Die zweite Waffe des Terrors ist die Selbstbeschränkung der Freiheit. Wie zu verhindern wäre, dass nach den Anschlägen in Paris auch diese Waffe zum Einsatz kommt, zeigt Katharina Klöcker hier auf.
Überlebende, die von der Geiselnahme im Pariser Konzerthaus Bataclan berichteten, bei der 89 Menschen erschossen wurden, beschrieben Szenen wie aus einem Alptraum: Bewaffnete Attentäter mit Sprengstoffgürteln richteten ein Blutbad unter den Konzertbesuchern an, töteten wahllos am Boden liegende Menschen. Man sieht auf einem Video, das offenbar vor dem Konzerthaus gedreht wurde, eine Szene, in der eine Frau in Todesangst aus einem Fenster klettert, an einem Fenstersims im zweiten Stockwerk hängt, und so verzweifelt versucht, sich vor dem Massaker in Sicherheit zu bringen – Erinnerungen an nine-eleven werden spätestens jetzt wach. Fast zur gleichen Zeit werden an sieben weiteren Stellen in Paris Anschläge verübt. Die Opfer sitzen in Cafés und Restaurants. Ziel ist offenbar auch das Stadion, in dem 80.000 Fußballfans ein Freundschaftsspiel Frankreich gegen Deutschland verfolgen. Vor den Eingängen gibt es Explosionen.
Mindestens 132 Menschen sterben am Abend des 13. November 2015 in Paris, Hunderte sind verletzt, Tausende vermutlich traumatisiert. Eine Stadt, ein Land versinkt in Chaos, Angst und Trauer. Ein Alptraum – der keiner ist: Die Attentäter haben den Terror ins Herz Europas getragen, in einer offenbar konzertierten und minutiös geplanten Aktion. Der französische Staatspräsident Francois Hollande spricht von Barbarei, von Krieg. Noch stehen die endgültigen Opferzahlen nicht fest und gesicherte Erkenntnisse über die Herkunft der Attentäter, ihre Motive und ihre Hintergründe liegen ebenfalls noch nicht vor, auch wenn sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“ zu den Anschlägen bekannt hat. Zudem ist noch nicht abzusehen, wie sich die politische Lage in Frankreich, Europa und der Welt in den kommenden Tagen und Wochen entwickeln wird.
Dennoch gilt es gerade jetzt, in dieser Situation großer Trauer und Ungewissheit, eine der zentralen Einsichten in Erinnerung zu rufen, die die Debatten um Sicherheit und Freiheit nach dem 11. September 2001 geprägt haben: Die unmittelbare zerstörerische Dimension, die nun mitten in Paris so viele Opfer gefordert hat, sie ist die eine Seite der Zerstörungsmacht des Terrors. Die andere Seite, die zweite Waffe des Terrors, will ihre ganze Wucht erst noch entfalten. Von einer „entgrenzten Erwartung der Katastrophe“, sprach Ulrich Beck, einem „geglaubten Terrorrisiko, das präventiv die selbsttätige Freiheitsbeschneidung“ auslöse. Auf diese Art von Waffe und den damit angezielten Wirkmechanismus muss sich nun die ganze Aufmerksamkeit richten. Die Trauer um die Toten von Paris soll damit nicht marginalisiert oder verdrängt werden. Im Gegenteil: Um der Opfer willen gilt es den Blick auf die Logiken von Terror und Anti-Terror zu richten, sensibel dafür zu bleiben, dass der Anti-Terror gerade in seiner entschiedenen Absicht, den Terror zu bekämpfen, in der Gefahr steht, Züge eines Vexierbilds des Terrors anzunehmen.
Von einer „entgrenzten Erwartung der Katastrophe“, sprach Ulrich Beck, einem „geglaubten Terrorrisiko, das präventiv die selbsttätige Freiheitsbeschneidung“ auslöse.
Die Anschläge von Paris waren Anschläge auf die freie Welt. Der Schock, die Trauer und das Entsetzen sollen nach dem Willen der Attentäter Früchte tragen, Früchte, die in der Angst vor weiteren Anschlägen reifen. Der Terror will eine Diktatur der Angst errichten, sie soll das freiheitliche Denken westlicher Gesellschaften von innen her aushöhlen. Denn es gilt: Je größer die Angst, desto stärker wächst das Verlangen nach Kontrolle und Sicherheit und desto widerstandloser werden Sicherheit und Freiheit gegeneinander ausgespielt. Sicherheit mutiert in der Perspektive sich bedroht fühlender Gesellschaften zu einem die Freiheit erst ermöglichenden Wert und genießt so schließlich unhinterfragten Vorrang. ‚Lieber überwacht als tot‘, so lautete ein Slogan im Zuge der Debatte um die Terrorbekämpfung nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York, der diese Denkfigur plakativ auf den Punkt brachte. In der Antizipation möglicher Anschläge wird Prävention zum vielversprechenden und kritikresistenten Topos der Terrorbekämpfung. Einschränkungen von Freiheitsrechten werden dafür offen und bereitwillig in Kauf genommen. Profiteure dieser Logik sind die Terroristen. Zu fragen ist aber besonders nach Ereignissen wie diesen auch immer, wer aus einem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis sonst noch politisches Kapital schlagen will. Bereits in den ersten Reaktionen auf die Anschläge vom 13. November zeichnete sich ab, dass bestimmte Akteure die Angst vor terroristischer Bedrohung in der Bevölkerung für restriktivere Asylbestimmungen in der schwelenden Flüchtlingskrise instrumentalisieren wollen.
Zu fragen ist aber besonders nach Ereignissen wie diesen auch immer, wer aus einem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis sonst noch politisches Kapital schlagen will.
Von „Barbarei“ wurde im Hinblick auf die Terrorakte gesprochen, der „Fratze des Bösen“. Wie sollte man auch anders die unbegreifliche Ohnmacht, Trauer und Wut in Worte fassen? Gefährlich wird die Rede vom „Bösen“ und „Barbarischen“ aber, wenn sie zum machtpolitischen Instrument wird, um moralisch oder politisch strittige Maßnahmen gegen den Terror zu legitimieren. Das lässt sich gut im Nachgang zu nine-eleven zeigen. Das eigene kleinere Übel ist dann leicht zu rechtfertigen, wenn es dazu dient, ein absolut gesetztes Übel – das „Barbarische“, das „Satanische“ – in Schach zu halten. Dann spielt es fast keine Rolle mehr, wie groß das kleinere Übel wirklich ist. In dem Moment, in dem das größere Übel zum größten denkbaren Übel erklärt wird, verliert das kleinere Übel seine Begrenzung und wird tendenziell schrankenlos. Damit leistet es jedoch der Unmoral Vorschub und trägt schließlich möglicherweise zu einer – moralisch auch noch scheinbar gerechtfertigten – Legitimierung von Unrecht bei. Das ist ein Mechanismus, der sich analog beispielsweise auch in der Figur des Ausnahmezustands nachzeichnen lässt. Der Ausnahmezustand verkörpert eine fatale Paradoxie, in der sich westliche Gesellschaften im Angesicht terroristischer Bedrohung wiederfinden: Die Demokratien gefährden sich genau in dem Augenblick am stärksten, in dem sie sich zu retten vermeinen.
Doch wie der Angst begegnen, der Waffe, die langfristig zur Bedrohung der Demokratie in der Hand der Terroristen wird? Man kann der Angst nicht mit Hilfe von Statistiken beikommen. Immer wieder betonen Risikoforscher, wie extrem gering die Wahrscheinlichkeit ist, Opfer eines terroristischen Anschlags in Europa zu werden. Doch offensichtlich hat der 11. September die Erfahrung der Verwundbarkeit so stark ins kollektive Gedächtnis des Westens eingeschrieben, dass statistische Aussagen gegen das Gefühl der Bedrohung nichts auszurichten vermögen.
Die Demokratien gefährden sich genau in dem Augenblick am stärksten, in dem sie sich zu retten vermeinen.
Ein möglicher Ansatzpunkt scheint mir die Frage zu sein, was wir künftig unter Sicherheit verstehen und ob wir an der unserer gegenwärtigen Präventionsgesellschaft zugrundeliegenden Übereinkunft, Sicherheit sei eine allen anderen Werten vorzuziehende Größe, festhalten wollen. In Zeiten terroristischer Bedrohung wäre es notwendig, in den angegriffenen Gesellschaften einen breiten und offenen Diskurs darüber zu führen, dass Sicherheit zuallererst ein völlig legitimes Grundbedürfnis, ein zweifellos hohes Gut darstellt. Genauso notwendig wäre es aber auch, die dem Verlangen nach Sicherheit inhärente Ambiguität sehr viel stärker und ehrlicher ins Bewusstsein zu rücken, und damit auch die aus einer solchen Einsicht folgenden Konsequenzen für das politische Handeln im Angesicht terroristischer Bedrohung.
Der Preis für unsere Freiheit ist, dass wir verwundbar sind und bleiben.
Wer Sicherheit mit allen Mitteln erreichen will und auch glaubt erreichen zu können, der muss maßlos werden – im Hinblick auf Kontrolle, Überwachung und Prävention. Denn es soll mit diesen Maßnahmen suggeriert werden, dass umfassende Sicherheit tatsächlich herstellbar ist. Damit wird aber ein Faktum verleugnet und verdrängt, das jeder terroristische Anschlag uns erneut und erbarmungslos vor Augen hält: Sicherheit gibt es nur im Zeichen der Verwundbarkeit. Diese verwundbare Sicherheit ist eine Grundsignatur freiheitlicher Gesellschaften. Sie erst eröffnet überhaupt den Spielraum für unsere Freiheit. Der Preis für unsere Freiheit ist, dass wir verwundbar sind und bleiben. Zugleich glauben wir, dass unsere Verwundbarkeit im Letzten aufgehoben ist und wissen uns so von der Angst befreit. Diese Einsichten sind so leicht wie schwer. Leicht im Fußballstadion, im Café, Restaurant oder Konzerthaus – und nahezu unerträglich schwer in Zeiten des Terrors, der nun genau diese Orte unserer Freiheit in Wunden verwandelt hat.
Katharina Klöcker /Bild: fit-dessin-peace-for-paris-realise-apres-attentats-13-novembre-2015-artiste-francais-jean-jullien.jpg
Vgl. Katharina Klöcker: Zur Moral der Terrorbekämpung. Eine theologisch-ethische Kritik, Ostfildern 2009.