Die Redaktion von feinschwarz.net gibt Einblicke in die persönlichen Buchlisten für die Sommerzeit. Die Sommerlektüre 2021 reicht vom Krimi, über Lebensfragen bis hin zu Erfahrungen einer Fußpflegerin.
Unzertrennlich
Weitermachen, irgend weiterleben. Das scheint die einzig denkbare Strategie für die überfordernde Situation von Irv und Marilyn Yalom zu sein. Sie sind seit sechs Jahrzehnten ein Paar, haben Kinder und Enkelkinder. Sie blicken beide auf akademische Karrieren an US-amerikanischen Universitäten und ihr Leben ist auch im Alter reich an intellektuellem Austausch. Beide beginnen zusammen ein Buch zu schreiben, als die Diagnose der tödlichen Krankheit dem gemeinsamen Leben ein Ende zu bereiten beginnt.
Wie geht ein Paar, das so eingespielt miteinander das Leben teilt, mit dieser letzten einschneidenden Trennung um? Wie bereiten sie sich darauf vor? Und vor allem: Wie lebt der trauernde Irv nach dem Tod seiner Frau weiter?
Das gemeinsame Buch stellt Fragen, die für viele Menschen in der Luft liegen und meist mit großer Kunstfertigkeit verdrängt werden. Allerdings gibt das Buch auch Einblick in ein privates Familienleben, das von Wohlstand, Intellektualität und Hochkultur geprägt ist. Viele Details dieser Lebenskultur dürften Trumpwähler*innen als Inbegriff der verhassten Upperclass gelten. Hier ist nicht der Ort von Altersarmut und fehlender Krankenversicherung. Nicht einmal Demenz als verhasster Gleichmacher der Klassen und sozialen Milieus bricht in diese heile Welt des kultivierten Alterns ein. Doch die Fragen, die die beiden Autor*innen vertreten und ihr Ringen mit Alter und Abschied dürften für viele Menschen anregend sein.
Wolfgang Beck
Marzahn mon amour
Selten habe ich ein Buch gelesen, das mich so berührt und nachdenklich gestimmt hat. Katja Oskamp ist Schriftstellerin, damit aber nicht zufrieden und entscheidet sich für eine Ausbildung als Fußpflegerin. Mittlerweile arbeitet sie als Fußpflegerin in Berlin-Marzahn. In „Marzahn, mon amour“ schildert sie die Begegnungen mit ihren Kund:innen, mit deren Leben und Alltag und gewährt einen Einblick in die Tiefgründigkeit und Lebensfreundlichkeit, mit der sie ihren Beruf ausführt. Ein wunderbares, kurzweiliges Buch, das Seele und Verstand zum Schwingen bringt.
- Infos zum Buch: Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin. Hanser-Verlag 2021.
Julia Enxing
Gier! Wie weit würdest du gehen?
Der Wiener Autor Marc Elsberg hat in den vergangenen Jahren große gesellschaftliche Fragen in Krimiform gefasst: Blackout (europaweiter Stromausfall), Zero (Internetkriminalität und totale Überwachung) und Helix (und die manipulierende Gentechnik).
Mit „Gier“ (2019) blickt er in die Tiefen der globalen Finanzwirtschaft. Und als christlicher Leser finde ich bei den Lösungsansätzen gegenüber den skrupellosen Finanzhaien plötzlich das Solidaritätsprinzip wieder; oder die Erkenntnis, dass Kooperation beiden Partner:innen hilft. Denn: „Kooperation lebt von Verschiedenheit, von Vielfalt, von der Freiheit, Dinge anders zu machen. … Erst aus der Freiheit entsteht die Vielfalt, die Kooperation so sinnvoll macht!“
Elsberg lässt wiederum zufällig in die Handlung involvierte Personen (wie den jungen Pfleger Jan, den Finanzaussteiger Fitzroy oder die Aktivistin Kim) zu den Held:innen werden. Die Handlung selbst spielt in Berlin im Umfeld eines Weltwirtschaftsgipfels – verbunden mit Auftragsmorden und Verfolgungsjagden. Die Hintermänner sind zwar bald klar. Die wahre Spannung liegt aber in der Frage, ob es umsetzbare Antworten auf die Gier der Finanzwelt geben kann. Und nicht die Suche nach dem Mörder steht im Zentrum, sondern die Rettung der Kooperations-Idee.
Somit ist es eigentlich fast ein Sachbuch im Kleid eines Krimis: Denn Elsberg möchte den Nachweis antreten, dass das Prinzip der Kooperation anstelle des vorherrschenden Konkurrenzgedankens zum Wohlstand aller Menschen weltweit führen würde. Dies ist hervorragend recherchiert, und komplexe Wirtschafts- und Finanztheorien werden versucht in verständliche Sprache zu übersetzen.
- Infos zum Buch: Marc Elsberg, Gier. Wie weit würdest du gehen?, Blanvalet 2019.
Johann Pock
Die Wahrheit über Eva
Wenn Sie schon immer mal wissen wollte, wie es den Männern eigentlich gegen alle Logik und Gerechtigkeit gelang, die Frauen zu unterdrücken und das Patriarchat zu etablieren, dann sollten sie „Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern“ lesen. Carel van Schaik, ein Evolutionsbiologe, und Kai Michel, ein Historiker, rekonstruieren, so gut man das bei einer viele hunderttausend Jahre alten Geschichte halt kann, wie es dazu kam, wie spät es dazu kam, dass die körperliche Überlegenheit des Mannes eher keine Rolle spielte, was vorher und über die längste Zeit herrschte (jedenfalls nicht das Patriarchat, aber auch kein Matriarchat), und welche (un)rühmliche Rolle die (Hoch-)Religionen dabei spielten. Ein Rückblick.
- Infos zum Buch: Carel van Schaik / Kai Michel, Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern, Rowohlt: Hamburg 2020.
Rainer Bucher
Sperling / Sparrow
Ich habe ein Faible für in die Jahre gekommenen Science-Fiction. Die Utopien und Dystopien vergangener Tage können für die Gegenwart durchaus erhellend sein. 1996 hielt es Mary Doria Russel in ihrem Debutroman zumindest für denkbar, dass der römischen Kirche im Jahr 2019 möglich ist, wozu sich die Vereinten Nationen nicht durchringen können: nach empfangenen Audiosignalen eine Weltraummission zu einem unbekannten, aber bevölkerten Planeten zu unternehmen. Die Mission nach Rhakat wird geleitet von Jesuiten. Sie brechen auf, um Gottes andere Kinder kennen- und liebenzulernen. Die Mission endet im Fiasko mit Imageverlust für die Kirche und die Societas Jesu.
Warum ein auf Deutsch nur noch antiquarisch erhältliches Buch in diesem Sommer lesen? Ganz einfach: Der Roman wird derzeit als TV-Serie verfilmt – als neues Projekt von Scott Frank („The Queen’s Gambit“, „Godless“).
- Infos zum Buch: Mary Doria Russel, Sperling, Heyne Science Fiction: Berlin 2000 (engl. The Sparrow, 1996 by Villard Books: New York).
Gerrit Spallek
Alle, außer mir
Ein junger äthiopischer Flüchtling klopft an die Tür von Ilaria Profeti in Rom und behauptet, ihr Neffe zu sein. Damit beginnen das Epos von Francesca Melandri und die Suche Ilarias nach der Geschichte ihres Vaters Attilio Profeti. Sie dringt ein in die Rolle Italiens im Abessinienkrieg (1935-36). Hier wirkte ihr Vater als Soldat, als Post-Zensor und schliesslich als Mitarbeiter eines Rassenforschers im faschistischen Regime Mussolinis. Die Gräueltaten an den Abessiniern damals erschrecken ebenso wie die unmenschliche Behandlung der afrikanischen Flüchtlinge heute, denen Ilaria auf die Spur kommt. Sie selbst über ihren Freund – einen Berlusconi-Anhänger – wie ihre Familienmitglieder sind verstrickt in die politischen Zusammenhänge damals und heute. Dass ihr Vater wie viele andere Italiener im Abessinienkrieg trotz der Rassengesetze in Äthiopien eine Geliebte hatte, und der junge Äthiopier sein Enkel ist, gehört dazu. Ungeschönt schildert Melandri Unmenschlichkeit und Gewalt damals und heute, aber auch ein tiefsinniges, zärtliches Familienporträt über drei Generationen sowie ein Bild Roms voller Widersprüche und Schönheit.
- Infos zum Buch: Francesca Melandri, Alle, ausser mir (ital. Original «Sangue giusto» 2017), btb Verlag München, 3. Aufl., 2020
Franziska Loretan-Saladin
Herkunft
Nach einer langen pandemischen Phase verlorener Selbstverständlichkeiten und in einer Phase, in der die letzten Monate irgendwie unwirklich scheinen, könnte ein Buch passen, das um Heimatverlust, Erinnerungsverschiebungen und kulturelle Verortungen kreist. „Was ist das für ein Buch? Wer erzählt? Es schreibt: ein Neununddreißigjähriger in Višegrad, Zürich, Split. Es schreibt ein Vierzigjähriger auf einem Balkon in Hamburg. Es ist Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Heute ist der.“ (228). Es begegnen: eine Hornotter und kindliche Furcht gemischt mit Neugier, eine Großmutter, die eigenwillige Wege geht, Emil, Rahim, Olli und Martek an der ARAL, Eichendorff, nein Ajhendorf und der Zahnarzt Dr. Heimat, der dem Großvater einen großen Wunsch erfüllt, … Und ja: es gibt auch Drachen!
Sie passen unbedingt: Saša Stanišićs autobiographische Notizen, „ein Selbstportrait mit Ahnen und ein Scheitern des Selbstportraits“, angestoßen von der Aufforderung der Ausländerbehörde, einen handgeschriebenen Lebenslauf einzureichen.
- Infos zum Buch: Saša Stanišić, Herkunft, Luchterhand-Verlag 2019.
Kerstin Menzel
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Beitragsbild: Johann Pock