheint es so zu sein, dass die Jugendlichen die Informationen aus dem Internet gut einordnen können; sie können einschätzen, was realistisch ist und was nicht und sie haben genaue Vorstellungen darüber, was sie moralisch akzeptabel finden. Die Untersuchungen zeigen überraschenderweise, dass die Jugendlichen für sich ein traditionelles Bild von partnerschaftlicher Sexualität beanspruchen.
Natürlich kann der Internetkonsum bei biografischer Vorbelastung oder bei suchtähnlicher Häufigkeit auch problematisch oder krankhaft werden. Dahinter verbirgt sich meist eine komplexere Problemlage, die über die Sexualität hinausgeht. Wirklich neue Probleme ergeben sich durch sexuelle Belästigung über das Internet, besonders für Mädchen. Dies steht in engem Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellung im Netz und sollte Thema auch von Medienerziehung sein. Erstaunlicherweise führt die Zugänglichkeit zum Internet nicht zu ausreichendem Wissen über biologische und medizinische Aspekte der Sexualität. Dabei sind Jungen in der Regel schlechter aufgeklärt als Mädchen, für die ihre Mütter eine wichtige Informationsquelle sind. Die Schule hat hier die wichtige Aufgabe, das notwendige und korrekte Wissen zu vermitteln.
Sexualität als Quelle von Lebensfreude und Lust
Daneben ist eine orientierende Erziehung notwendig, die an den Fragen und Problemen der Jugendlichen ansetzt. Dabei darf Sexualität nicht nur als potentielles Problem, sondern als Quelle von Lebensfreude und Lust angesehen werden. Die Schule wird vielleicht damit überfordert sein, ein positives Verhältnis zum eigenen Körper zu unterstützen; hier haben Sportvereine oder Angebote der Jugendarbeit bessere Möglichkeiten.
Sexualerziehung hat grundlegend drei Zielrichtungen:
- die Stärkung von Kindern und Jugendlichen gegen Übergriffe durch die Ausbildung eines guten Körpergefühls durch Einübung der Wahrnehmung von Grenzen durch ausreichende Sachkenntnisse und angemessene Sprache für Sexualität
- Unterstützung bei der Findung sexueller Identität durch Einübung in Beziehungsfähigkeit und Kommunikation durch Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und Angeboten durch Akzeptanz des/der Jugendlichen in schwierigen Phasen
- Wahrnehmung von Verantwortung in der Sexualität durch Einübung von Respekt gegenüber anderen durch Wissen über Gesundheitsrisiken und Empfängnis durch Auseinandersetzung mit konkurrierenden moralischen Normen durch die Entwicklung einer eigenen moralischen Position
Opferhilfestellen weisen immer wieder darauf hin, dass intellektuell schwächere, psychisch angeschlagene, mit Handicaps lebende Menschen leicht zu Opfern sexueller Übergriffe werden. Hier ist nicht die Sexualerziehung gefragt, sondern besondere Aufmerksamkeit und Schutzmaßnahmen in entsprechenden Einrichtungen. Ideal ist, wenn Sexualerziehung schon in der Familie stattfindet, wenn Eltern als Gesprächspartner und Auskunftspersonen zur Verfügung stehen. Die Erfahrung liebevoller Beziehungen der Eltern untereinander, die Erfahrungen offener und vertrauensvoller Kommunikation stärkt auch das Kind. Doch nicht alle Kinder sind in dieser glücklichen Lage, sei es, dass sie sexualisierte Gewalt direkt oder indirekt erleben, sei es, dass sie zwischen den restriktiven Regeln der Familie und den Versuchungen einer sexuell freizügigen Gesellschaft aufgerieben werden.
Die Schule hat die Chance, mit einer guten Sexualerziehung notwendige klärende Sachinformationen zur Sexualität zu vermitteln. Sie tritt damit nicht in Konkurrenz zu familiärer Erziehung, sondern ergänzt sie. Sie kann das Forum bieten, unter fachlicher Anleitung konkurrierende moralische und ethische Aspekte zu diskutieren und damit zu einer verantworteten und geglückten Sexualität beizutragen.
Hinweise:
Bundesszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Jugendsexualität heute, 2010, online unter: http://www.bzga.de/?sid=528
Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen, Jugendsexualität im Wandel der Zeit, 2009, online unter: http://www.ekkj.admin.ch/c_data/d_09_Jugendsexualitaet.pdf
Hessisches Kultusministerium, Abt. Schule und Gesundheit, Lehrplan Sexualerziehung des Landes Hessen, 2007 online unter : http://www.schuleundgesundheit.hessen.de/rechtsgrundlagen/lehrplan-sexualerziehung.html
Konzept Sexualerziehung der Primarschule Greifensee, 2013, online unter: http://www.primarschule-greifensee.ch
Text: Monika Jakobs; Bild: feinschwarz.net