In der Geschichte von Institutionen, ja ganzer Gesellschaften kommt es immer wieder vor, dass sie sich nach und nach schmerzlicher Selbstwidersprüche bewusst werden. Das führt notwendig zu harten internen Konflikten. Aktuell passiert das der katholischen Kirche. Was kann man aus vergleichbaren historischen Prozessen lernen? Von Rainer Bucher.
Wenn Selbstwidersprüche sichtbar werden
Wenn man nicht mehr länger verdrängen kann, in eklatante Selbstwidersprüche verstrickt zu sein, tut das weh. Das Schmerzliche an solchen Prozessen liegt in ihrer Unentrinnbarkeit, in den Konsequenzen, die sie fordern und im Potential an Identitätsdiffusion, das sie bereithalten. Bisher selbstverständliche Praktiken können nicht mehr fortgesetzt werden, obwohl sich nichts geändert hat außer eben: Man erkennt ihre Unhaltbarkeit vor den eigenen Ansprüchen und Normen. Man hat dann nur die Wahl zuzugeben, dass man bislang gegen die eigenen Grundsätze verstoßen hat, oder man muss die neu aufkommenden Einsichten mit viel Aufwand unterdrücken. Beides ist anstrengend, schmerzlich und hart.
Der Kampf gegen die Sklaverei und die Emanzipation der Frauen sind herausragende Beispiele für dieses Phänomen. Trotz des berühmten Satzes in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“, war Sklaverei in den USA bis 1865 legitim – und faktisch existierte sie noch länger. Ihre Abschaffung gelang erst in einem ausdauerenden Kampf und nach einem veritablen Bürgerkrieg.
Und trotz der Grundrechtsparagraphen der Weimarer Verfassung und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde der berüchtigte Gehorsamsparagraph § 1354 des Bürgerlichen Gesetzbuches – „Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung“ – erst 1957 aufgehoben und dürfen Frauen erst ab 1977 ohne Erlaubnis des Ehemannes eine außerhäusliche Arbeit aufnehmen. „Die Menschen haben zweitausend Jahre gebraucht, um die Schreckensbotschaft ‚all men are equal‘ in ihren Konsequenzen auch nur zu erahnen. Noch nicht einmal eine historische Sekunde lang, nämlich zwei Jahrzehnte, beginnt ihnen die noch völlig unabsehbare Katastrophe zu dämmern: ‚and women are equal too‘!“[1]so Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim 1990.
Es braucht offenkundig Zeit, bis universalistische Normen, die man gerne und nicht ohne Pathos vertritt, auch für jene gelten, die in den konkreten Praktiken bislang von ihnen ausgeschlossen wurden: Sklaven etwa, „people of colour“ oder eben: Frauen. Aber irgendwann setzten sich diese Normen auch für sie durch.
Wie Selbstwidersprüche sichtbar werden
Unter welchen Bedingungen kommt es dazu? Zum einen braucht es dazu mutige Menschen, welche die so lange tolerierte, weil zuerst nicht wahrgenommene, dann verschämt verschwiegene, schließlich von sensiblen Eliten offen thematisierte Selbstwidersprüchlichkeit zwischen normativen Grundlagen und deren konkreten Reichweitenbegrenzung benennen, öffentlich beklagen und Reformen einfordern. Zum anderen braucht es offenkundig spezifische soziale Ermächtigungs- und Aufstiegsprozesse von sozialen Trägergruppen solcher neuen Diskurse, die ihnen nach und nach Geltung verschaffen und ihre unbestreitbare Plausibilität auch politisch unverdrängbar werden lassen. Im Falle der amerikanischen Sklaverei war es der industrielle Aufstieg der Nordstaaten und der tendenzielle wirtschaftliche Abstieg der landwirtschaftlich geprägten, sklavenbesitzenden Südstaaten, im Falle der Emanzipation der Frauen war es die von der kapitalistischen Expansion vorangetriebene Integration von Frauen in den Bildungs-, Arbeits-, und Konsummarkt, welche die soziale Machtbasis der neuen Konstellation bildeten.
Derartige Konflikte werden hart und scharf geführt. Denn sie konfrontieren mit der heiklen Alternative, entweder die Erkenntnis der eigenen Selbstwidersprüchlichkeit autoritär zu unterdrücken, oder einzugestehen, dass man lange gegen eigene normative Grundsätze verstoßen hat. Beides schwächt die eigene Legitimation massiv. Beide Seiten wollen sich „treu bleiben“: die einen den bisherigen Praktiken, die anderen den bisherigen Normen. Die Verteidiger der bisherigen Praktiken haben zumeist die institutionelle Macht, die Proponenten der Veränderung die normativen Grundlagen (in konsequenterer Interpretation) auf ihrer Seite. Wo man konkret in diesen Konflikten steht, hat mit tiefen biographischen Prägungen zu tun – zumal im Bereich des Religiösen. Das verschärft solche Konflikte zusätzlich – wie auch die Tatsache, dass dabei meist aufsteigende Mächte und Gruppen einem tendenziell absteigenden Establishment gegenüberstehen.
Die amerikanische Sklavenbefreiung und die Frauenemanzipation des 20. Jahrhunderts markieren dabei alternative Modelle, mit solchen Konflikten umzugehen. Während die amerikanische Sklavenbefreiung zu einem Bürgerkrieg führte, wurde die rechtliche Gleichstellung von Frauen durch eine Serie von Reformgesetzen nach und nach verwirklicht: von der Einführung des Frauenwahlrechtes gegen Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur völligen individuellen Freistellung von Geschlechtsidentitäten zum Beginn des 21. Jahrhunderts.
Katholische Selbstwidersprüche
Wie unschwer zu erkennen, befindet sich die römisch-katholische Kirche aktuell in solch einem Konflikt schmerzhaft erkannter Selbstwidersprüchlichkeit. Etablierte Praktiken (die potestas plena der Kleriker, der innerkirchliche Absolutismus, patriarchale Praktiken und Mentalitäten) stehen gegen deren nicht mehr länger verdrängbarem Widerspruch zu eigenen Grundnormen. Auch in diesem katholischen Konflikt steht Treue zum Bisherigen gegen Treue zu normativen Grundlagen, stehen aufsteigende Gruppen gegen etablierte Machthaber im Abstieg. Die Diskriminierung von Frauen, der innerkirchliche Absolutismus, die Machtkonzentration allein bei Klerikern, sie werden nach und nach nicht nur als Verstoß gegen mittlerweile etablierte säkulare Normen, sondern auch als Verstoß gegen grundlegende christliche Prinzipien erkannt und erlebt.
Spätestens seit die katholische Kirche die universalen Menschenrechte nicht mehr bekämpft, sondern im Gegenteil als Konsequenz der eigenen Tradition – etwa der Gottebenbildlichkeit des Menschen, als Folge der durch den Schöpfungsbericht geforderten „Einheit der Menschheit“ und als Konsequenz des Gebots der universalen Nächstenliebe – für sich beanspruchte, wurden innerkirchliche Menschenrechtsdefizite[2] zunehmend unplausibel. Die globale Relevanz dieses Konflikts abzustreiten, die sich allein aus der weltweiten Geltung der universalen Menschenrechte und der tendenziellen Hegemonie und Attraktivität des westlich liberalen Gesellschaftsmodells ergibt, gehört dabei bereits zur oben beschriebenen Verdrängungsstrategie neuer Einsichten.
Das ancien regime kommt in solchen Situationen notwendig in die Defensive, die bisherigen, von ihm gestützten Praktiken verlieren ihre „Unschuld“ und jedenfalls ihre Selbstverständlichkeit und die Institution nach und nach ihre Glaubwürdigkeit. Sie verliert damit übrigens auch ihre gesellschaftliche Interventionsfähigkeit. Gerade dieser Verlust wird von den innerkirchlichen Autoritäten dann durchaus auch realisiert und in der (natürlich hilflosen) Forderung kommuniziert, man möge sich doch etwa als Laiengremium nicht mit innerkirchlichen Angelegenheiten beschäftigen, sondern mit der Evangelisierung der säkularen Gesellschaft und überhaupt der Zukunft des christlichen Glaubens. So richtig diese Forderungen grundsätzlich sind, verschleiern sie nur, dass dies alles erst gelingen kann, wenn diese Wünsche nicht kompensatorische Selbstermächtigungsversuche gegen den eigene Autoritätsverlust, sondern Konsequenz der eigenen Autorität sind.
Welche Entscheidung ansteht
Wie die Geschichte zeigt, werden über kurz oder lang der soziale Aufstieg der Trägergruppen der selbstkritischen Diskurse zusammen mit deren innerer Plausibilität und Normativität mit großer Wahrscheinlichkeit – Notwendigkeiten gibt es in der Geschichte nicht – zur Durchsetzung der geforderten Reformen führen. Nur was geschieht bis dorthin? Und welche Opfer wird es kosten?
Nun ist bemerkenswert, mit welcher bislang unbekannten Entschlossenheit die deutschen Bischöfe in ihrer großen Mehrheit den Reformkurs des deutschen Synodalen Weges auch gegen römische Widerstände und Kritik verfolgen. Offenkundig ahnen oder erkennen die deutschen Bischöfe zunehmend ihre und der katholischen Kirche ziemlich desaströse Lage. Sie realisieren in ihrer Mehrheit: Intellektuell, politisch und gesellschaftlich gibt es kein Zurück. Vielleicht erkennen manche dies sogar als religiöses Problem.
Letztlich bleibt die Entscheidung, ob die katholische Kirche den Weg der USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts geht und einen erbitterten innerkatholischen Kulturkampf mit hohem Verwüstungspotential riskiert, oder ob die Kirche den Weg der westlichen Gesellschaften einschlägt, die nach und nach rechtliche Regelungen zur Gleichstellung von Frauen, machtkontrollierende Strukturen und rechtssichernde Verfahren eingeführt haben und generell Widersprüche in ihrer Menschenrechtspraxis, langsam, sicher auch zu langsam, aber eben dann doch konsequent abgebaut haben und hoffentlich weiter abbauen.
Papst Franziskus hat vor Kurzem den deutschen Synodalen Weg ein Projekt von Eliten genannt. Da hat er sicher Recht. Nur: Diese Eliten vertreten die Positionen der übergroßen Mehrheit der deutschen Katholikinnen und Katholiken. Und er hat angemerkt, man brauche keine zweite evangelische Kirche. Auch da hat er ja vielleicht Recht. Man sollte freilich nicht übersehen, warum sie entstand.
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Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Siehe auch:
[1] Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt/M. 1990, 23.
[2] Vgl: Rainer Bucher, Diskurse und Praktiken von Menschenwürde und Menschenrechten als Herausforderung der Kirche im Spätkapitalismus, in: M. Baumeister/M. Böhnke/M. Heimbach-Steins/S. Wendel (Hrsg.), Menschenrechte in der katholischen Kirche, Paderborn 2018, 129-140.
Bild: Rainer Bucher
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