Über innere Widersprüche und die Kirche in der Welt reflektiert René Pachmann angesichts der Kunstinstallation „Sorry“ an der polnisch-deutschen Grenze. Ein entscheidendes Thema ist die Unkultur oberflächlicher und verlogener Pseudo-Entschuldigungen.
Am Ufer der Oder, direkt neben der Brücke, die Polen mit Deutschland verbindet, steht in diesem Sommer eine massive Mauer, verschlungen und labyrinthisch anmutend. Drei Meter hoch und oben mit Glas bestückt, wirkt sie wie eine Erinnerung an die Zeiten, als sich durch Europa und durch Deutschland noch sichtbare Grenzen zogen. Ihre eigentliche Wirkung entfaltet die Mauer jedoch, wenn man sie von oben betrachtet, denn dann zeigt sich, dass die Mauern das Wort „SORRY“ formen.
Ein Mahnmal für die Irrwege
Es handelt sich bei dieser Mauer um eine Monumentalskulptur der polnischen Künstlerin Joanna Rajkowska, die vielbeachtete Kunstwerke im öffentlichen Raum entworfen hat, unter anderem die berühmte künstliche Palme im Herzen Warschaus.[1] Im Jahr 2021 schuf Rajkowska die Skulptur SORRY – als Anti-Denkmal (Anti-Pomnyk), wie sie selbst sagt. Kein Denkmal für Held:innentaten, sondern ein Mahnmal für die Irrwege, für die „kollektive Dummheit und die kollektiven Fehler der Menschheitsgeschichte“.[2]
Anlass für die Herstellung der Skulptur war die Abwehr von Geflüchteten aus dem Nahen Osten an der polnisch-belarussischen Grenze, die über Monate unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Wäldern vor der Außengrenze der EU campierten und weiterhin campieren. Die europäische Doppelmoral steht weiter allen, die es sehen wollten, überdeutlich vor Augen: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Wertegemeinschaft und auch das christliche Erbe werden zwar offiziell hochgehalten – aber „leider“ dürfen jene, die vor den Toren Europas um Hilfe bitten, nicht daran partizipieren.
Grenzen und Abgrenzungen durch alle Lebensräume
Darum ist der Eindruck einer Grenzmauer von der Künstlerin durchaus gewollt, denn auch wenn in Europa viele nationale Grenzen nicht mehr wahrgenommen werden, gibt es um Europa herum genügend Grenzen und es ziehen sich darüber hinaus mentale oder materielle Abgrenzungen durch alle Lebensräume.
Nach Ausstellungen in Posen und Warschau wurde das Kunstwerk für diesen Sommer vom Oekumenischen Europa-Centrum Frankfurt (Oder) (OEC) zusammen mit der Katholischen Hochschulseelsorge und der Kulturkoordination von Europa-Universität Viadrina und Stadt Frankfurt (Oder) an Deutschlands Ostgrenze geholt, um mit der Skulptur und bei Veranstaltungen rings um die Skulptur Debatten anzustoßen und in neue Dialoge einzutreten.
Denn als Kunstwerk will „SORRY“ zwar aufrütteln, aber es geht nicht um eine eindeutige politische Botschaft – sonst würde es Propaganda – , vielmehr sollen viele Zusammenhänge angesprochen werden: Spirituelle Fragen nach Scham und Vergebung spielen ebenso eine Rolle wie migrationspolitische Diskurse rund um die EU-Außengrenzen, aber auch ökologische Themen wie die menschliche Verantwortung für den Fluss – nach dem gigantischen Fischsterben im letzten Jahr und angesichts der vielen ungelösten deutsch-polnischen Fragen ist dies weiterhin eine offene Wunde in der Region.
Auseinanderklaffen von Reden und Tun.
Mit diesen Diskursen wird ein zentrales Thema des Menschseins ins Herz der Oderstadt getragen – es geht um die Abgründe menschlichen Tuns, um Verantwortung für individuelles wie gemeinsames Handeln und um das Auseinanderklaffen von Reden und Tun. Biblisch gesprochen um den Widerspruch im menschlichen Herzen, den Paulus so artikuliert: „Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse.“ (Röm 7,15)
Allgemeiner gesagt: Die Skulptur SORRY stellt die Frage nach dem Ernst unserer Reuebekundungen, unserer Umkehrversprechen, unserer Gelöbnisse, uns zu verändern. Letztlich die Frage danach, was wir eigentlich meinen, wenn wir „Sorry“ sagen.
Denn ein „Sorry“ wird im englischen Sprachgebrauch, darauf weist die Künstlerin explizit hin, nur manchmal dafür verwendet, um sich wirklich zu entschuldigen, sondern auch um Ansprüche abzuwehren und sich unangenehme Dinge mit einer Floskel vom Hals zu halten.
Die Ernsthaftigkeit der Äußerung muss sich in Taten beweisen. Ganz im Sinne der biblischen Aufforderung: „Wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit.“ (1Joh 3,18)
Die Frage nach der eigenen, kirchlichen Glaubwürdigkeit
Als einer der Initiator:innen des Projektes in Frankfurt (Oder) ist es mir, besonders als Christ und Seelsorger im Dienst der Kirche, ein Anliegen, diese Themen wachzuhalten und in die öffentlichen Debatten als Themen einzuspeisen, zu denen wir als Christ:innen etwas zu sagen haben.
Besonders in einer Zeit, in der die katholische Kirche medial vor allem durch interne Streitigkeiten rings um den Synodalen Weg in den Blick kommt und dabei auch vermehrt mit Widerspruch zur Welt und einem Gegensatz zu liberalen Werten assoziiert wird, kann es ein Kunstwerk im öffentlichen Raum sein, das einen anderen Weg weist. Denn die Fragen nach dem Umgang mit Geflüchteten, nach dem Einsatz für eine ökologische und gerechte Welt sind Fragen, die auch unser christliches Selbstverständnis berühren. Das macht nicht zuletzt Papst Franziskus mit seinem Besuch auf Lampedusa und mit seiner Enzyklika „Laudato Si“ deutlich.
Allerdings ist die größere Herausforderung durch das Kunstwerk für die Kirche sicher die Frage nach ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und Präsenz in der Gesellschaft.
Die innere Widersprüchlichkeit falscher Vergebungsbitten.
Darum lohnt vielleicht noch ein genauerer Blick auf die Skulptur:
- Wer vor dem Kunstwerk steht, dem werden die labyrinthisch verschlungenen Mauern zunächst nichts sagen. Die von oben verständlich werdende Botschaft bleibt von unten verborgen. Eine leichte Erklärung der Mauergestalt bietet sich auf Anhieb nicht an. Und auch wer den Mauerverläufen folgt, wird um die Skulptur herum, aber nicht zu einem erweiterten Sinn geführt.
Also bleibt die Skulptur zunächst verwirrend und unüberwindlich – in physischer Hinsicht ebenso wie mit ihrer Aussage.
Dem entspricht der glatte Beton, der abweisend und ohne Möglichkeit zum Einhaken bleibt.
Das lässt sich auch als Aufforderung an die Kirche und an uns als Christ*innen verstehen, uns und die christliche Botschaft nicht zu kryptisch und labyrinthisch darzustellen. - Das Gewicht der Skulptur sind ca. 25 Tonnen Beton. In gewisser Weise also ein unverrückbares Schwergewicht. Viele Gläubige nehmen so auch ihre Glaubensgewissheiten manchmal wahr. Da lässt sich nicht diskutieren, sondern nur feststellen.
Doch gerade das wirkt natürlich von außen abschreckend und unzugänglich – wenn die Gläubigen mit ihren Glaubensaussagen immer schon fertig sind, werden sie es im wahrsten Wortsinn nicht leicht haben, diesen Glauben zu anderen zu tragen.
Konterkariert wird die Schwere durch das SORRY, zu dem sich die Mauern formen, denn als Entschuldigungsbitte soll ja vorher Geschehenes aufgehoben und neu in Bewegung gebracht werden. Hier birgt die Skulptur in sich eine Differenz, mit der es zu ringen gilt. - Damit im Zusammenhang steht die Frage nach den unterschiedlichen Perspektiven. SORRY bringt die Erfahrung einer inneren Widersprüchlichkeit zum Ausdruck: aus der Vogelperspektive und mit dem nötigen Abstand formen sich aus Mauern plötzlich Buchstaben und die Buchstaben werden zu einer Entschuldigung. Doch es handelt sich um eine mit spitzem Glas gespickte Entschuldigung. Eine Entschuldigung, die weiter verwunden und verletzen kann und die auch die Substanz der Mauer nicht auflöst.
Zugespitzt gesagt: Inflationär wiederholte Entschuldigungsfloskeln verletzen zusätzlich. Oberflächlich dahingesagte Sorry-Worte und symbolischen Gesten, die keine Verankerung im realen Leben haben, sind wie „dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“ (1Kor 13,1), nämlich lieblos und leer.
Betroffene von sexueller Gewalt durch Täter aus der Kirche werden bei diesen Worten vielleicht hellhörig, denn über lange Jahre war das (und ist es teilweise noch) die Strategie kirchlicher Verantwortlichsträger: Entschuldigung sagen mit vielen, manchmal sogar ernst gemeinten Worten, aber die Strukturen hinter den Missbrauchstaten bestehen lassen. Zahlungen „zur Anerkennung des Leids“ veranlassen, aber Missbrauchstäter weiterhin heimlich versetzen. Die institutionenorientierte Abwehrhaltung wird durch die Exculpationsversuche nicht grundlegend verändert.
Auch die Künstlerin selbst betont in diesem Zusammenhang, dass sich durch den Überblick über die Skulptur zwar die Botschaft enthüllt, eine Bitte um Entschuldigung aus der Perspektive „von oben“, die ja oft eine Perspektive der Macht ist, aber umso schwerer fällt.
So simpel die Skulptur auf den ersten Augenblick auch wirkt – sie birgt schon bei der physischen Annäherung eine Menge Sprengstoff, wenn man die Botschaft auf christlich relevante Themen bezieht. Da es sich nun aber nicht um im engeren Wortsinne religiöse Kunst handelt, bleiben viele weitere Möglichkeiten zum inhaltlichen Andocken offen.
Ich selbst will mich den Zumutungen der Kunst gern aussetzen und dazu beitragen, in den Debatten mit lokalen Initiativen und Kulturakteur:innen viele Dimensionen zu eröffnen und christliche Interpretationsmöglichkeiten aufzutun.
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René Pachmann ist Theologe und seit 2021 Hochschulseelsorger an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Foto: © Heide Fest
Bilder: Joanna Rajkowska, SORRY, 2022, Skulptur in Frankfurt (Oder), Beton, Glas, mit freundlicher Genehmigung der Wielkopolskie Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych. Foto: René Pachmann
[1] Greetings From Jerusalem Avenue — Joanna Rajkowska
[2] Projekt „SORRY” – Uniwersytet SWPS (Übersetzung RP).