Das Christentum tut sich schwer mit seinem körperfeindlichen Erbe. Die Schockstarre überwinden, sprachfähig werden, auch mal kreativ vorandenken in Sachen Sexualität und Begehren – das alles steht noch aus. «Sexualmoral» ist ein Format, das sich überholt hat. Martin M. Lintner über das neue Buch von Daniel Bogner.
Das sexuelle Begehren steht in der Tradition der katholischen Sexualmoral unter dem Verdikt der Sündhaftigkeit und der Gefährdung, die es durch rigide Verbote und Gebote einzudämmen gilt. Die katholische Ehelehre wiederum ist geprägt durch die Ineinssetzung des ehelichen Treueversprechens mit der Wirklichkeit, die es vergegenwärtigt, nämlich der Beziehung Christi zur Kirche. Beziehungsschwierigkeiten bis hin zu Trennungen und Ehescheidungen werden deshalb in erster Linie unter das Verdikt des Defizitären gestellt. Daniel Bogner zeigt in seinem Buch auf, dass unter diesen Voraussetzungen heutige Überlegungen um eine Neuformulierung der katholischen Lehre oft in Irrwege und Sackgassen münden. Stattdessen möchte er sich, wie er programmatisch vorausschickt, von der Neugier leiten lassen „wie sich in Liebe und liebendem Begehren Spuren eines geglückten Menschseins finden lassen; eine Neugier danach, wie wir besser damit umgehen können, dass das Lieben oft so schwierig ist und wir den Eindruck haben, damit zu scheitern“ (12).
Lieben heisst: aufs Ganze gehen…
Im ersten Kapitel geht es um die Sehnsucht, warum wir eigentlich lieben wollen. Es ist der Wunsch, aufs Ganze zu gehen, leiblich und seelisch zu lieben und geliebt zu werden, die Sexualität als Sprache dieser Liebe zu gestalten – und dabei doch die Erfahrung zu machen, dass diese Liebe ein Wagnis bleibt, weil konkrete Liebeserfahrungen unvollendet und unvollkommen sind und weil ihr Gelingen letztlich nicht einfach machbar ist. Kritisch fragt Bogner, ob es legitim ist zu behaupten, dass diese Sehnsucht allein in der Ehe in eine angemessene Form gebracht werden kann. Im zweiten Kapitel setzt er sich mit den Erfahrungen auseinander, die gemeinhin als Scheitern einer Beziehung bezeichnet werden. Er verwehrt sich gegen diesen Begriff, weil er schon allein semantisch ein moralisches Urteil enthält, der den Lebenssituationen betroffener Menschen kaum gerecht wird. Es wird zu wenig berücksichtigt, dass mit der Eheschließung erst ein komplexer Entwicklungsprozess zweier Menschen beginnt, die miteinander interagieren und sich trotzdem individuell unterschiedlich weiterentwickeln.
kirchliche Ehelehre … eine Lebenshilfe?
Auch in dem, was nach außen hin als Scheitern angesehen werden könnte, kommen auf der individuellen Ebene Entwicklungen zum Tragen, die für eine Person positiv zu werten sind. Weil es Entwicklungen einer Person sind, die sich selbst unter geänderten Umständen treu zu bleiben versucht und sich die Frage stellen muss, wie sie erlittene Verwundungen und Enttäuschungen in ihr Leben und ihr Selbstkonzept integrieren kann. Im dritten Kapitel spürt der Autor der Frage nach, wie denn eine kirchliche Ehelehre für jene Menschen, die sich getrennt haben, eine Lebenshilfe, ein „Feldlazarett“ sein kann, insofern die Kirche für sich in Anspruch nimmt, eine besondere Kompetenz in der Deutung von Existenzfragen zu haben. Hier werden deutliche Defizite benannt, weswegen die Kirche hinter ihrem eigenen Selbstverständnis zurückbleibt. „Mir scheint, dass sich bei vielen Menschen der Eindruck eingebrannt hat, der Kirche gehe es vor allem um die Frage, wie ‚legitime‘ Beziehungen zustande kommen, nicht aber in erster Linie darum, wie die Liebesbeziehungen, die Menschen wählen, konkret gelingen können“ (71), so der Autor.
Der Gottesbund im Menschenbund – schön und vermessen zugleich…
Das erklärt die blinden Flecken der Kirche gegenüber Menschen, deren Beziehung in den Augen der Kirche von vorneherein nicht ‚legitim‘ bzw. ‚irregulär‘ sind. Diese Menschen fallen grundsätzlich aus dem Rahmen dafür, in ihren Beziehungen die Liebe und Treue Gottes zu uns Menschen zum Ausdruck zu bringen, die in Jesus menschliche Gestalt angenommen hat und sich als entschieden, treu und verlässlich erweist. Es müsse daher kritisch angefragt werden, ob die an und für sich wunderbare Vorstellung, dass sich die göttliche Liebe und Treue in einer menschlichen Beziehung vergegenwärtigt, auf die heterosexuelle Ehe reduziert werden darf und wie die mögliche Lebenswirklichkeit von Veränderungen und Prozessen, die unter Umständen auch zu einer Trennung führen, in diese Vorstellung zu integrieren ist.
theologische Differenz von Sakrament und Segen
Das sakramentale Verständnis der Ehe als eine Art Gleichsetzung des Gottesbundes mit dem Ehebund sieht Bogner als schön und zugleich vermessen an. Vermessen deshalb, weil es die vielfältigen Aspekte menschlicher Kontingenz zu wenig berücksichtigt. Auf diesem Hintergrund hinterfragt er kritisch die theologische Differenz von Sakrament und Segen in Bezug auf die Ehe.[i] Würde das Anliegen des Segens, um Gottes Beistand für eine Beziehung zu bitten, die für beide Partner ein Raum zur Reifung und Entfaltung wird, stärker gewichtet, könnte das reale Beziehungsleben auch für das Eheverständnis als ein Kriterium für den sakramentalen Charakter neu gewichtet werden.
sich selbst in einer Beziehung treu bleiben
Im vierten Kapitel steht die Frage an der Treue zu sich selbst im Vordergrund, die nicht hinter der Treue zu einem Lebensprojekt verschwinden darf. Sich selbst in einer Beziehung treu bleiben zu können, legt den Fokus darauf, die Beziehungsfähigkeit zu fördern. Im Falle einer Trennung bedeutet Treue zu sich, dass Gute, das in einer Beziehung gelebt wurde, nicht zu vergessen, und auch das Schmerzliche, das zur Trennung geführt hat, als Teil des eigenen Lebens anzunehmen.
Sex als Kraftort, nicht als Herrschaftsmittel
Im fünften Kapitel spürt der Autor der Frage nach, wie Liebe gelingend gestaltet werden kann. Dem Begehren Raum zu geben bedeutet, es in erster Linie als Kraftort, nicht als Gefahrenquelle zu sehen. Sexualität ist eine der Sprachen der Liebe, vielleicht die intensivste. Dies verlangt zugleich aber auch, die nicht sexuellen Gründe des Begehrens wahrzunehmen, um zu verhindern, dass Sexualität zum Mittel für Manipulation, Unterdrückung und Gewalt wird. Das Christentum hätte viel Potential, die Werte von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit als ethische Erfordernisse in Beziehungen – auch sexuelle – einzuspeisen. Es steht sich, so Bogner, mit seiner traditionellen Lehre aber selbst im Wege.
Grundhaltungen, aus denen heraus Beziehung gestaltet wird
Im letzten Kapitel möchte es der Autor nicht bei der Kritik belassen, sondern Anstöße geben für ein neues Ethos für Liebe und Beziehung. Es geht dem Autor dabei nicht um eine neue ausgefeilte ethische Lehre, sondern vielmehr um Grundhaltungen, aus denen heraus Beziehung gestaltet wird – und in diesem Sinn um ein Ethos. Diese Grundhaltungen lauten: Die Grenzen des Lebendigen ernst nehmen; Dauer und Verbindlichkeit nicht als statische Wirklichkeiten denken; die Vielfalt von Rede- und Ausdrucksweisen, die es in der Sexualität gibt, wahrnehmen; den Menschen verbindlich verpflichtet bleiben, auch im Falle von Trennungen; Vertrauen setzen in die Kompetenz des Menschen zur eigenen Lebensführung – und dann muss man nicht alles regeln, sondern kann vieles auch einfach in die Selbstverantwortung der Menschen übergeben. Abschließend ermutigt Bogner dazu, das liebende Begehren nicht obwohl, sondern weil es Wagnis und Risiko birgt, mit dem Geheimnis der göttlichen Liebe in Verbindung zu bringen, dessen Menschwerdung in Christus nichts anderes war als ebenso Wagnis und Risiko aus Liebe.
Theologische Ethik ist kein Glasperlenspiel, sie muss sich vor dem Leben bewähren
Daniel Bogner macht keinen Hehl daraus, dass er die herkömmliche katholische Sexualmoral und Ehelehre für radikal reformbedürftig ansieht. Der Ansatz des Buches ist ein doppelter: Die theologische Gedankenführung nimmt ihren Ausgangspunkt konsequent in persönlicher Erfahrung, und das sind nicht nur Erfahrungen des Gelingens, sondern auch solche des Zerbrechens und des Auseinandergehens. Bogner macht damit deutlich, was für die Theologie im Allgemeinen und die theologische Ethik im Besonderen gilt: Dass sie nicht nur ein abstraktes Glasperlenspiel ist, sondern sich unter dem Anspruch bewähren muss, unter den Bedingungen der Lebensrealitäten und des Lebbaren dem umfassenden Gelingen eines guten Lebens in freiheitlicher Selbstbestimmung zu dienen – um es sinngemäß mit Klaus Demmer zu formulieren.[ii]
auch biographisch reflektierte Lebens- und Glaubenserfahrung
Theologische Ethik kann nicht davon absehen, auch biographisch reflektierte Lebens- und Glaubenserfahrung zu sein. Das macht Bogners Kritik an der herkömmlichen Sexualmoral und seine Anstöße für einen erneuerten Ethos für Liebe und Beziehung so glaubwürdig und authentisch. Dass es Bogner nicht nur um Kritik um der Kritik willen geht, sondern dass seine Kritik vom Impetus der Verantwortung für die Kirche und dem Zugehörigkeitsgefühl zu ihr getragen ist, hat er bereits in einer früheren Publikation zum Ausdruck gebracht.[iii] Dieses spürbare Ringen macht auch die hier zu besprechende Publikation umso lesenswerter und die theologisch begründeten Anstöße für eine Neuausrichtung der kirchlichen Lehre zu Sexualität, Beziehung und Ehe umso bedenkenswerter.
das Sakramentenverständnis in Bezug auf die Ehe radikal neu bedenken
Neben den genannten Empfehlungen und Grundhaltungen haben sie auch zur Folge, dass Kirche und Theologie das Sakramentenverständnis in Bezug auf die Ehe radikal neu bedenken müssen – und zwar nicht von einem Ideal her, sondern von den vielfältigen und komplexen gelebten und im Glauben reflektieren Beziehungswirklichkeiten her, in denen Menschen wagnis- und risikobereit ihrer Sehnsucht nach gelingender Liebe Raum geben und auf diese Weise mit dem Geheimnis der göttlichen Liebe in Berührung kommen.
Martin M. Lintner, Professor für Moraltheologie an der PTH Brixen und Autor des Buches: Christliche Beziehungsethik. Historische Entwicklungen – Biblische Grundlagen – Gegenwärtige Perspektiven, Freiburg i. Br. 2023.
Das Buch:
Daniel Bogner, Liebe kann nicht scheitern. Welche Sexualmoral braucht das 21. Jahrhundert?, Freiburg i.Br. 2024
Beitragsbild: The HK Photo Company auf unsplash.com
[i] Siehe dazu auch den Beitrag von Daniel Bogner auf katholische.de vom 12.02.2024: Wir brauchen ein Ehe-Sakrament für das «Feldlazarett»
[ii] Vgl. Klaus Demmer, Moraltheologische Methodenlehre (StE 27), Freiburg i. Ue. / Freiburg i. Br. u. a. (Universitätsverlag / Herder) 1989, 11–12.
[iii] Vgl. Daniel Bogner, Ihr macht uns die Kirche kaputt… doch wir lassen das nicht zu!, Freiburg i. Br. 22019.