Das Mädchen Bernadette aus Lourdes wurde «VON IHR» gesehen und sah «SIE». Monika Hungerbühler mit einem neuen Blick auf einen vielbesuchten Ort.
Die Welt sehen, wahrnehmen, betrachten sowie von der Welt (nicht) gesehen werden, (nicht) wahrgenommen, (nicht) betrachtet werden – das sind grosse Lebensthemen. Das Mädchen Bernadette aus Lourdes wurde gesehen und schaute etwas, was sie zutiefst berührt und verändert hat. Ich umkreise das Thema mit drei Beobachtungen.
Nicht gesehen werden
Als Baby und Kind Ende der 1950er-Jahre und 60er-Jahre war ich als ältestes Mädchen einer fünfköpfigen Familie einem mehr oder weniger strengen Regime schwarzer Pädagogik ausgesetzt, deren eine Maxime lautete: «Sich ja nicht von den Kindern auf der Nase herumtanzen lassen». Meine Mutter sah bzw. hörte mich zwar schreien, doch der (kinderärztliche) Plan sah vor, dass Kinder alle vier Stunden gefüttert werden sollen und es war nun mal noch nicht Zeit. Und Kinder, auch sehr kleine, muss man früh daran gewöhnen, dass sie nicht immer ihren Willen bekommen. So erfuhr ich früh, wie es sich anfühlte, nicht gesehen bzw. nicht gehört zu werden.
Sie wurde nicht gesehen und erkrankte darauf schwer.
In der Lebensgeschichte meiner vor zwei Jahren verstorbenen Mutter, Jg. 1933, gab es ebenfalls die Erfahrung des Nicht-Gesehenwerdens. Ihr Bruder starb mit vierzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall. Ihre Eltern – also meine Grosseltern – waren untröstlich und versanken in tiefer Trauer. Sie schafften es gerade noch, das jüngste ihrer Kinder, sieben Jahre jünger als meine Mutter, zu versorgen, doch meine Mutter musste mit ihren zwölf Jahren in dieser Situation mehr oder weniger allein zurechtkommen. Sie wurde nicht gesehen und erkrankte darauf schwer. Eine Hirnhautentzündung. Gesehen werden ist überlebensnotwendig.
Gesehen werden
850’000 Menschen sahen 2010 die LangzeitPerformance von Martina Abramovic «The Artist Is Present» im New Yorker Moma, bei der die Künstlerin zweieinhalb Monate lang täglich mindestens siebeneinhalb Stunden bewegungslos auf einem Stuhl sass und insgesamt 1560 Besucher:innen vom Museumsdirektor bis zum Reinigungspersonal einzeln in die Augen blickte. Diese Performance hat viele Menschen berührt, erschüttert und gar zum Weinen gebracht. Betrachtet werden, wahrgenommen zu sein, ein Gegenüber zu haben, das sich Zeit nimmt für mich und mich sieht, das ist der tiefe Wunsch wohl jedes Menschen.
Der Nerv und die tiefste Sehnsucht der Menschen
Martina Abramovic ist eine Künstlerin, die ihren Körper als künstlerisches Medium einsetzt und sie sagte in einem Interview, dass sie für diese Performance ein Jahr geübt habe, so lange sitzen zu können, so viele Stunden nicht auf die Toilette gehen zu müssen, siebeneinhalb bis acht Stunden nichts zu trinken (dazu hätte ich einige kritische Rückfragen, doch darum geht es im Moment nicht). Mit dieser Performance hat Abramovic ohne Zweifel sehr viel Geld verdient, doch sie hat auch den Nerv und die tiefste Sehnsucht der Menschen getroffen: die Menschen wollen und müssen gesehen und wahrgenommen werden! Sie installierte ihren Körper quasi als Göttin.
G’TT sieht
Hagar ist verzweifelt. Ihre Herrin Sarai hat sie dermassen gedemütigt, dass sie die Flucht ergriff. Nur weg aus diesem Haus! (Gen 16,6). Hagar flieht in die Wüste. Doch Adonaj findet sie an einer Wasserquelle. Adonajs Bote oder Botin spricht sie an, fragt nach dem Grund ihrer Flucht und schickt sie zurück zu Sarai. Das Wichtigste jedoch: Adonajs Bote/Botin verheisst ihr eine grosse Nachkommenschaft: »Sieh dich an, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären, den sollst du Ismaël nennen, ›Gott hört‹, denn Adonaj hat deine Demütigung gehört…“ (Gen 16,9-11) Hagar gibt Adonaj einen Namen: »Du bist El Roï, Gottheit des Hinschauens.« (Gen 16,13)
„El Roï“ – Gottheit des Hinschauens.
Einer der vielen Namen Gottes, die mir lieb sind, heisst „El Roï“ – Gottheit des Hinschauens. G’TT sieht die Menschen, G’TT sieht das Leid der Versklavten in Ägypten, das Schreien der Ungetrösteten. G’TT sieht die Schrecken der Kriege, sieht Ungerechtigkeit und tiefen persönlichen Kummer. G’TT ist sehendes Mitgefühl und Mitleid.
Diese Erfahrung hat das Mädchen Bernadette Mitte des 19. Jahrhunderts in einem pyrenäischen Dorf gemacht.
Bernadette wird gesehen und sieht
Bernadette Soubirou ist das älteste Kind eines Müllers und einer Näherin in Lourdes, einem kleinen Ort am Fuss der Pyrenäen. Die Soubirous erleiden einen Schicksalsschlag nach dem anderen und erleben einen finanziellen und gesellschaftlichen Abstieg: Arbeitslosigkeit, Wohnungsverweisung, Verdächtigung, Ausgrenzung, Verachtung… Die 14jährige Bernadette ist gesundheitlich angeschlagen, hat Magenprobleme und leidet nach einer durchstandenen Choleraepidemie an schwerem Asthma. Bernadette zählt zu den französischen Kindern dieser Zeit, die weder lesen noch schreiben können, weil sie arbeiten müssen. Nur zeitweise kann sie in die Schule für arme Mädchen gehen, die die Schwestern der Nächstenliebe von Nevers im Hospiz von Lourdes unterhalten.
„Sie sah mich an wie jemand, die mit jemand anderem spricht.“
Bernadette sieht in Massabielle, einem stinkenden Abfall- und „Unort“ ausserhalb des Dorfs in einer Felsnische eine „schöne Dame“ bzw. „une Damiselle“. Sie, die Nichtbeachtete, Verarmte, Kranke und Ungebildete erfährt, dass sie jemand ansieht und sieht etwas. Sie kann zwar lange nicht sagen, wen oder was sie sieht, doch sie stellt fest: „Sie sah mich an wie jemand, die mit jemand anderem spricht.“ Die schöne Dame bzw. das Fräulein ist so alt wie Bernadette, so gross wie sie (140 cm), barfuss wie sie, trägt ein helles Gewand mit blauem Gürtel und hat je eine gelbe Rose auf jedem Fuss. Die Dame sieht sie an, lächelt ihr zu, schweigt oder spricht im pyrenäischen Dialekt (und nicht auf französisch) mit Bernadette. Die Dame sagt zu Bernadette: «Wollen Sie die Gnade (grace) haben, vierzehn Tage lang hierherzukommen?» Bernadette, die Seherin und die Gesehene erfüllt diesen Wunsch gegen viele Widerstände und tut, worum sie die Dame gebeten hat.
Was oder wen sieht Bernadette?
Bernadette hatte 1858 achtzehn Erscheinungen in einer Grotte am Ufer des Gave-Flusses. Diese Ereignisse haben ihr Leben, das Leben ihrer Familie und des gesamten Ortes völlig verändert. Bis die schöne Dame sich am 25. März als „Unbefleckte Empfängnis“ (que soy era la Immaculada Councepciou) zu erkennen gibt, spricht Bernadette immer nur von ‚Aquerò‘. Das Wort stammt aus dem bäuerlichen Mundartvokabular von Lourdes und heisst so viel wie ‚das da‘ (celà).
‚Aquerò‘ – ‚das da‘ (celà)
Auch wenn Bernadette bei den Verhören für ihre ungebildete Ausdrucksweise häufig kritisiert wird, bleibt sie dabei und übernimmt bis zu diesem Tag an keiner Stelle die Bezeichnung von der Jungfrau Maria, die ihr von aussen immer wieder vorgegeben wird. Das Sprechen im Neutrum scheint wie ein Versuch, mit dem Bernadette stammelnd ihre Ehrerbietung gegenüber dem Unaussprechlichen ausdrückt. Dieses Sprechen gerät in die Nähe mystischer Sprache, die sich negativer, paradoxer oder neutralisierender Ausdrucksformen bedient, um sachgemäss von dem reden zu können, was ‚ganz anders‘ ist. Später freilich spricht Bernadette davon, dass sie die Heilige Jungfrau Maria gesehen habe.
Blickwechsel
In der berühmten Grotte von Lourdes direkt vor der Quelle, die Bernadette ausgegraben hat, steht ein Altar und es wechseln sich Priester im Akkord ab. Das Stück, das in Lourdes gespielt wird heisst jedoch schon lange nicht mehr „Aquerò – Das da“, sondern „Die römisch-katholische Kirche“. Sämtliche Hauptrollen werden von Priestern eingenommen. Der Kraft- und Lichtort, wo Bernadette „etwas“ gesehen hat, das sie ansieht und ihr damit Ansehen verleiht, dieser Ort ist zum Tummelplatz von Priestern aus aller Welt geworden. Bernadette selbst spielt in den Liturgien, ja überhaupt in Lourdes, kaum mehr eine Rolle. Sie ist quasi wieder zu einer „Übersehenen“ geworden. Es gibt zwar überall Fotos und Filme von ihr, doch Lourdes ist der Ort der röm.-kath. Kirche und ihrer Gebets- und Messordnungen geworden, zu dem pro Jahr ca. sechs Millionen von Pilgerinnen und Pilgern aus der ganzen Welt strömen. Doch neben der starren Liturgie in unzähligen Sprachen gibt es Bewegung.
Was schön ist
Die allabendlichen Lichterprozessionen sind einfach schön und geben Kraft. Man ist draussen unter freiem Himmel, das Wasser des Flusses gluggert, die Grotte ist nicht weit. Alle halten während des Refrains eines Lieds ihre Kerze empor, so dass ein lebendiges und wallendes Lichtermeer entsteht während des Singens: „Ave, ave, ave Maria!“ Es ist spürbar, dass die Menschen nicht nur ihre Kerze, sondern auch ihre Sorgen, ja ihr ganzes Leben dem Himmel hinhalten, dass G’TT DIE LEBENDIGE doch hinschaue. So klingt „Das Lied von Bernadette“ (Franz Werfel).
„Das Lied von Bernadette“ (Franz Werfel)
Natürlich sind auch die Prozessionen fest in priesterlicher Hand. Mädchen und Frauen spielen an diesem weiblichen Kraftort keine eigene starke Rolle als Seherinnen des Numinosen / Göttlichen. Sie bereiten die Kirchen und Kapellen vor für die Eucharistiefeiern oder räumen anschliessend auf.
SIE ist da
Was zieht mich inmitten dieser mir fremden gewordenen Frömmigkeit zu diesem Mädchen Bernadette, zu diesem sprudelnden Wasser, zu der Felsnische, wo Bernadette gesehen wurde und gesehen hatte? Bestimmt nicht die vielen Messen. Auch nicht die unzähligen Läden mit den Plastikmadonnen.
Mich berührt, mich als eine Mitgetragene zu erleben inmitten der vielen, „ganz normalen Gläubigen“ (so sagte es ein Kollege von mir, der auf die 2. Feministische Wallfahrt nach Lourdes mitkam, die ich im Sommer 2024 angeboten hatte) und das Gespür dafür, dass SIE da ist, die Heilige RUAH, Frau Weisheit. Die betenden und singenden, die kranken und gesunden Menschen tragen wie ich den Wunsch und die Sehnsucht in sich, gesehen zu werden in ihrem je eigenen So-Sein.
Monika Hungerbühler, kath. Theologin und Seelsorgerin, seit 2022 pensioniert.
Foto: Frank Lorenz
Quellen:
Artikel in FAMA 4/22, S. 16 Monika Hungerbühler, Wo sind die Mädchen. Feministische Wallfahrt nach Lourdes
Ursula Bernauer, Die schöne Dame von Lourdes. Geschichte und Geschehen tiefenpsychologisch gedeutet, Freiburg i.Br. 1995
Franz Werfel, Das Lied von Bernadette, Frankfurt/M 1941
Fotos: Monika Hungerbühler