Mit der polnischen Dichterin Wisława Szymborska würdigt Uwe Michler anlässlich ihres 100. Geburtstags eine aufmerksam fragende Beobachterin des 20. Jahrhunderts und „Verfasserin von ein paar Versen“.
Anfang Juli 2023 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag der bedeutenden polnischen Schriftstellerin Wisława Szymborska. Manche sahen in ihr eine polnische Nationaldichterin – eine Zuschreibung, mit der sie selbst wahrscheinlich wenig anfangen konnte. Ihre Gedichte wurden meist von Karl Dedecius herausgegeben und übersetzt, dem großen Vermittler polnischer Literatur in Deutschland. Und demnächst (Ende Juni) erscheinen anlässlich ihres runden Geburtstags bei Suhrkamp alle ihre bis jetzt ins Deutsche übersetzten Gesammelten Gedichte.
Der Dichter Peter Hamm schreibt voller Bewunderung: „Ihre Gedichte kann (fast) jeder ohne Nachhilfe in Hermeneutik verstehen, ja – man wagt es kaum auszusprechen –, sie sind oft geradezu unterhaltsam und sogar spannend, ohne deshalb vom Leser einen Rabatt auf Tiefsinn zu fordern. In gewisser Weise sind es prosaische Gedichte, und wenn sie etwas feiern, dann immer nur ´Alltagswunder´. Diese Gedichte leben ganz von konkreten Gegenständen, denen sie, auch wenn diese sich dagegen sperren, jede Schwere nehmen.“[i]
Ihre Gedichte sind einfach und leicht und vermeiden jedes Pathos. So schreibt sie im Gedicht „Vermeer“ voller Bewunderung über das Bild „Dienstmagd mit Milchkrug“ von Jan Vermeer (1632-1675):
Solange diese Frau aus dem Rijksmuseum
in der gemalten Stille und Andacht
Tag für Tag Milch
aus dem Krug in die Schüssel gießt
verdient die Welt
keinen Weltuntergang.[ii]
Staunend kann sie die Welt sehen und sich freuen an ihrer Diversität. Das beschreibt sie sprachspielerisch in ihrem Gedicht „Geburtstag“, wo es zu Beginn heißt:
„Soviel Welt auf einmal aus so vielen Welten:
Moränen, Muränen und Meere und Mähren,
Karfunkel und Funken und Bären und Beeren –
Wo stell ich das hin und wie soll ich mich wehren?
Die Minze und Pilze, die Drosseln und Brassen,
die Dillen und Grillen – wie soll ich das fassen?“[iii]
Neben dem Staunen über die Natur und Welt gibt sie auch tiefe Einblicke in die Natur des Menschen – seine Verletzlichkeit, Hilfsbereitschaft und Empathie, aber auch seinen Opportunismus, seine Abgründe und Schlechtigkeiten. So heißt es ganz lakonisch und realistisch in ihrem Gedicht „Beitrag zur Statistik“:
Auf hundert Menschen
– zweiundfünfzig, die alles besser wissen,
dem fast ganzen Rest
– ist jeder Schritt unsicher,
Hilfsbereite,
sofern es nicht zu lange dauert, gibt´s
– sogar neunundvierzig,
immerzu Gütige,
weil sie’s nicht anders können,
– vier, vielleicht fünf,
die zur Bewunderung ohne Neid neigen
– achtzehn,
die durch die Jugend, die vergängliche, Irregeführten
– plus minus sechzig,
die keine Scherze dulden
– vierundvierzig,
die ständig in Angst leben vor jemand oder vor etwas
– siebenundsiebzig,
die Talent haben, glücklich zu sein,
– etwas mehr als zwanzig, höchstens,
die einzeln harmlos sind und in der Masse verwildern
– über die Hälfte, sicher,
Grausame,
von den Umständen dazu gezwungen,
– sollte man lieber nicht wissen, nicht einmal annähernd,
die nach dem Schaden klug sind
– nicht viel mehr als die vor dem Schaden klug sind,
die sich vom Leben nichts als Gegenstände nehmen,
– dreißig,
obwohl ich mich gerne irren würde,
Gebrochene, Leidgeprüfte, ohne ein Licht im Dunkel,
– dreiundachtzig,
früher oder später,
Gerechte
– recht viel, denn fünfunddreißig,
falls diese Eigenschaft mit der Mühe des Verstehens einhergeht,
– drei,
des Mitleids Würdige
– neunundneunzig,
Sterbliche
– Hundert auf hundert.
Eine Zahl, die sich vorerst nicht ändert.[iv]
Nur in ihren ersten beiden Gedichtbänden setzte sie noch auf die kommunistische Utopie. Aber schon in ihrem zweiten Gedichtband, der erst 1954 die Zensur der kommunistischen Partei passieren konnte, heißt es dennoch:
„Ich bin mir lieber als Menschenfreund
denn als Freund der Menschheit“.
Ihr – die in einer Widerstandsgruppe gegen die Nazidiktatur engagiert war, die anfangs noch dem Sozialismus huldigte und 1966 aus der Arbeiterpartei austrat und sich in den 1980er-Jahren für die Solidarnosc einsetzte – waren alle einfachen Erklärungsversuche und Gewissheiten, alle politischen Programme und Parolen suspekt.
Schon der Titel ihres zweiten Gedichtbands „Fragen, die ich mir stelle“ macht deutlich, dass es ihr nicht darum geht, Antworten zu geben, sondern zu fragen. Bis zuletzt favorisierte sie die Frageform in ihrem Werk. „Es gibt keine Fragen, die dringlicher wären als die naiven.“ Und doch sind auch die naiven Fragen immer politisch, wie es ihr Gedicht „Kinder der Zeit“ ausdrückt:
Wie leben? –
fragte im Brief mich jemand,
den ich dasselbe
hab’ fragen wollen.
Weiter und so wie immer,
wie oben zu sehen, es gibt keine Fragen,
die dringlicher wären als die naiven.
Wir sind Kinder der Zeit,
die Zeit ist politisch.
Alle deine, unsere, eure
Tagesgeschäfte, Nachtgeschäfte
sind politisch.
Ob du es willst oder nicht,
die Vergangenheit deiner Gene ist politisch.
die Haut hat politischen Schimmer,
die Augen politischen Aspekt.
Wovon du sprichst, hat Resonanz,
wovon du schweigst, ist beredt,
so oder anders politisch.[v]
Übertragen auf den kirchlichen Bereich wird ja zu Recht immer wieder kritisiert, dass die Kirche/das Lehramt allzu oft Antworten auf Fragen geben, die niemand gestellt hat – und eigene Positionen kaum kritisch hinterfragt werden nach ihrer aktuellen Lebens- und Glaubensdienlichkeit und Relevanz.
Aber selbstverständlich gehören Zweifel und Fragen zur Theologie und zum Glauben mit dazu. In der Bibel stellt Gott immer wieder Fragen an den Menschen – angefangen vom „Adam, wo bist Du?“ (Gen 3, 9). Und in den Texten der Prophet*innen und Psalmen wird Gott umgekehrt geradezu bestürmt mit Fragen, mit Klagen und mit Anklagen: „Warum schweigst Du, Herr?“, „Warum lässt Du mir keine Ruhe?“ Bis hin zur Klage Jesu am Kreuz, wenn er mit Psalm 22 ausruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Vieles ist am christlichen Glauben frag-würdig. Und der glaubende Mensch ist nicht einfach ein Gehorsamsteilchen in einem Befehlsganzen, sondern eine mündige und zur Entscheidung gerufene Person. Und das hat auch, wie Szymborska es ausdrückt, eminente (kirchen-)politische Konsequenzen.
Diktatoren wissen – sie weiß nicht.
Es passt ins Bild, dass Wisława Szymborska 1996 in ihrer Nobelpreis-Rede (die mehrfach als die wohl kürzeste beschrieben wurde) betonte, wie wichtig ihr die drei kleinen Wörter „Ich weiß nicht“ seien. Den Diktatoren, Fanatikern und Demagogen attestiert sie, dass sie zu viel „wissen“. „Sie wissen, und das, was sie wissen, reicht ihnen ein für allemal. Auf nichts sind sie neugierig, denn das könnte die Kraft ihrer Argumente schwächen. Und alles Wissen, aus dem nicht neue Fragen aufkeimen, ist schnell ein totes Wissen, verliert die Temperatur, die das Leben braucht.“[vi]
Und sie stellt sich in ihrer Nobelpreisrede vor, dass sie Gelegenheit hätte, mit dem Propheten und Skeptiker Kohelet zu sprechen, den sie für einen der größten Dichter hält – auch aufgrund seiner Klage über die Unbeständigkeit des Lebens und die Eitelkeit allen menschlichen Tuns. Sie würde ihn gerne fragen, ob er es wirklich ernst gemeint hat, dass es „nichts Neues unter der Sonne“ (Koh 1, 9) gibt: „`Nichts Neues unter der Sonne`, hast du geschrieben, Prediger. Du selbst aber bist neu unter der Sonne geboren. Und das Gedicht, das du geschaffen hast, ist auch neu unter der Sonne, denn vor dir hat es niemand geschrieben. Und neu sind alle deine Leser unter der Sonne, denn die, die vor dir lebten, haben es nicht lesen können. […] Und außerdem wollte ich dich fragen, Prediger, was du jetzt Neues unter der Sonne schreiben wirst. Eine Fortsetzung deiner Gedanken, oder reizt es dich vielleicht, ihnen zu widersprechen? In deinem letzten Gedicht schreibst du auch über die Freude – was ist schon dabei, dass sie vergänglich ist? Womöglich wirst du ihr dein neues Gedicht unter der Sonne widmen? Hast du dir schon Notizen, erste Skizzen gemacht? Du wirst doch kaum behaupten: `Ich habe bereits alles geschrieben, dem ist nichts hinzuzufügen.` Das könnte doch kein Dichter der Welt von sich sagen, geschweige denn ein so großer wie du.“
…nicht gewöhnlich, nichts normal.
Und sie schließt wenige Sätze später ihre Nobelpreisrede mit den Worten: „In der Sprache der Poesie aber, in der jedes Wort gewogen wird, ist nichts gewöhnlich, nichts normal. Kein Stein und keine Wolke darüber. Und vor allem kein einziges Dasein hier auf dieser Erde. Es sieht so aus, als hätten die Dichter immer noch viel zu tun.“
2012 ist Szymborska im Alter von 88 Jahren in Krakau gestorben. Eine christliche Beerdigung wollte sie nicht. Aber schon in ihrem Gedichtband „Salz“ aus dem 1962 verfasst sie – durchaus augenzwinkernd – ihren eigenen Nachruf. Vielleicht ist es auch das einzige Mal, dass sie im Gedicht „Grabstein“ von sich selbst spricht:
Hier ruht, altmodisch wie das Komma, eine
Verfasserin von ein paar Versen. Die Gebeine
genießen Frieden in den ewigen Gärten,
obwohl sie keiner Literatengruppe angehörten.
Drum schmückt nichts Beßres ihre Totenstätte
als dieser Reim, die Eule und die Klette.
Passant, hol den Computer aus dem Aktenfach
und denk über Szymborskas Los ein wenig nach.[vii]
E-N-D-E
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Uwe Michler ist katholischer Theologe und Priester. Er arbeitet als Seelsorger in Frankfurt am Main.
Foto: Kris Atomic / unsplash.com
[i] DIE ZEIT, 23.05.2013.
[ii] Wisława Szymborska, Glückliche Liebe und andere Gedichte, Suhrkamp 2012, S. 87.
[iii] Wisława Szymborska, Hundert Freuden, Suhrkamp 1996, S. 92.
[iv] Abgedruckt in der F.A.Z. vom 11.02.1997.
[v] Szymborska, Hundert Freuden, a.a.O, S. 27.
[vi] Die gesamte Rede ist zu finden unter der Überschrift „Der Dichter und die Welt“ in der Übersetzung von Ursula Kiermeier auf: http://www.planetlyrik.de/wislawa-szymborska-die-gedichte/2012/02
[vii] Szymborska, Hundert Freuden, a.a.O., S. 155.