Wenn die Menschen sich nicht im Zentrum der Wirklichkeit verorten und nur sich selbst Rechte zusprechen, ergibt sich für Johanna Di Blasi die Chance zu einem veränderten Zusammenleben mit Tieren und Pflanzen.
Es gibt mehr Personen im Kosmos als viele denken: Leute mit Fell, Schuppen oder Kleidern aus Sternenstaub. Jedenfalls wenn man einer Richtung folgt, die sich «Neue Ontologien» nennt – und die von einer Vielzahl an Weltzugängen ausgeht. Vom 1. September bis zum 4. Oktober ist wieder ökumenische „Schöpfungszeit“.[1] Ein Anlass, um verstärkt über die „Ehrfurcht vor dem Leben“ nachzudenken, wie Albert Schweitzer es formulierte.
Erfurcht vor dem Leben
Mehr als hundert Jahre liegt es inzwischen zurück, als der Arzt, Forscher und Philosoph bei einer Bootsfahrt am afrikanischen Ogowe-Fluss einer Herde Nilpferde begegnete. Es war abends, bei Sonnenuntergang. Vor kurzem war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Urplötzlich kam dem Philosophen und Forscher der Begriff
„Ehrfurcht vor dem Leben“ in den Sinn – „ungeahnt und nicht gesucht“.[2] Die Tiere riefen dem Boot brüllende Laute nach, wie wenn Kinder in eine Giesskanne trompeten, nur lauter. „Wunderschön und aufregend.“
Tiervergessenheit der Theologie
Seither wird das „Ogowe-Erlebnis“ immer und immer wieder zitiert. Neben Franz von Assisis betörendem „Sonnengesang“. Franziskus ruft in dem Gebet Wind und Sonne als Brüder und die Erde als Mutter und Schwester an. Diese beiden Autoritäten werden aus einer gewissen Verlegenheit heraus zitiert. Tiere erschienen nämlich die längste Zeit nicht theologiewürdig. Das arme Schwein, das dumme Huhn, der geile Hengst. Bis heute können sich viele Leute Tiere in Kirchen gar nicht vorstellen. Ausser vielleicht aufgemalt oder in Form von Schwalben, wenn sie sich in die Gemäuer verirren. Eine Ausnahme bildete Karl Barth. Der reformierte Theologe liess offen, wer mehr wiegt vor Gott: „Was wissen wir, ob es sich wirklich so verhält, dass der äußere Kreis der anderen Geschöpfe nur um des inneren, nur um des Menschen willen da ist? Was wissen wir, ob es sich nicht gerade umgekehrt verhält? Was wissen wir, ob nicht beide Kreise, der äußere und der innere, je ihre eigene Selbständigkeit und Würde, je ihre besondere Art des Seins mit Gott haben?“[3]
Peinlich berührender
Anthropozentrismus
In den zurückliegenden zehn bis fünfzehn Jahren ist die Lücke schmerzlich bemerkt worden. Zahlreiche Forschungsprojekte und Publikationen widmen sich inzwischen dem Thema. An der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster existiert sogar ein Lehrstuhl für Theologische Zoologie. „Theologie der Tiere“ ist mittlerweile fast schon ein Hype.
Die „Tiervergessenheit der Theologie“ (Rainer Hagencord) hatte gewiss vielfältige Gründe. Abgrenzung von vorchristlichen Opferritualen und „heidnischer“ Kultur gehörte dazu. Und natürlich der auffallende und zunehmend peinlich berührende Anthropozentrismus unserer christlichen Offenbarungsreligion. Für andere Geschöpfe schien bei uns lange Zeit kein Platz zu sein; ausser vielleicht als Symbol: Heiliger Geist als Taube, Symboltiere der Evangelisten oder Ochs und Esel an der Krippe.
Die christlichen Kerntexte sind exklusiv um den Menschen und die drei Personen der Trinität herumgebaut: Gott, Sohn, Heiliger Geist. Philosophisch betrachtet ist eine Person ein individuelles Wesen mit einer komplexen Identität: mit Bewusstsein ausgestattet, Fähigkeit zu denken und sich selbst zu reflektieren, äusserer Erscheinung und Innenleben, emotionalen, sozialen und ethischen Dimensionen. Tiere können da nicht mithalten, oder? Aber was sind Tiere?
New Ontologies: ein faszinierendes Feld
Ein faszinierender Strang der aktuellen Anthropologie konzentriert sich auf das Tier-Mensch-Verhältnis in (nicht-westlichen) Philosophien. Dort stösst man auf Ausweitungen des Personenbegriffs: auf Tiere, Geister, Tote. Als belebt gelten ausserdem auch kosmische Phänomene, manche Dinge und sogar Artefakte.
Die indigene Annahme
einer Vielheit der Körper
Als „amerindianischen Perspektivismus“[4] beschreibt der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro („Kannibalische Metaphysiken“) schamanische Rollenwechsel. Der Perspektivismus enthülle, dass Raubtiere und Geister Menschen als Nicht-Menschen und Beute ansehen, aber sich selbst als Menschen: mit eigenen Häusern, Dörfern, Gewohnheiten und Eigenschaften im Lichte einer Kultur.
Was wir Blut nennen, sei dem Jaguar Maisbier, was wir für eine Schlammgrube halten, erfahre der Tapir als grosses Zeremonienhaus, und der Geier sehe Würmer im verfaulten Fleisch als gebratenen Fisch an.
Der Amazonasforscher beschreibt als auffallenden Unterschied zum westlichen Denken die indigene Annahme einer Vielheit der Körper (menschlich, tierisch, göttlich), aber Einheit der Seelen. Im westlichen Denken wird dagegen die körperliche Ebene als Verbindendes angesehen und die Seele als etwas Spezifisches.
Der Menschen und Tieren gemeinsame ursprüngliche Zustand sei im Licht des „amerindianischen Perspektivismus“ nicht die Animalität, sondern die Menschlichkeit, behauptet Viveiros de Castro.
Vom Anthropozentrismus zum Anthropomorphismus
Im subarktischen Gebiet wie in vielen amazonischen Gesellschaften seien Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen „vor allem Beziehungen von Person zu Person“, hebt auch der französische Anthropologe Philippe Descola in seinem einflussreich gewordenen Buch „Jenseits von Natur und Kultur“ hervor; auch er ein Vertreter der „New Ontologies“.[5] Eine ungewöhnliche Sichtweise? Sicher. Interessant ist, was aus dem Perspektivismus folgt: Wenn auch Nicht-Menschen Personen und komplexe Entitäten sind, leitet sich daraus eine universale Aufgabe zum Connecten ab. Die Herausforderung: Angelegenheiten, etwa den Umgang mit Jagdgebieten, mit Anders-als-Menschen Akteuren „auszuhandeln“.
Soziale Beziehungen mit
Anders-als-menschlichen Wesen
Eine solche Sichtweise hat nichts mit Naturromantisierung zu tun, sondern mit Begegnung auf Augenhöhe.[6] Soziale Beziehungen mit Anders-als-menschlichen Wesen zu pflegen und zu festigen, sei, erklärt Descola, nicht exklusive Aufgabe von Schamanen, sondern von jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied. Seit einigen Jahren gibt es Bemühungen, nicht nur Tieren, sondern auch Flüssen oder Wäldern einen eigenen Rechtsstand zuzubilligen. Der französische Anthropologe Bruno Latour regte an, das Anliegen solcher „Akteure“ in einem „Parlament der Dinge“ zu berücksichtigen.[7]
Kannibalische Metaphysiken
Wenn auch Tiere Personen sind (oder zumindest als solche angesehen werden), kommt ihr Verzehr einer Form von Kannibalismus gleich. Wer dennoch auf Fleischverzehr nicht verzichten mag oder kann, bemüht sich um Ausgleichsrituale oder tötet und verzehrt tierische Körper zumindest nicht gedankenlos.
Ein Schamane namens Ivaluardjuk aus der Gegend des kanadischen Territoriums Nunavut artikulierte in den 1920er-Jahren gegenüber dem Ethnologen Knud Rasmussen als seine grösste Sorge für das Dasein: „… dass die Nahrung der Menschen schliesslich ganz und gar aus Seelen gemacht ist“. Wie verschlungen („entangled“) menschliches und tierisches Schicksal in indigenen Philosophien gedacht wird, zeigt sich auch in der Vorstellung, dass Seelen harpunierter Robben in den Kindern der Jäger wiedergeboren werden.
Bloße Vermenschlichung
von Tieren und Dingen?
Der Glaube an wandernde Seelen mag fremd erscheinen, nicht aber das zugrunde liegende Dilemma. Dieses lässt sich so auf den Punkt bringen: Wie soll ich mich des Lebens eines Anderen bemächtigen, der mit denselben Attributen und Empfindungen ausgestattet ist wie ich, ohne mit dieser zerstörerischen Tat die Bindungen zu ruinieren, in die ich als Geschöpf existenziell eingewoben bin?
Die ältere Ethnologie hat in animistischen und totemistischen Religionen abwertend „Vermenschlichung“ von Tieren oder Dingen gesehen, eine primitive Form von Anthropozentrismus. Vor dem Hintergrund einer ökologisch aus den Fugen geratenen Welt erfolgt heute eine Neubewertung und Rehabilitierung indigener Philosophien: als alternative Weltbezüge und Denkfiguren, nicht weniger komplex als unsere westlichen.
Eine Überlebensfrage für alle
Für mich besteht überhaupt kein Zweifel darin, dass wir als Christ:innen von Indigenen lernen können und sogar müssen. Hundert Jahre nach Schweitzers Schicksalsbegegnung mit einer Herde Nilpferde am Ogowe-Fluss und mitten im sogenannten „Sechsten Massenaussterben“[8] ist die Frage nach der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zur Überlebensfrage für alle geworden.
Arroganz gegenüber
den Mitgeschöpfen
Nachtrag: Als ich im vergangenen Herbst Rio de Janeiro besuchte, wo Viveiros de Castro lebt, erzählte man mir, dieser habe sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen: aus Frustration über Raubbau und weitere Vernichtung von Lebensräumen Indigener im Amazonasgebiet unter dem evangelikal-frommen Ex-Präsidenten Jair Messias Bolsonaro. In solchen Politiken schreiben sich fatale Geringschätzung und Arroganz gegenüber der Natur und den Mitgeschöpfen bis heute fort.
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Johanna Di Blasi ist promovierte Kunsthistorikerin, Kulturjournalistin und Podcasterin. Als Mitarbeiterin der reformierten Landeskirche in Zürich ist sie für die Online-Plattform RefLab tätig. Dort schreibt sie die Blogserie «Wildwechsel» mit Tierbegegnungen.
Foto: Glen Michaelsen / unsplash.com
Literatur:
Eduardo Viveiros de Castro: Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer post-strukturalten Anthropologie, Berlin 2019
[1] Die Schöpfungszeit wurde 2007 von der so genannten dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung der Kirchen ausgerufen.
[2] Albert Schweitzer: Die Ehrfurcht vor dem Leben – Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. München 1966, S.20
[3] Karl Barth: Kirchliche Dogmatik, Bd. III, Zollikon 1959
[4] Im dekolonialen lateinamerikanischen Diskurs wird der Begriff «indianisch» weiterhin verwendet. Im angelsächsischen postkolonialen Diskurs wird er als diskriminierend angesehen; man spricht hier z.B. von First Nations People oder Indigenous People.
[5] Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur, Suhrkamp 2011
[6] Bekanntlich gehört zur Kolonialgeschichte des Westens nicht nur die Abwertung anderer Kulturen, sondern auch das Absprechen der Seele. Eine Anekdote, die Claude Lévi-Strauss gerne erzählte, handelt zur Zeit der Entdeckung Amerikas: Die Spanier entsenden eine Untersuchungskommission zu den grossen Antillen, um herauszufinden, ob «Eingeborene» eine Seele besitzen. Auch Indigene haben ein Forschungsanliegen. Sie graben weisse Gefangene ein, um herauszufinden, ob deren Körper verwesen. Die Spanier untersuchen, ob Indios Tiere oder Menschen sind, die Indigenen, ob die Eroberer Menschen oder Götter sind.
[7] Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Suhrkamp 2009.
[8] Laut einem 2019 veröffentlichten UN-Report sind eine Million Arten vom menschlich verursachten Massenaussterben bedroht. Man spricht auch vom „Sechstes Massenaussterben“.