Ein historischer Blick auf #me too und die kirchliche rape culture. Von Joachim Kügler.
Die Verbindung von Sexualität und Macht ist im Kontext alter Kulturen ein elementarer Ordnungsfaktor. Dabei wird Sexualität enggeführt auf männliche Sexualität und diese wiederum auf die Penetration. Frauen werden zu Objekten von Sexualität, die nicht penetrieren können und also keine sexuellen Subjekte sind. Das von Pierre Bourdieu beschriebene Konstrukt der „domination masculine“ (= DoM) macht die Vergewaltigung zum idealtypischen Zeichen, das Herrschaft nicht nur anzeigt, sondern sakramental vollzieht und bestätigt. Jede DoM-Kultur ist damit automatisch rape culture – Vergewaltigungskultur.
„domination masculine“
Wie der Einsatz anderer Waffen, muss auch der des Penis reglementiert werden, vor allem, wenn es um andere Männer geht. Deshalb kennen die meisten alten Kulturen die Ächtung der Penetration gleichrangiger Männer zur Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung. Fragen sexueller Orientierung und Identität mögen moderne Homosexualitätsdiskurse prägen, aber die Welt, aus der die biblischen Texte stammen und in der auch viele Menschen heute leben, interessiert sich dafür überhaupt nicht. Für das Kultursystem der DoM ist entscheidend, dass jede Penetration die soziale Hierarchie performiert. So lange also ein mächtiger Mann eine Frau, ein Kind, einen Sklaven oder ein Tier penetriert, ist das prinzipiell zunächst in Ordnung, da alles Penetrierte (ob vaginal, oral oder anal) als weiblich definiert ist.[1]
Penetration und soziale Hierarchie
Wenn die Götter Horus und Seth im altägyptischen Mythos um die Herrschaft streiten, dann ist die Vergewaltigung des Konkurrenten ein ebenso erfolgversprechendes wie konfliktreiches Mittel, ihn auszuschalten. Macht ist nämlich in der DoM-Kultur ganz eindeutig als männlich gegendert. Vice versa definiert sich das Weibliche[2] durch Machtlosigkeit, Unterworfensein und Beherrschtwerden. Wenn die Vergewaltigung des Gegners also gelingt, dann ist er so verweiblicht, dass er von der Herrschaft ausgeschlossen ist. Selbst die klare Missachtung menschlicher und göttlicher Ordnung ist ein angemessenes Machtsakrament. Wenn Zeus sich den Knaben Ganymed oder Europa, Leda[3] u.v.a. „nimmt“, dann verletzt er stets die Rechte menschlicher Männer (als Väter oder Ehemänner), aber er tut es, weil er es kann. Wer sollte den obersten Gott daran hindern? Selbst die stets eifersüchtige Göttergattin Hera vermag das nicht.
Auf menschlicher Ebene mag es angemessen sein, die spezifische Verbindung von Sexualität, Macht und Religion („Zeus-Komplex“) genauer zu reglementieren. Vor allem, wenn es darum geht, eine Männergemeinschaft von prinzipiell Gleichen zu konstruieren, sollte die Penetration anderer, gleichrangiger Männer ausgeschlossen werden. So ächtet Athen – zumindest ideell – beim rite de passage der Päderastie die Penetration der freien Knaben. Diese dürfen nicht so verweiblicht werden, dass sie als Erwachsene für die Herrschaftsschicht der freien Bürger ungeeignet wären.
Egalitäres Männerkollektiv
Und die Regelungen im Buch Levitikus (Lev 18,22 und 20,13) versuchen unter den Bedingungen persischer Fremdherrschaft die „Söhne Israels“ als ein egalitäres Männer-Kollektiv zu konstruieren, in dem keiner den anderen durch Penetration entehrt. Dass Levitikus die Männer anweist, überhaupt nichts „Männliches“ (auch keine Sklaven oder Knaben) „wie eine Frau“ zu beschlafen, dient darüber hinaus der Identitätsbildung des heilig-reinen Gottesvolkes durch Abgrenzung von der Mehrheitskultur, die Sex mit Knaben und Sklaven nicht weiter problematisiert.
Zu welch brutalen Konsequenzen bedrohte Männlichkeit führen kann, malen Terror-Texte wie Genesis 19 und Richter 19 aus. Wenn die Verweiblichung des Mannes droht, ist die Frau zu opfern, und wenn dann nicht Engel eingreifen wie in Gen 19 bei den Töchtern Lots, dann stirbt die Frau an der stundenlangen Massenvergewaltigung (Ri 19,26-28). Selbstverständlich werden die angedrohten bzw. ausgeführten Vergewaltigungen als Verbrechen gesehen, denn sie ignorieren die Rechte von Männern. Sowohl für den Vater, der die Unberührtheit seiner Töchter bis zur Übergabe an einen Ehemann bewahren muss, als auch für den Ehe-Herrn, der seine Frau als geliebten Besitz nach Hause führen will, ist es eine Katastrophe, wenn seine Ehre derart geschändet wird.
Das höchste Gut: die Bewahrung männlicher Integrität
Aber die Bewahrung männlicher Integrität ist offensichtlich der höhere Wert. Die Männer von Sodom (Gen 19) und Gibea (Ri 19) sind natürlich nicht homosexuell im modernen Sinn. Bei dem kollektiven Vergewaltigungsversuch geht es kaum um Lust, gar nicht um Liebe und natürlich auch nicht um gay identity. Es geht ganz kalt um Macht. Im DoM-Sakrament der Vergewaltigung soll ein Fremder erfahren, wie rechtlos-weiblich er in einer Stadt ist, die nicht die seine ist.
Ziel: Erniedrigung
Der Zeus-Komplex taugt auch dem römischen Kaiser, um den Senatoren ihren republikanischen Wahn, ihm ebenbürtig zu sein, auszutreiben. Demonstrativ „nimmt“ er sich ihre Ehefrauen, Töchter und Söhne. Die Schändung kann noch gesteigert werden, indem man die Edelmänner selbst in die Rolle von Lustknaben zwingt und beim Bankett den Herrscher im kurz geschürzten Sklavengewand bedienen lässt (Sueton, Caligula 26,2).[4] Dabei kommt es gar nicht auf Lust am Sex an, sondern nur darauf, den Gegnern symbolisch die inferiore Rolle von Tischdienern (Ganymed) zuzuweisen, die der Herr (Zeus), wann immer er wollte, sexuell „benutzen“ könnte. Die Botschaft „Du bist nicht Herr über deinen Körper“ sagt zugleich: „Du bist überhaupt kein Herr – weder über dich, noch deine Familie, geschweige denn über Rom!“ Umgekehrt rächten sich die Adligen an ihrem Missbraucher, indem sie ihm vorwarfen, selbst ein Penetrierter zu sein.[5]
Heute noch wirksam: der Zeus-Komplex
Und heute? In politischen, religiösen und anderen Hierarchien funktioniert der Zeus-Komplex immer noch erstaunlich gut. Auch wenn Zeus sich heute wegen anders gelagerter Identitätsdiskurse mehr um das Geschlecht seiner Objekte kümmert als früher, hilft die historische Perspektive trotzdem immer noch, um besser zu verstehen, warum Machtmännlichkeit sich so gerne sexuell ausdrückt, warum es Kirchenobere und Gemeinden[6] gibt, die „ihre“ Vergewaltiger entschuldigen und schützen, warum Kulturstars zugestanden wird, die sexuelle Selbstbestimmung von Abhängigen zu missachten und warum konservative US-Christinnen einen „Grab-‘em-by-the-pussy“-Präsidenten unterstützen. Der jeweilige Zeus mag zu weit gegangen sein, aber er ist prinzipiell in die richtige Richtung gegangen. Deswegen schaden die Aufnahmen der New York Times dem Helden nicht, hätte aber der Kreml ein Video, das ihn zeigt, wie ihn ein russischer Callboy penetriert, dann…
Und die Kirche? Eine Restauration traditioneller Sexualfeindlichkeit wird nicht helfen. Das Rezept „Sex hat keinen Platz im Himmelreich“ ist Teil des Problems und nicht die Lösung, denn solcher Asketismus ist nicht nur realitätsfern, wie wir gelernt haben sollten, sondern beruht auch auf einer philosophischen Spielart von DoM. Sexuelle Begierden werden dabei als weiblich gedacht, die der männliche Verstand unterwerfen und dominieren muss. Solche Askese macht so männlich, dass man, selbst wenn der eigene Körper weiblich ist, einen Platz in der Kirche hat. Das Ideal solcher Jungfräulichkeit als Vermännlichung ist aber gerade keine Überwindung der DoM-Misogynie, führt zu so abstrusen platonistischen Ideen wie dem emotionslosen Fortpflanzungsbeischlaf und mindert erfahrungsgemäß nicht die Gefahr für Kinder im Kirchenraum.
Sexualität aus dem Würgegriff des Adlers befreien
Wer die kirchliche rape culture überwinden will, braucht stattdessen eine Ethik, die Sexualität als Schöpfungsgabe ernstnimmt und versucht, ihre Risiken durch umfassenden Hierarchieabbau (nicht nur in der Kirche) zu mindern. Das Austrocknen von unheiligen Männer-Biotopen, demokratische Strukturen, Gleichberechtigung aller und kontrollierende Gegenmächte sind letztlich notwendig, um die missbräuchliche Ausnutzung sexueller Möglichkeiten zu minimieren. Sexualität ist nicht böse, wohl aber heikel. Und deshalb wird sie nur insofern zum Körpersakrament der Liebe werden können, als es gelingt, sie aus dem Würgegriff des Adlers[7] zu befreien.
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Joachim Kügler ist Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften an der Universität Bamberg.
Neueste Veröffentlichung zum Thema:
J. Kügler, Sexualität – Macht – Religion. Zeitreisen ins Bermuda-Dreieck menschlicher Existenz, Würzburg 2021
Bild: Ausschnitt Buchcover
[1] Vgl. C. Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München 1989: 192.
[2] Eine einzelne Frau kann insofern Macht erlangen, als sie sich vermännlicht und ihre Weiblichkeit reduziert.
[3] Im Unterschied zu antiken, gewaltbetonten Darstellungen (z.B. in London oder München), präferiert die spätere Kunst (z.B. Michelangelo) das Verschleiern des Gewaltaspekts.
[4] Vgl. K. Vössing, Mensa Regia, München 2004, 514-517.
[5] Suetons Kaiserviten erwähnen entsprechende Vorwürfe gegen Caesar, Augustus und Nero.
[6] Vgl. C. T. Zimunya & J. Gwara, “Do not touch my anointed!” (Ps 105), in: The Bible and Gender Troubles in Africa (BiAS 22), Bamberg 2019, 115-128.
[7] Der Raub Ganymeds durch Zeus in Adlergestalt ist eine der Ikonen von Gewaltsexualität in der europäischen Malerei. Rubens und Rembrandt haben das Thema freilich ganz unterschiedlich umgesetzt.