Vor zwei Tagen hat die Deutsche Bischofskonferenz eine große Studie zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker in den letzten Jahrzehnten in Deutschland vorgestellt, von der Teile bereits seit zwei Wochen diskutiert werden. Der Redaktion von feinschwarz.net erscheint es naheliegend, für die Bewertung der Studie und eine Einschätzung der Situation nicht Bischöfe um Statements zu bitten, sondern mit Matthias Katsch einen der profilierten Vertreter der Opfergruppen. Er ist ehemaliger Schüler des Berliner Canisiuskollegs, Sprecher von Opfergruppen und Mitbegründer der Opfer-Initiative „Eckiger Tisch“ in Berlin.
Ein Interview von Wolfgang Beck.
Beck: Herr Katsch, Sie haben sich die aktuelle Studie der Bischofskonferenz angeschaut. Gibt es Elemente darin, die Sie gerade auch nach der Studie im US-Bundesstaat Pennsylvania überrascht haben?
Katsch: Die Studie enthält eine Fülle von Details, die wir noch gar nicht alle aufgenommen und verarbeitet haben. Von der Realität des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in der Kirche wird nur ein sehr kleiner Teil überhaupt abgebildet. Insbesondere die Zahlen der Betroffenen sind um Dimensionen zu niedrig. Aber das ist es eben, was sich in den Personalakten der Kirche abgebildet findet. Bemerkenswert fand ich den im Vergleich zu anderen Studien hohen Anteil von Mädchen, die zu Opfern wurden.
Es fehlt Mut!
Beck: Durch ihre ehrenamtliche Arbeit für das Aufdecken der Missbrauchsfälle, deren Aufarbeitung auch für die Unterstützung und Entschädigung von Opfern engagieren Sie sich seit vielen Jahren. Können Sie im Agieren der Verantwortlichen in den deutschen Diözesen und den Ordensgemeinschaften Veränderungen beobachten? Gibt es wirkliche Lernfortschritte in der Kirchenleitung?
Katsch: Die Binnenkultur ändert sich offenbar sehr, sehr langsam. In der Realität wird weiterhin sehr intransparent agiert, Betroffene werden als lästige Bittsteller behandelt, und nicht als Gesprächspartner ernst genommen. Das Bewusstsein für die eigene Macht- und Sonderstellung ist immer noch recht ausgeprägt. Aber die Tonlage in der Öffentlichkeit ist inzwischen eine andere geworden. Es wird weitgehend akzeptiert, dass die Kirche als Organisation eine Mitverantwortung für die Taten ihrer Priester hat. Aber es fehlt der Mut, nun auch zu springen und Konsequenzen wirklich zu ziehen.
Wir fordern unabhängige Untersuchung.
Beck: Worin liegen – knapp skizziert – die zentralen Forderungen, die sie im Namen der Opfer an die Verantwortlichen richten?
Katsch: Wir fordern eine umfassende, unabhängige Untersuchung, die die Fälle der Vergangenheit, die strafrechtlich nicht mehr zu klären sind, aufarbeitet. Vorbilder sind dabei die Untersuchungskommissionen in Australien oder Pennsylvania. Aber das kann dauern, bis sich Kirche und Staat da einig werden.
Deshalb fordern wir, dass jetzt zuerst an die Betroffenen gedacht wird: Statt der bislang angebotenen „Zahlung in Anerkennung des Leids“, die im Schnitt 3000 € betrug, und quasi stellvertretend für die Täter gezahlt wurde, fordern wir nunmehr eine echte Entschädigung für den durch die Kirche selbst angerichteten Schaden. Die Biografien von tausenden Kindern und Jugendlichen sind durch das systematische Vertuschen, Verheimlichen und Versetzen entgleist. Das hatte weitreichende Folgen: für die Berufsausbildung und das Arbeitsleben, für die sozialen Beziehungen, die Sexualität der Betroffenen. Ich kenne Betroffene, die sind von der Schule geflogen, als sie sich gegen die Übergriffe des Paters gewehrt haben. Dazu kommen medizinische Folgen. Die Studie der Wissenschaftler hat dazu sehr konkrete Ergebnisse geliefert. Die Entschädigung auf das Leben der Opfer hin bezogen muss daher im sechsstelligen Bereich angesiedelt sein. Und Staat und Gesellschaft müssen die Kirche davon überzeugen, dass sie da jetzt nicht wieder alles herunterspielen und auf die lange Bank schieben kann.
Noch kein einziger Bischof ist belangt worden.
Beck: In den letzten Jahren sind eine Vielzahl von Vorfällen aufgearbeitet worden. Außerdem wurden flächendeckende Präventionsschulungen für Haupt- und Ehrenamtliche in der katholischen Kirche entwickelt, um in konkreten Situationen angemessen reagieren zu können. Was wären die nächsten Schritte, die eigentlich ausstehen?
Katsch: Ich bin nicht davon überzeugt, dass wirklich schon so viel aufgearbeitet worden ist. Wir haben viele Fakten erfahren. Aber noch kein einziger Bischof, Provinzial oder Vorgesetzter ist für sein Versagen belangt worden. Die Verantwortung wird einfach nicht übernommen. Richtig ist, dass sehr viele Laien in der Prävention engagiert sind. Davor habe ich hohen Respekt. Ich glaube aber, dass die Wirksamkeit der Präventionsbemühungen davon abhängen wird, ob es gelingt, den Klerikalismus zu überwinden und so die vom Papst beklagte „Kultur des Missbrauchs und des Vertuschens“ in der Kirche zu verändern. Transparenz ist da das zentrale Element, das die Verhältnisse zum Tanzen bringen könnte.
Verantwortliche schützen die Institution und ihr ganz persönliches Leben.
Beck: Immer wieder lassen Verantwortliche in den Diözesen und Orden erkennen, dass sie den Schutz ihrer Institution gegenüber Vorwürfen und Anfragen so stark verinnerlicht haben, dass sie Opfer schnell als Gegner betrachten, dem Institutionenschutz Priorität einräumen und nur die unumgänglichen Maßnahmen ergreifen. Dabei scheint die katholische Kirche nicht nur Tätern ein günstiges Milieu zu bieten. Es gibt offenbar auch die Neigung, ein Schweigen und Vertuschen stärker zu honorieren, als ein offenes Bearbeiten. Wie bewerten sie diese strukturellen Fragen?
Katsch: Priester und Bischöfe können Fragen der Institution, der Organisation nicht von persönlichen Fragen trennen. Weil es für sie um die ganz persönliche Lebensführung geht. Priester zu sein, ist danach eben nicht einfach ein Beruf. Zugleich steht im Zentrum dieser Lebensweise die Pflicht zum Zölibat, an der offenbar sehr viele Priester scheitern. Über dieses Scheitern muss aber geschwiegen werden. So wie über die Homosexualität von Priestern geschwiegen werden muss. Deshalb schützen Verantwortliche, die die Institution zu schützen meinen, eigentlich immer auch ihr ganz persönliches Leben.
Die Abwertung von menschlicher Sexualität ist mit der Zeit so zentral geworden in der kirchlichen Lehre. Denken sie nur daran, mit welcher Inbrunst seit Jahren darüber gestritten wird, ob Wiederverheiratete Sex haben dürfen. Absurd das Ganze. Als ob das die zentrale Frage im Glauben der Christen wäre.
Beck: Immer wieder kommt es zu hitzigen Diskussionen darüber, ob die katholische Kirche hinsichtlich der sexualisierten Gewalt als „Täterorganisation“ zu bezeichnen ist, gerade weil damit das Leben von Opfern innerhalb der Kirche, die es auch innerhalb des Klerus selbst gibt, erschwert wird. Halten Sie diesen Begriff für hilfreich?
Katsch: Macht, Sex und Geheimnis – diese dunkle Triade muss aufgebrochen werden. Nur dann wird sich die Binnenkultur der Kirche ändern.
Es darf kein Lavieren geben.
Beck: In den letzten Wochen kam es immer wieder zu einer Vermischung von kirchenpolitischen Streitigkeiten und den Fragen des sexuellen Missbrauchs bis hin zu Rücktrittsforderungen an Papst Franziskus aus sehr konservativen Kreisen. Gerade in Chile hat er ja offenbar Berichten von Opfern lange misstraut. Wie bewerten Sie die Rolle des gegenwärtigen Papstes und sein Agieren?
Katsch: Der Papst muss die Frösche dazu bewegen, bei der Trockenlegung des Sumpfes mitzuwirken. So erklärt sich meines Erachtens nach sein Lavieren in manchen Fragen. Aber beim Schutz von Kindern und Jugendlichen – und wir reden da ja nicht von der fernen Vergangenheit –, da darf es kein Lavieren geben. Deshalb sind klare und mutige Entscheidungen gefordert, auch gegen innerkirchlichen Widerstand.
Absurd finde ich, wie Leute, die kein Problem mit dem fahrlässigen Verhalten von Johannes Paul II. oder Benedikt hatten, unter deren Herrschaft Verbrecher wie Marcial Maciel und andere gefördert oder allenfalls milde bestraft wurden, solange nur die binnenkirchliche Einstellung passte, nun gegen Franziskus zu Felde ziehen. Die Opfer sexueller Gewalt in der Kirche werden in diesem Machtkampf schlicht instrumentalisiert. Dass der Papst auch persönlich in der Vergangenheit in Argentinien nicht auf der Seite der Opfer gestanden hat, ist inzwischen dokumentiert. Zugleich hat er bewiesen, dass er aus Fehlern zu lernen bereit und imstande ist. Nicht selbstverständlich für einen 81-Jährigen. Deshalb hoffe ich, dass er die Kurve kriegt, und zum Beispiel zu dem anstehenden Krisentreffen der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen auch Betroffenenvertreterinnen und -vertreter einlädt.
Die Kirche reagiert nur auf Druck.
Beck: Sie engagieren sich seit einigen Monaten verstärkt auch für einen internationalen Kontakt der verschiedenen Opfergruppen von sexualisierter Gewalt in der Kirche. Was versprechen Sie sich von solchen Vernetzungen über die einzelnen Ländergrenzen hinaus?
Katsch: Ein globales Problem braucht globale Antworten. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass der sexuelle Missbrauch durch Priester überall auf der Welt ein Problem darstellt. Zugleich lassen sich die dabei aufgeworfenen Fragen vielfach nur zentral lösen, etwa die notwendige Reform des Kirchenrechts zur Durchsetzung des Null-Toleranz-Prinzips, oder die Überwindung der Intransparenz durch die Abschaffung des sogenannten Päpstlichen Geheimnisses, wenn es um Fragen von Verfehlungen von Klerikern geht, also um Missbrauch. Deshalb haben sich Betroffene und Aktivisten aus 15 Ländern kürzlich in Genf getroffen und haben die Gruppe ECA-Ending Clergy Abuse gegründet, um der Weltkirche auch global entgegen zu treten, sich gegenseitig zu unterstützen, Informationen auszutauschen. In manchen katholischen Ländern wie Polen und Italien, in Teilen Lateinamerikas oder in Afrika ist bislang nicht mal die berühmte Spitze des Eisberges zum Vorschein gekommen.
Wir wollen überall dort präsent sein, wo auch der Papst hingeht: angefangen haben wir in Chile, in Genf, kürzlich in Irland. Wir wenden uns auch an die Vereinten Nationen. Die Kirche reagiert nur auf Druck, national wie international. Daran arbeiten wir, den aufzubauen. Sonst ändert sich nichts.
Beck: Herr Katsch, ich danke Ihnen sehr – nicht nur für ihre Bereitschaft zum Gespräch, sondern gerade auch für ihr Engagement für die Anliegen von Opfern und für ernsthafte Veränderungen in der katholischen Kirche.
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Wolfgang Beck ist Juniorprofessor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a.M.
Foto: Rechte bei Matthias Katsch