„Die kostbarsten Güter soll man nicht suchen, sondern erwarten.“ Elisabeth Pernkopf über Simone Weil und das Leben, das im Warten liegt.
„Les biens les plus précieux ne doivent pas être cherchés, mais attendus.“: „Die kostbarsten Güter soll man nicht suchen, sondern erwarten.“ Dieser Satz steht auf der verglasten Brücke zu lesen, die die beiden Gebäude der Grazer katholisch-theologischen Fakultät verbindet und mit Zitaten aus der Philosophie- und Theologiegeschichte beschriftet ist. Er stammt von der französischen Philosophin Simone Weil (1909-1943), die in ihrem kurzen Leben vor allem sozialpolitisches Aufsehen erregte und sich so sehr verausgabte, dass sie so unterschiedliche Zuschreibungen wie „vierge rouge/rote Jungfrau“ oder „Mystikerin“ auf sich zog. Nelly Sachs nannte sie „eine große Beunruhigende“.
„Eine große Beunruhigende“
Der genannte Satz stammt aus einem Aufsatz, den Simone Weil auf dem Weg ins Exil 1942 in Marseille unter der Überschrift „Betrachtungen über den rechten Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums im Hinblick auf die Gottesliebe“1 verfasste. Darin legt sie Begriff und Praxis von Aufmerksamkeit, attention, dar. Aufmerksamkeit ist für sie der „Stoff“, aus dem Gottes- wie Nächstenliebe gemacht sind. Dafür braucht es attente, das Warten: „Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten […] vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.“
Der „Stoff“, aus dem Gottes- wie Nächstenliebe gemacht sind
Wie kann die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit entwickelt werden? Die „Ausbildung unseres Vermögens zur Aufmerksamkeit“ ist nach Simone Weil „das wahre Ziel des Studiums und beinahe das einzige, was den Unterricht sinnvoll macht“. Die Absolventin der École normale supérieure unterrichtete einige Jahre lang Philosophie, aber auch Literatur und alte Sprachen. Sie wählt Übersetzungs- und mathematische Aufgaben, um zu verdeutlichen, wie sie es ermöglichen, Aufmerksamkeit zu üben und zu vertiefen. Beim Bearbeiten solcher Aufgaben geht es demnach weniger um das Finden einer Lösung als um „eine echte Anstrengung von Aufmerksamkeit“.
Das ist nicht die Anstrengung angespannter Muskeln oder zusammengebissener Zähne, denn der Intellekt wird bei Simone Weil nicht vom Willen, sondern vom désir, von Verlangen oder Begehren, geleitet: „Nur das Begehren kann unser Erkenntnisvermögen führen.“ Irrtümer in einer Übersetzung oder Unsinn in der Lösung geometrischer Aufgaben resultieren demnach daraus, die jeweilige Sache „voller Hast“ angegangen zu sein, zu sehr nach einer Lösung gesucht zu haben, statt sie zu erwarten und so zu finden.
Zuversicht, dass sich etwas wie Erkenntnis „herbeisehnen“ lässt
Die Zuversicht, dass sich etwas wie Erkenntnis „herbeisehnen“ lässt, unterstreicht Simone Weil mit einem Märchen: „Der Rabe, der in der ewigen Nacht keine Nahrung finden konnte, begehrte nach dem Licht, und es ward hell über der Erde.“ Das Begehren des Lichts bringt Licht hervor. Doch selbst wenn sich die fachlichen Schwierigkeiten einer Schul- oder Studienaufgabe nicht lösen lassen, so gelten Simone Weil die darauf verwendeten Anstrengungen als nicht vergeblich, denn eines Tages können sie „in einer anderen Dimension“ wirksam werden.
Wenn heute in der Didaktik allerorts von Kompetenzorientierung zu hören ist, lesen sich solche Überlegungen zunächst kurios. Das könnte allerdings auch Zugang „voller Hast“ sein. Immerhin geht es der Denkerin um eine praktisch einzuübende Haltung, ein Können, das freilich nicht standardisiert prüfbar ist. Lehrerinnen und Lehrer nimmt die Denkerin in die Pflicht: Schülerinnen, Schülern und Studierenden diese Methode, diese Art des Wartens nahezubringen, und zwar in konkreten Übungen. Die damit verbundene Aufmerksamkeit ist keine Leistung im Sinne willentlichen Hervorbringens, sondern eine „negative Anstrengung“ im Wahr- und Annehmen dessen, was sich im Warten zeigt. Dieses Warten weiß nicht schon, worauf es wartet, sondern meint eine offene Haltung, der etwas wie Erkenntnis aufgehen kann.
Diese Haltung von Wachen, Warten und Aufmerksamkeit
Die Lösung eines geometrischen Problems mag für sich genommen auch noch kein „kostbares Gut“ sein, bei Simone Weil ist sie aber ein Gleichnis dafür. Als Gleichnis ähneln bei Simone Weil Schulübungen einem „Sakrament“. (Sie schrieb das als Ungetaufte.)
Schule und Studium können und sollen nach Simone Weil also eine vielschichtige Aufmerksamkeitsfähigkeit entwickeln lassen, die Kostbares erwarten lässt – das Licht der Erkenntnis, den Anruf des Nächsten, die Schönheit der Welt, die Ankunft Gottes, wenn er denn naht. Aufmerksamkeit erwartet nichts Bestimmtes, eigenen Vorstellungen Entsprechendes, und am wenigsten kann Gott bestimmt sein. „Es ist nicht Sache des Menschen, auf Gott zuzugehen, sondern Sache Gottes auf ihn zuzugehen. Der Mensch muß nur zusehen und warten“, schreibt sie in ihren Cahiers.2 Simone Weil fordert diese Haltung von Wachen, Warten und Aufmerksamkeit in Schule und Studium, in Freundschaft und Mitmenschlichkeit, in der Politik und für das Gebet.
„Der Zeit gehorchen“
Warten ist ihr auch Methode der Philosophie, wenn sie zu Beginn ihres Londoner Notizbuchs 1943 notiert: „Die eigentliche Methode der Philosophie besteht darin, die unlösbaren Probleme in ihrer Unlösbarkeit klar zu erfassen, sie dann zu betrachten, weiter nichts, unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten.“ Warten zu können auf Unbestimmtes hin, ohne sein Ziel und seinen Gegenstand vorweg zu nehmen, ist kein ängstliches Abwarten oder gelangweiltes Zuwarten, das sich jeweils auf Bestimmtes richtet. Es bedeutet nicht weniger als „der Zeit [zu] gehorchen“. Simone Weil hat das menschliche Verhältnis zur Zeit insbesondere in und nach ihrem Experiment als Fabrikarbeiterin bedacht. Die „Flucht vor dem wirklichen Leben mit seinen Begrenzungen und der wesentlichen Begrenzung, der Zeit“ gilt ihr als Versuchung.
Zeit ist unverfügbar, im Warten wird Zeit erfahren. Warten geschieht in der Gegenwart. Diese Passivität, das vermeintliche Nichts-tun ist aktiv und buchstäblich präsent. Die potentielle Wirksamkeit des Wartens, „durch die die Zeit einen aus der Zeit hinausführt“, scheut Simone Weil sich nicht, „Gnade“ zu nennen. „Warten ist handelnde Passivität des Denkens. Warten ist verwandeln von Zeit in Ewigkeit.“
Was Simone Weil mit Gnade oder Ewigkeit umschreibt, kann unabsehbar in das ausgerichtete Warten eintreten, sodass sich ein Übergang vollzieht in eine menschliche Fähigkeiten übersteigende Dimension. Dazu werden dann auch die das Warten einübenden, sonst vielleicht ergebnislosen Anstrengungen von Schulunterricht und Studium Vorübungen gewesen sein. Wiederholt zitiert Simone Weil aus dem Lukasevangelium: „Er wird im Warten Früchte tragen.“ (Lk 8,15)
„Er wird im Warten Früchte tragen.“ (Lk 8,15)
Warten spiegelt einen Verzicht auf Herrschaft, bei Simone Weil nicht weniger als jenen Gottes. Gott wartet bei Simone Weil: „Gott wartet wie ein Bettler, der aufrecht, reglos und schweigend vor jemandem dasteht, der ihm vielleicht ein Stück Brot geben wird. Die Zeit ist dieses Warten. Die Zeit ist das Warten Gottes, der um unsere Liebe bettelt.“ Das von Simone Weil damit gezeichnete Gottesbild ist das eines Gottes, der sich soweit zurückgenommen hat, dass er wartend den Menschen anbettelt.
Um diesem Gott ähnlich zu sein, lässt sich eine vergleichbare Haltung annehmen: „Demut im Warten macht uns Gott ähnlich. […] Demut ist eine bestimmte Beziehung der Seele zur Zeit. Sie ist ein Annehmen des Wartens.“ Daraus leitet Simone Weil eine Forderung ab: „Gott ist Aufmerksamkeit ohne Ablenkung. Man muß das Warten und die Demut Gottes nachahmen.“
Wenn man wie Ingeborg Bachmann in ihrem Radio-Essay zu Simone Weil 1955 auch bemerken kann, dass „dieser Teil des Wegs von Simone Weil nicht gangbar“ ist für einen, so gibt er doch zu denken: Welche Erfahrungen absichtsloser Präsenz sind einem heute möglich, wenn Zeit zumeist ökonomisiert verstanden wird? Was regt an, offenes Warten zu üben, in dem vielleicht eine unabsehbare andere Dimension aufgeht? Was hält den Anspruch wach, sich verstören zu lassen und sich nicht im Imaginären einzurichten? Welches Leben liegt im Warten?
Freilich scheinen solche Fragen jeglichem leistungsorientierten Effizienzdenken zuwider zu laufen. Immerhin empfiehlt aktuelle Lebenskunstliteratur, die „verlernte Kunst“ des Wartens wieder zu kultivieren und propagiert sie als „Gegenmodell zur Beschleunigung“ (Timo Reuter 2019). Simone Weils Haltung aufmerksamen Wartens will weniger und mehr zugleich. Les biens les plus précieux ne doivent pas être cherchés, mais attendus.
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Elisabeth Pernkopf, Dr. theol., unterrichtet Angewandte Mathematik und Religion (kath.) an der HLW Sozialmanagement der Caritas der Diözese Graz-Seckau.
- In deutscher Übersetzung von Friedhelm Kemp in: Simone Weil, Zeugnis für das Gute, Zürich: Benziger 1998, 52-62. Französisch in den Ouevres complètes IV.1 (2008) 255-262. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Aufsatz. ↩
- Die nun folgenden Zitate sind den Cahiers entnommen. Simone Weil: Cahiers. Aufzeichnungen. 4 Bände. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, München: Hanser 1991-1998. (C2 201/C4 317/C4 90/C1 132/C4 76/C4 131f.) ↩