Was haben Christentum und Sklaverei miteinander zu tun? Und: Wer wurde bisher nicht aus dieser befreit? Thomas Ruster geht dem Charakter der Sklaverei und seiner Verquickung mit der Theologie auf die Spur.
Taufe, Firmung und Weihe verleihen einen „unauslöschlichen Charakter“, so lehrt es die klassische katholische Theologie. Praktisch bedeutet dies, dass sie nicht wiederholt werden können, ja nicht wiederholt werden dürfen, denn sie bezeugen die unzerstörbare Treue Gottes. Mit dem Hinweis auf die Unwiederholbarkeit hat es die Theologie in dieser Sache meist bewenden lassen. Der sakramentale Charakter führt eine Randexistenz in der Tradition. Aufhorchen lässt jedoch die starke Metaphorik, mit der Augustinus die Verleihung des character beschreibt. Er spricht von einem Fixieren, Einprägen, Eindrücken oder auch mit dem Verb infigere von einem Hineinheften, -stoßen, -schlagen, -bohren, Aufspießen oder Schmettern; auch das Beibringen einer Wunde wird mit diesem Wort bezeichnet.
Der sakramentale Charakter hat seine Analogien in Räumen der Gewalt.
Der sakramentale Charakter hat seine Analogien in Räumen der Gewalt. Als Bilder zieht Augustinus die Markierung eines Soldaten mit dem kaiserlichen character oder die Kennzeichnung von Schafen durch eine nota heran. Auch beim sakramentalen Charakter geht es um Übereignung, Zugehörig-Machen, Eigentum werden. Und zwar unwiderruflich. Er ist der Konsekration einer Kirche oder heiliger Gegenstände zum gottesdienstlichen Gebrauch vergleichbar. Im theologischen Sinne verleiht der Charakter dem Empfänger oder der Empfängerin des Sakraments eine eigentümliche Heiligkeit (sanctitas), zwar nicht im Sinne der heiligmachenden Gnade, sondern im Sinne der Zugehörigkeit zu dem Heiligen, zu Gott. Sie ergreift den getauften Menschen innerlich und wirklich und kann auch vom Häretiker nicht abgetan werden, auch wenn sie ihm nicht zum Heile gereicht. Der Charakter wirkt unabhängig von der Zustimmung des/der Getauften und seiner/ihrer sittlichen Verfassung. Er kommt auch dann zustande, wenn der Spender des Sakraments unwürdig und verdorben ist, denn es ist eigentlich Christus, der den Charakter verleiht.[1] Jemandes Eigentum werden – Selbstverfügung aufgeben – vergleichbar mit Sachen und Tieren – ein untilgbares Zeichen der Zugehörigkeit eingebrannt bekommen: In welcher Welt befinden wir uns?
eigentlich Christus, der den Charakter verleiht
Die Berliner Philosophin Iris Därmann ist der Frage nachgegangen, welche Funktion die Nummerntätowierung in Auschwitz hatte und auf welche historischen Vorbilder sie verweist.[2] Nummern wurden nur in Auschwitz eintätowiert, wohl wegen der Größe des Lagers und dem damit verbundenen bürokratischen Aufwand; man macht sich keine Vorstellung, mit wie viel Bürokratie die Vernichtung verbunden war. Durch die Nummern konnte man Tote einfacher identifizieren und registrieren. Die Häftlinge wurden nach der Tätowierung nur noch mit ihrer Nummer angesprochen und mussten sich mit dieser präsentieren, auch wenn sie die deutsche Sprache nicht beherrschten. Ihr Name war ausgelöscht. Die am besten nachgewiesene Verwendung der Nummern stand im Zusammenhang des Programms „Vernichtung durch Arbeit“, das auf höhnische Weise auch für das Lagermotto „Arbeit macht frei“ Pate stand.
…dienten die Nummern auch der Degradierung, Diffamierung und Kriminalisierung.
Die Arbeitsleistungen, die die noch arbeitsfähigen Insassen für die rund um das Lager angesiedelten Firmen zu erbringen hatten, ihre Zuteilung zu Arbeitskommandos, die Aufzeichnung ihrer Arbeitsleistung und deren Auflistung in Rechnungen, die die Lagerverwaltung an die Firmen für das Entgeld der geleisteten Arbeit ausstellte, wurden durch die Nummern erleichtert. Über die bürokratische Erfassung hinaus dienten die Nummern auch der Degradierung, Diffamierung und Kriminalisierung der Häftlinge. Es gab unterschiedliche Codes für Jüd:innen, „Zigeuner:innen“, sowjetische Kriegsgefangene und „Erziehungshäftlinge“.
Wer zur Vernichtung bestimmt ist, wird zur Nummer gemacht.
Die Nummerntätowierung wurde schon seit Ende des 19. Jh. in der Tierzucht und Tierhaltung bei Rindern, Schweinen, Schafen, Ziegen und Kaninchen eingesetzt. Die Firmen, die die entsprechenden Geräte an das KZ lieferten, waren mit hoher Wahrscheinlichkeit solche, die sie auch für die Tierzucht herstellten. An Tieren wird die auf den Leib gebrachte Nummerierung auch heute geübt. Seit der Antike ist die Anbringung von in die Haut eingebrannten Eigentums- und Strafzeichen bei Sklavinnen und Sklaven bezeugt. Ein Muster wird erkennbar: Wer zur Zwangsarbeit und/oder zur Vernichtung bestimmt ist – in Auschwitz kam beides überein – wird seines Namens, seiner Identität und seiner Würde beraubt, wird zum bloßen Instrument, zur Ware, zur Körpermasse, zur Nummer gemacht.
Der Wille Gottes…
Wäre Därmann bei ihrer historischen Motivsuche weiter zurückgegangen, wäre sie auch auf den character indelebilis gestoßen. Auch hier handelt es sich um ein körperliches Einprägen, um Eigentumsübergabe im Kontext von Sklaverei. Nicht ohne Grund gebrauchen Augustinus und die Kirchenlehrer, die ihm vorangegangen und gefolgt sind, beim character die Sprache der Sklaverei. Ambrosius ist hier zu erwähnen, von dem Augustinus den christlichen Glauben gelernt hatte. Dessen Verachtung für die Sklav:innen wird nur noch von seiner Verachtung für die Frauen übertroffen.[3] Hier sprechen Angehörige der römischen Oberschicht, die nicht gewillt waren, die Sklavenhaltergesellschaft aus christlicher Sicht in Frage zu stellen. Sie sahen sie im Willen Gottes begründet, wenn auch in einer umwegigen Konstruktion: Im Urzustand waren alle Menschen vor Gott gleich. Doch gab es auch da schon gewisse natürliche Über- und Unterordnungen wie die zwischen den Weisen und den Unvernünftigen, Männern und Frauen, Menschen und Tieren. Während aber im Paradies Herrschaft zum Wohl der Beherrschten ausgeübt wurde, diente sie nach dem Sündenfall nur noch dem Eigennutz der Herrschenden. Die Sklaverei war geboren. Doch hat Gott für die Welt nach dem Sündenfall eine Ordnung gegeben, zum einen als Strafe für die Sünden, zum anderen um dem Bösen zu wehren. Zu dieser gehört auch die Sklaverei, so dass es ein Aufstand gegen Gott wäre, diese in Frage zu stellen.
Das Modell des Sklav:innentums prägte dann auch das geistliche Denken.
Die Kirche hatte ihren Frieden mit der Sklavenhalter:innengesellschaft gemacht und trug zu ihrer Legitimation bei. Das Modell des Sklav:innentums prägte dann auch das geistliche Denken. Für Augustinus sind alle Menschen Sklaven, geistlich verstanden: Der Sündenfall war ein Sklavenaufstand gegen Gott und brachte die gesamte Menschheit unter die Herrschaft der Sünde. Durch Christus sind die Gläubigen aus dieser befreit. Sie können nun wieder ihrem wahren Herrn dienen. Christus selbst hat sich zum Sklaven gemacht, um in das wahre Gottesverhältnis einzuführen. Die Jüd:innen hingegen sind Sklav:innen des Gesetzes, die Heiden Sklav:innen der falschen Götter, die Häretiker:innen gleichsam entlaufene Sklav:innen, die zu ihrem wahren Herrn zurückgeführt werden müssen. Die ganze Welt ist ein einziges Sklavenhaus. Christus hat aus der Sklaverei der Sünde befreit, er hat mit seinem Leben den Preis bezahlt für die Befreiung aus der Herrschaft von Sünde, Tod und Teufel – auch das Erlösungsmodell der redemptio, des Loskaufs war sklavenrechtlich gedacht.
Wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.
Ist die ganze Christentumsgeschichte ein Abfall von dem Gott, der sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit hat? Nein, so hat die gesamte christliche Tradition geantwortet und so wäre wohl auch heute aus exegetischer Sicht zutreffend zu sagen: Er hat sein Volk aus der Sklaverei eines fremden Herren befreit, weil es sein Eigentumsvolk ist. „Denn sie sind meine Sklaven; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt, sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird“ (Lev 25,42). Daraus erwuchsen Regeln zugunsten israelitischer Sklav:innen, aber keine Infragestellung der Sklaverei. Aber steht denn nicht diese ganze Christentumsgeschichte im Widerspruch zur Befreiungsbotschaft Jesu? Nun, auch Jesus lebte in einer Sklavenhalter:innengesellschaft, und es ist kein Wort von ihm überliefert, in dem er diese auch nur problematisiert.[4] Unter seinen Zuhörer:innen werden Sklavenhalter:innen gewesen sein. War er zu Gast, ließ er sich von Sklavinnen die Füße waschen und bei Tisch bedienen. An seine Jünger wendet er sich mit den Worten: „Wenn einer von euch einen Sklaven hat…“ (Lk 17,7); der Sinn des Gleichnisses ist dann, dass sie nach getaner Arbeit ebenso wenig einen Lohn zu erwarten haben wie der Sklave am Ende des Tages. In seinen Gleichnissen wird die Gewalt, die Sklav:innen angetan wird, häufig angesprochen. Da werden sie gepackt und gewürgt, misshandelt und umgebracht (Mt 21,33-51; 22,1-10; 25,14-30; Lk 19,11-19). Jesus baut diese Gewalt in seine Verkündigung ein: „Der Sklave, der den Willen seines Herrn kennt, sich aber nicht darum kümmert und nicht danach handelt, der wird viele Schläge bekommen“ (Lk 12,47). „Ebenso wird mein himmlischer Vater euch behandeln…“ (Mt 18,35). Jesu eigene Haltung zur Sklaverei ist in dem Wort ausgedrückt: „Wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein“ (Mk 10,44). Das bedeutet eine Umkehrung der weltlichen Ordnung, aber auch den Einstieg in die geistliche Sklaverei.
Wie können Christ:innen in einer Gesellschaft existieren, in der zwar die menschliche Sklaverei offiziell abgeschafft ist, die der Tiere aber weiterbesteht?
Iris Därmann behandelt in ihrer Studie auch „die prekäre Rolle der europäischen politischen Philosophie als Legitimitätsbeschafferin der Sklaverei und Miterfinderin des dienstbar gemachten Menschen“ [5]. Die Theologie hat allen Anlass, ihre prekäre Rolle ebenso zu reflektieren. Wie tief ist das unauslöschliche Siegel in die Gestalt des Christentums und in die Herzen der Gläubigen eingesenkt? Man kann an destruktive asketische Selbstbestrafungen, an sexuellen und geistlichen Missbrauch, an das monastische Leben mit seiner Preisgabe der Selbstverfügung und seinem Arbeitszwang, an den „religiösen Gehorsam des Willens und des Verstandes“ (LG 25) denken. Mir drängt sich die Frage auf: Wie können Christ:innen in einer Gesellschaft existieren, in der zwar die menschliche Sklaverei offiziell abgeschafft ist, die der Tiere aber weiterbesteht? Es liegt hier ja dasselbe Unterdrückungsverhältnis vor, das sich nicht von ungefähr auch in denselben Formen vollzieht.[6] Wie kann es ertragen und akzeptiert werden, über einem Abgrund von Grausamkeit und unerträglichen Leiden zu leben? Über allen Speziesismus und Anthropozentrismus hinaus hat das unauslöschliche Siegel eine Zwangsvorstellung von Dienstbarkeit bis zur Vernichtung geschaffen, dem die Tiere heute so unterliegen wie einst die Sklav:innen.
Autor: Thomas Ruster ist Professor für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund. In seinem neuen Forschungsprojekt beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang von Sklaverei und der bis heute andauernden Versklavung von Tieren. Er ist Mitglied des European Research Network „Transcending Species – Transforming Religion“.
Beitragsbild: Ana Cervinec, www.unsplash.com
[1] Vgl. Roszkowski, Maciej: „Zum Lobe seiner Herrlichkeit“ (Eph 1,12). Der sakramentale Charakter nach Matthias Joseph Scheeben, Münster 2017, 134-137.
[2] Vgl. Därmann, Iris: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie, Berlin 2020, 263-287 u. 37-57.
[3] Vgl. zum Folgenden Klein, Richard: Die Sklaverei in der Sicht der Bischöfe Ambrosius und Augustinus, Wiesbaden 1988.
[4] Vgl. Glancy, Jennifer A.: Slavery as Moral Problem in the Early Church and Today, Minneapolis: Fortress Press 2011, 5-23.
[5] Därmann, Undienlichkeit, 8.
[6] Vgl. Spiegel, Marjorie: The Dreaded Comparison. Human and Animal Slavery, London 1988.