„…das Ganze der Situation ist mit in Rechnung zu stellen.“ So umschreibt Marie-Jo Thiel mit Lévinas die Aufgabe ihrer Arbeit über den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche. Dietmar Mieth stellt ihre umfangreiche Studie vor.
Marie-Jo Thiel[1] hat sich bemüht, möglichst viele zentrale und regionale Perspektiven des gleichen Unheils weltweit zu erfassen. Das ist in dieser umfassenden Weise neu. „Diese theologische Arbeit“, sagt sie in der Einleitung zu ihrem Buch L´Église catholique face aux abus sexuels sur mineurs[2], „ist eine Aufgabe, die einen langen Atem braucht und alle Disziplinen der Theologie in Bewegung setzen sollte.“ Mit Hille Haker und Maureen Junker-Kenny setzt sie hinzu: „Die Erschütterung (crisis), in der die katholische Kirche sich, aufgrund der Verletzungen von Kindern und Jugendlichen, befindet, ist unsere eigene Erschütterung.“ Die Kirche begegnet sich selbst, als wenn sie in einen Spiegel schauen würde, aus dem ihr ein dunkles Gesicht entgegen sieht. So steuert Marie-Jo Thiel auf eine Rundum-Erneuerung der Kirche zu, indem sie zeigt, wie tief das Versagen in die Strukturen hineinreicht.
Die Erschütterung der katholischen Kirche ist unsere eigene Erschütterung.
Ein kurzer historischer Rückblick beschreibt den Zusammenhang von Pädophilie, Psychiatrie, sexueller Befreiung und setzt dazu als Kontrapunkt die Entfaltung der Kinderrechte als UNO-Menschenrechts-Konvention. Nach einer begrifflichen Zuweisung der unterschiedlichen Delikte mit Kindern und Abhängigen beschreibt die Autorin die Rechtsverhältnisse und die Gerichtsverfahren, vor allem am Beispiel Frankreichs. Daraus resultieren die Rechtspflichten, die insbesondere die Medizin und die kirchlichen Instanzen betreffen und erfordern. Das Kirchenrecht enthält Absolutionsverbote, aber auch das Beichtgeheimnis und die kirchengerichtlichen Erfordernisse mitsamt ihrer Verschärfung in den letzten Jahren.
Eine Analyse der Pädophilie scheint zunächst nötig, um den Blick zu weiten, verengt ihn aber auch, wenn es um die Täter über die Pädophilie hinaus geht. Viel breiter geht die Autorin auf die Opfer ein, auf Defensivstrategien, auf Traumatisierungen, auf Symptome, auf physische und psychische Leiden, auf spirituelle Desorientierungen, auf das Mitleiden der Kenntnisnehmenden, auf die Begleitung der Opfer. Hier fragt sie auch nach Riten und pastoraler Begleitung durch die Kirche.
Die Therapie hat im Vorhinein als Prävention einzusetzen.
Darauf folgt die Analyse der Täter. Die Theologin und Medizinerin geht auf unterschiedliche Expertisen ein, erörtert genetische Prädispositionen, hormonale und neurologische Gesichtspunkte, schließlich kulturelle und kontextuelle Ursachen. Diese Untersuchung mündet in einer Typologie der Täter. (236-263) Sie bleibt aber auch hier bei der Pädophilie. Die Erfahrungen der Opfer bezieht sie in die Analyse mit ein. Schließlich diskutiert sie Behandlungs-Massnahmen für pädophile Täter, juristisch, therapeutisch und psychologisch. Dazu gehören auch ein Training durch Nacherzählungen und kognitive Übungen unter Begleitung, ein positives Erlernen des guten/richtigen Lebens, spirituelle Vertiefungen von Erfahrungen, Formen der Gemeinschaftsbildung in gegenseitiger Verantwortung. Die Autorin zieht aus ihrer fachlichen Betrachtung das Fazit: Die Therapie hat im Vorhinein als Prävention einzusetzen.
Nach über 300 Seiten, die die Autorin mit ihrer interdisziplinären Kompetenz erarbeitet hat, wird das Thema spezifischer im Hinblick auf den Missbrauch in der Kirche: den sexuellen Missbrauch durch religiös lebende Menschen und durch den Klerus der katholischen Kirche, wie er seit 1980 in den Vereinigten Staaten und seit 1990 in Europa bekannt geworden ist. Fortschreitend wurden weitere Dimensionen erschlossen: die Verbreitung, die Genese, die mangelnde Aufklärung, die klerikale Standes-Ideologie, die Duldung aufgrund von Unwissen und aufgrund von mangelnder Sensibilität für die Opfer.
Die Krise erschüttert und desavouiert die katholische Kirche als moralische Institution.
Die Krise erschüttert und desavouiert die katholische Kirche als moralische Institution mit hohem Anspruch an sich selbst und an andere. Die Autorin betrachtet die Ereignisse beispielhaft in 10 Ländern: USA, Kanada, Chile, Australien, Frankreich, Irland, Deutschland, Österreich, Niederlande, Belgien. Im Anschluss an diese Recherchen stellt sie fest: Der Missbrauch ist zunächst ein gesellschaftliches Phänomen. Er tritt auf, wo Kinder und Jugendliche betreut werden. Die Kirche ist überall dort, weil sie mit solchen Aufgaben zu tun hat. Sie ist nicht allein, aber sie fällt umso tiefer, je höher ihre moralischen Ansprüche sie nach eigener Einschätzung über andere emporheben sollten. Insbesondere hält sie folgende Punkte für ihre genauere Untersuchung fest (386 f.):
- Der jahrelange Abstand zwischen der ersten Erkenntnis der Tatsachen und ihrer intensiven weiteren Erforschung, der öffentlichen Schuldanerkennung, der Rehabilitierung der Opfer und ihrer Gerechtigkeitsforderungen (hier spielt auch die Verzögerung polizeilicher Ermittlung bei gelegentlicher Komplizenschaft mit hinein).
- Die systematische Verdrängung durch kirchliche Instanzen (Bischöfe und Obere), analog zum römischen Magisterium. Man wollte “die Kirche schützen“, aber diese Instanzen hatten keinerlei Vorstellung („aucune idée“) von den Traumatisierungen und Verletzungen der Opfer.
- Die häufige Verbindung verschiedener Missbrauch-Typen – physischer, sexueller, moralischer Missbrauch – mit dem Missbrauch der Autorität.
- Die Notwendigkeit außerkirchlicher Initiativen der Opfer, der Medien, der demokratischen Elemente in Gesellschaft (und in der Kirche!), um die Verbrechen offenkundig zu machen.
- Der Mut einzelner Opfer, sich den Autoritäten entgegenzustellen, auch wenn diese sie beschuldigten zu lügen, zu erfinden, zu täuschen. Gerechtigkeit von einer mächtigen Kirche zu verlangen, das hieß nicht nur, gegen Mauern anzulaufen, sondern auch, im eigenen persönlichen Ansehen eine Schädigung zu riskieren.
Zusätzlich geprüft werden sollen in Zukunft auch:
- Die Rolle der nichtkirchlichen Instanzen, der öffentlichen Anteilnahme und die Rolle der Laien
- Der notwendige Mentalitätswechsel angesichts dieser Vorgänge
- Wie sind Betroffene mit einzubeziehen?
- Welche symbolischen Maßnahmen sind für eine Anerkennung und Schmerzlinderung erforderlich und sinnvoll?
Wie war es möglich?
Die Leitfrage der Autorin für diesen Teil lautet: Wie war es möglich? Eine Antwort: die Geheimhaltung der Beichte, aber auch der Prozesse der Verführung, unter Androhung der Exkommunikation. Von 1962 bis 2001 ist die Verfügung des Offiziums zum „Crimen Sollicitationis“ in Kraft, ein nicht öffentlich zugängliches Geheim-Dokument. Die Autorin kommentiert: Verordnet wird das Schweigen im Hinblick auf alle Fälle, in denen die Reputation der Kirche gefährdet sein könnte, und es betrifft auch AnklägerInnen und ZeugInnen! Anonyme Anklagen werden nicht verfolgt. Inhaltlich geht es um folgende Tatbestände: homosexuelle Akte, Sexualität mit Tieren, Sexualität mit Kindern (unter 7 Jahren? Folgt man üblichen Definitionen. Geändert wurde dies 2001 in „Menschen unter 18 Jahren“). Letztzuständig für alle Strafen ist das Offizium.
die Affäre Marcial Maciel, des Begründers der „Legionäre Christi“
Wie antwortet die römische Kirche nach den Versuchen, dem Drama auszuweichen? Papst Johannes Paul II: Aus Unkenntnis und falsch beraten hätten Bischöfe unpassende Entscheidungen gefällt. Diese Irrtümer sollten sich nicht wiederholen. (vgl. 397f.) Dieser Papst, trotz seiner rechtlichen Änderungen in einem „Motu proprio“ von 2001, glaubte nicht an die Fakten des Missbrauchs; die Affäre Marcial Maciel, des Begründers der „Legionäre Christi“, als eine erfolgreiche Betrüger-Geschichte liefert nach der Autorin den Beweis. (vgl. 401f.) Der Papst bremst Kardinal Ratzinger aus, bis dieser selbst 2006 als Papst Maciel auf totalen Rückzug und Buße setzt. Die Autorin fragt: Kann man heute garantieren, dass sich die „Legion“ zureichend reformiert hat? Papst Benedikt XVI reformiert dann 2010 die kirchlichen Normen: beschleunigte Prozeduren, Entfernung von Hemmnissen, Einbeziehung des Missbrauchs von Behinderten, Ausdehnung auf Kinder-Pornographie, Erhöhung der Strafmaßnahmen. Die Autorin kritisiert die traditionelle Ausdehnung dieses Dokumentes auf weitere Tatbestände, die mit dem Missbrauch nichts zu tun haben, etwa die Priesterweihe von Frauen!
Die Glaubenskongregation ermuntert 2011 zur Zusammenarbeit mit den weltlichen Behörden. Insbesondere soll alle Hilfe mit größter Aufmerksamkeit für die Opfer geleistet werden. Dies soll im Detail von den regionalen Bischofskonferenzen ausgearbeitet werden. Aber es gibt Einschränkungen: Dokumente, die den bischöflichen Dienst betreffen, sollen nicht ausgeliefert werden. Der Bischof muss sein Geheim-Archiv nicht öffnen. Die Aufmerksamkeit für die Opfer betont vor allem Papst Franziskus 2016. In dieser Hinsicht nachlässige Bischöfe werden nicht nur getadelt, gegen sie können Maßnahmen ergriffen werden. Kirchliche Schuldbekenntnisse machen die falsche klerikale Solidarität der Jahrhunderte deutlich, ein „wir“, das der Papst bekennend ausspricht. (423)
Kirchliche Schuldbekenntnisse machen die falsche klerikale Solidarität der Jahrhunderte deutlich.
2018 hat der Papst sich noch deutlicher an das „Volk Gottes“ gerichtet und gegenüber einer „Kultur des Missbrauches“ eine „Kultur der Anerkennung und des Respektes“ gefordert. Indem er das „Volk“ nennt, ermuntert er die allgemeine Gliedschaft, das Laientum aller, Aufgaben ohne Bevormundung wahrzunehmen. Franziskus spricht vom Missbrauch der Macht und des Gewissens als Quellen des sexuellen Missbrauches. Er nimmt die Kritiken auf und baut sie in den allgemeinen Reformbedarf ein. Daraus kann eine Vision entstehen, die bisher – auch bei Franziskus nicht – nicht im Detail durchdacht ist. Die Autorin nennt u.a. das Beichtgeheimnis als Beispiel. Hier fragt sich, ob die Beichte nicht als Sakrament etwas Anderes werden muss. Besonders pointiert die Autorin den Unterschied zwischen kirchlichem „Körper“ und „klerikalen“ bzw. amtlichen Körper (vgl. 456 ff.), und sie widmet ihm eine weitere Analyse, beginnend mit dem Verhältnis von Macht und Sexualität. Die Aufhebung des Pflichtzölibates und die Frauen-Ordination sind dann keine Tabus mehr. Die Kleruskirche als Einbahnstrasse – das meint Franziskus mit „Klerikalismus“ – kann nicht mehr das katholische Markenzeichen sein. Was dann „synodal“ heißt, muss erst ermittelt werden. Die fehlerfähige Kirche wird zum Thema. Die Verantwortungsfragen im konkreten gemeinschaftlichen Leben der Orden und im Familienleben verändern sich.
Das Schlusskapitel beschäftigt sich mit Formen der Prävention auf der Ebene der kirchlichen Ausbildung, des pastoralen Umgangs, der allgemeinen Sensibilisierung und der Stärkung von Widerstandskräften.
Kommentar dieses großen Kompendiums
Es ist nicht leicht, die stupende Expertise dieses großen Kompendiums zu kommentieren. Es verfügt über eine sehr detaillierte Gliederung, um sich darin zurechtzufinden. Ich möchte drei Aspekte besonders hervorheben:
Erstens: Die Sensibilität für die Perspektive der Opfer gegen die Härte und spirituelle Eingefrorenheit einer hierarchischen Kirchenauffassung, die aus Selbstschutz den Verrat an den eigenen moralischen Grundlagen nicht scheut.
Zweitens: Die Kritik an der Disziplinierung der formalen und inhaltlichen rechtlichen Vorgänge, eingeschlossen das Sakramentenrecht, durch ein Schweigegebot. Dieses Schweigebot verliert seine menschliche Legitimation dadurch, dass es über die Gerechtigkeit und die liebende Annahme der Opfer hinweg geht und nur noch eine zentralistische Bündelung und Kontrolle vor Augen hat, um die eigene Macht angesichts des demokratischen und rechtsstaatlichen Wandels zu behaupten.
Drittens: Eine Kirchenvision, die die immer noch wirkende Herrschaft, welche in Analogie zur mittelalterlichen Welt der Stände in der kirchlichen Hierarchie weiterhin reproduziert wird, ersetzen will durch eine Kirche aller, in der Laientum eine Basis aller darstellt, die scharfen Abgrenzungen daher verschwinden und die Durchlässigkeit für alle Ämter und Funktionen erhöht wird, ohne deren Differenz einzuebnen.
Man muss diesen Fragen, die das Buch stellt, ins Auge sehen.
Aber lässt sich eine solche Vision mit bisherigem Personal durchsetzen? Wo sind die Ressourcen, ein teilweise inkompetentes, teilweise auch schwindendes klerikales Personal zu ersetzen? Wenn die verheirateten Theologen und Theologinnen zu Priestern werden, wird eine andere Situation entstehen. Wie kann eine sakramentale Kirche eine synodale Kirche sein? Man muss diesen Fragen, die das Buch stellt, ins Auge sehen. Marie-Jo Thiel zitiert gern das Wort des Papstes Franziskus vom „unfehlbaren Volk Gottes“. (Ob er damit meint, was Hans Küng einmal „gehalten in der Wahrheit“ genannt hat?) Mir ist die Formel „unfehlbares Volks Gottes“ zu rhetorisch. (Im Deutschen ist sie stark gegen die „Fehlbarkeit“ gesetzt, die doch aller Menschen und Christen Eigenheit ist.) Warum ernennt der Papst nicht einige Laien, Männer und Frauen, zu Kardinälen? Warum ernennt er nicht einige Laien, Männer und Frauen, zu Leitern päpstlicher Dikasterien? Irgendwo müsste er bei den Institutionen der Macht einmal damit anfangen, ein geschwisterliches Verhältnis der unterschiedlich bleibenden Funktionen zu ermöglichen.
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Dietmar Mieth, Professor emeritus für Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Tübingen (1981-2008)
Beitragsbild: Aaron Burden / unsplash.com
Von Dietmar Mieth siehe auch:
[1] Marie-Jo Thiel ist Ärztin und Theologin, Professorin für Ethik in der Theologischen Fakultät der Universität Straßburg. Sie ist bekannt als Gründerin und Leiterin des „Europäischen Zentrums für Ethik“ an dieser Universität (CEERE). Sie war Präsidentin der Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie und ist Mitglied der „Päpstlichen Akademie für das Leben“.
[2] Marie-Jo Thiel, L´Église catholique face aux abus sexuels sur mineurs, 719 pages, Montrouge (Bayard Éditions) 2019, 24.90 Euro.