Der russische Angriff auf die Ukraine hebt viele Sicherheiten aus den Angeln: Welche Bedeutung hat „internationales Recht“, was will „der Westen“, wie verstehen wir eigentlich „Sicherheit“. Der Angriff der Hamas auf Israel ist vor diesem größeren Horizont zu lesen, fordert Siegfried Weichlein.
Die Kontraste könnten kaum stärker sein. Am 7. Oktober war das jüdische Fest der Gesetzesfreude. An Simchat Torah beenden ausgelassene Freude und Tanz das sieben Tage dauernde Laubhüttenfest Sukkot. Am Tag zuvor hatte sich zum 50. Mal der Beginn des Jom Kippur Kriegs gejährt. Auch damals war der Angriff an einem hohen, sogar dem höchsten jüdischen Feiertag erfolgt, den Versöhnungsfest Jom Kippur. Am 7. Oktober 2023 überfiel Hamas, ein arabisches Akronym für ‚Islamische Widerstandsbewegung‘, Israel. Blutige Massaker an Kibbuz-Bewohnern und an Teilnehmern eines Musikfestivals waren die Folge. Dieser Überfall mit Aberhunderten von Toten wird beide Seiten auf sehr lange Zeit spalten genauso wie die bevorstehende israelische Bodenoffensive mit dem Ziel, dem Treiben von Hamas ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Wenn es noch Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Palästina Konfliktes gab, so sind sie jetzt für lange Zeit begraben. Ähnlich wie die Anschläge an 9/11 ist der Überfall der Hamas auf Israel in mindestens drei Hinsichten transformativ.
Terror als Kommunikationsstrategie
Terror ist eine Form der Kommunikation, eine Botschaft. Die vielen grausamen Morde und bestialischen Hinrichtungen und generell das Plötzliche an diesem Geschehen wollen Israel zum massiven Gegenschlag in Form einer Bodenoffensive provozieren. Die durch den Überfall implizierte Gegenreaktion Israels soll weitere Akteure in den Krieg mit hineinziehen, in erster Linie die schiitische Hisbollah im Süden Libanons. Die „Partei Gottes“ (Hisbollah) kündigte für den Fall einer israelischen Bodenoffensive an selbst einzugreifen. Das würde Israel einen Zwei-Frontenkrieg aufzwingen, was den Interessen des Iran entgegenkommt.
Adressat des Terrors ist auch die Bevölkerung des Gaza Streifens und der Westbank, die dadurch zum Aufstand ermutigt und motiviert werden soll. Damit erreicht die Führung der Hamas aber noch nicht einmal die Mehrheit der Bevölkerung im Gazastreifen, die von der Unterdrückung durch die Hamas im Alltag abgeschreckt ist. Vor dem 7. Oktober unterstützten nur 29% der Bevölkerung im Gazastreifen die Hamas laut einer Umfrage des Arab Barometer, einem Umfrageinstitut in der gesamten arabischen Welt, das mit dem Palestinian Center for Policy and Survey Research in Ramallah zusammenarbeitet und internationale Mittel erhält. 44 % haben überhaupt keinerlei und 23 % nicht viel Vertrauen in die Regierungsführung der Hamas. Die Hamas repräsentiert nicht alle Palästinenser, sondern nur einen Teil.
Ein Ziel hat der Terror-Überfall bereits erreicht: Die Friedensverhandlungen Saudi-Arabiens mit Israel und den USA, die eine Sicherheitsgarantie für die saudische Regierung einschließen sollen, sind genauso gescheitert wie der von China gesponsorte Versuch einer vorsichtigen Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, den Antagonisten am Persischen Golf. Saudi-Arabiens Stellung ist damit massiv herausgefordert. Es wird einstweilen kein saudisches Friedensabkommen mit Israel in der Linie der „Abraham Accords“ mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrein von 2020 und auch keinen Ausgleich zwischen Saudi-Arabien und dem Iran geben. Auch das kommt den politischen Interessen des Iran entgegen. Insgesamt erhöht der Terrorüberfall auf alle direkt und indirekt Beteiligten den Druck Stellung zu beziehen. Auf Seiten der Palästinenser und der arabischen Gesellschaften herrscht ein Gefühl des Schreckens vor. Das kann jedoch nicht verdecken, dass eine Auslöschung der Hamas durch die israelische Armee ganz im Sinne der PLO, ihres Erzfeindes, liegen würde.
Spaltung
Der Überfall auf Israel macht einiges sichtbar, was bisher unter der Oberfläche blieb. Anders als der Ukraine-Krieg, den die europäischen Gesellschaften als moralisch eindeutig wahrnahmen, löste der Überfall der Hamas unterschiedliche Reaktionen aus. Offensichtlich waren die Unterschiede zwischen den offiziellen Erklärungen der Regierungen und den Protesten in der Zivilgesellschaft. Während die Regierungen in Europa durchweg Unterstützung für Israel und sein Recht auf Selbstverteidigung signalisierten, regten sich in Teilen der politischen Linken Sympathien für die Palästinenser. Das bedeutete nicht sofort Unterstützung für die Hamas, aber Verständnis für die Situation, aus der heraus sie agierte.
In der Schweiz tritt dieser Unterschied besonders entlang der Sprachenlinie auf. Waren beim Ukraine-Krieg noch Deutschsprachige und Frankophone entschlossen auf der Seite der Ukraine, so tut sich beim Krieg in Israel ein neuer Rösti-Graben auf. In der französischsprachigen Westschweiz werden immer mehr Stimmen laut, die Verständnis für die Palästinenser zeigen. In der Deutschschweiz dagegen herrscht durchweg Solidarität mit Israel vor.
Ähnlich ist es im Nahen Osten. Die ägyptische Regierung und Saudi-Arabien gingen einmal stärker, einmal schwächer auf Distanz zum Überfall der Hamas. Dabei spielte auch die Furcht vor der Opposition der Muslimbrüder im eigenen Land eine Rolle. Dennoch war die pro-palästinensische Solidarität in den arabischen Gesellschaften deutlich spürbar. Es gab viel Solidarität mit Hamas in Demonstrationen, die für die Palästinenser und die Hamas Partei ergriffen. Im Iran war es dagegen umgekehrt. Hier solidarisierte sich die Regierung massiv mit der Hamas und den Palästinensern. Die iranische Bevölkerung ging und geht jedoch auf Distanz zur eigenen Regierung. Der Überfall der Hamas auf Israel mit seinen grausamen Hinrichtungen und Geiselnahmen spaltete die Gesellschaften in Europa und im Nahen Osten. Darin liegt der große Unterschied zum Krieg in der Ukraine.
Religion und Politik
Und wieder stellt sich wie bei 9/11 die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik. Was auf den ersten Blick als Vereinnahmung der Politik durch die Religion aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als die Indienstnahme der Religion für politische Zwecke. Nicht die Religion wird politisiert, sondern die Politik „religionisiert“ sich, wie es Bassam Tibi ausgedrückt hat. Aus der Sicht von Hamas ist der Überfall offiziell religiös motiviert und Teil einer religiösen Auseinandersetzung. Aber bereits das neue Grundsatzpapier der Hamas von 2017 hat den 1988 in der Hamas Charta formulierten Anspruch relativiert, eine islamische und eine palästinensische, also eine religiöse und eine nationale Bewegung zu sein. Man kämpfe nicht mehr gegen Juden, sondern gegen Zionisten, hieß es. Die nationale Agenda rückte damit in den Vordergrund.
Gleichzeitig wird Religion massiv in Dienst genommen. Der neue palästinensische Staat soll Teil der islamischen Umma sein und Jerusalem soll als dritte heilige Stadt der Muslime dabei im Zentrum stehen. Mit diesen religiösen Mitteln wirbt die Hamas um Solidarität in den arabischen Staaten.
Auf israelischer Seite ist es ein nationaler Krieg zur Verteidigung des Staates Israel mit deutlich säkularer Ausrichtung. Aber auch hier nimmt die Regierung gerne religiöse Motive in Anspruch und verbündet sich mit der religiösen Rechten und deren Ideal eines biblischen Eretz Israel. Dabei arbeiten Palästinenser nicht nur in israelischen Baufirmen, sondern als Pflegepersonal in Krankenhäusern und vielen sozialen Einrichtungen. Ohne sie würde der Alltag der normalen Israelis völlig anders ausschauen. Der Haaretz Journalist Ben Ziffer, der sich politisch selbst auf der Rechten verortet, spricht davon, dass Israelis und Palästinenser dazu verdammt sind zusammenzuleben.
Die größte Gefahr, die von dem Überfall der Hamas und der bevorstehenden Bodenoffensive ausgeht, ist, dass die Hermeneutik des Verdachts gegen andere Gruppen immer stärker und allumfassend wird. Die einen misstrauen allen Muslimen und allen muslimischen Organisationen. Die anderen misstrauen allem, was irgendwie entfernt mit Israel und Judentum zu tun hat. Die Folge wäre eine Vergiftung des politischen Klimas auf Jahrzehnte hinaus. Verschwörungstheorien haben die Eigenschaft, sich durch Ausweitung gegen Einwände immun zu machen. Das Ergebnis wäre ein Denken in homogenen Kollektiven, die keinen Raum für Widerspruch und Differenzierung lassen. Das wäre der Weg von der Apokalypse in das Fiasko. Wieviel Hoffnung bliebe dann noch für den Wunsch: Shalom für Israel, Salam für Palästina?
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Siegfried Weichlein ist ordentlicher Professor für Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Fribourg/Schweiz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die die Geschichte des Nationalismus, des Föderalismus und des Regionalismus, die Geschichte der Parteien, die Kulturgeschichte des Kalten Krieges, die politische Ikonographie und die moderne Religionsgeschichte des Christentums. Seit seiner Zeit als Studierender im Theologischen Studienjahr Jerusalem an der Dormitio-Abtei ist er den Fragen des Nahen Ostens verbunden.
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