Inwiefern die katholische Kirche Allianzen mit marktorientierten Lobbyorganisationen eingeht und welche Alternativen es einzuschlagen gelte, diskutiert Gudula Frieling.
Wir, die Jugendlichen der 80er Jahre, sind mit ihr aufgewaschen und erleben es, dass sie nun Jahr für Jahr rhetorisch immer geschliffener verteidigt wird: Die soziale Marktwirtschaft. Geradezu marktschreierisch wird sie über den grünen Klee gelobt – so zum Beispiel von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ GmbH, einer schlagkräftigen Lobbyorganisation der Arbeitgeberverbände, die die Ästhetik der sozialen Bewegung imitiert und besonders in konservativ-christlichen Kreisen einen guten Namen hat. Aber gibt es sie noch, die soziale Marktwirtschaft?
Gibt es sie noch, die soziale Marktwirtschaft?
Den sog. „Würmeling“, mit dessen Hilfe ich als Teenager der 80er die Welt entdeckte, gibt es jedenfalls nicht mehr: Als eines von vier Geschwistern fuhr ich selbstverständlich zum halben Preis mit der Deutschen Bundesbahn (die damals von ihrer Zukunft als Aktiengesellschaft noch nichts ahnte), und zwar ohne dass meine Eltern dafür auch nur einen Pfennig zahlten. Oder die Schwimmbäder: Es gab zwar keine Spaßbäder, aber nur eine Viertelstunde Fußweg trennten uns von einem Schwimmbad, wo wir Kinder und Jugendliche uns für ca. 80 Pfennig vergnügen konnten.
Ich will nicht die vermeintlich heile Welt meiner Kindheit beschwören, aber doch behaupten, dass hier von liberal-konservativer Seite ein Begriff „konserviert“ wird, während zugleich die damit ursprünglich bezeichnete Sozial- und Wirtschaftsordnung, der rheinische Kapitalismus, konsequent abgebaut wird, ohne dass die großen Kirchen diesen Etikettenschwindel anklagen würden. Im Gegenteil: Seit der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und andere Arbeitgeberverbände im Jahre 2000 die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gründeten, pflegt diese sich bescheiden gebende „Initiative“ (www.insm.de), die beispielsweise im Jahr 2012 nach eigenen Angaben über einen Jahresetat von 6,97 Millionen Euro verfügte, enge Kontakte zur katholischen Kirche. Diese hilft der INSM nicht nur bei der Vermittlung ihrer neoliberalen Agenda in kirchliche Kreise und in die breite Öffentlichkeit, sie lässt führende Vertreter*innen der INSM sogar an eigenen Veröffentlichungen mitschreiben. So berief sie den langjährigen INSM-Kuratoriumsvorsitzenden Dr. Hans Tietmeyer zusammen mit dem damaligen INSM Botschafter Dr. Paul Kirchhof in ein neunköpfiges Berater*innengremium. Was die deutschen Bischöfe dann 2003 unter dem Titel „Das Soziale neu denken“[1] als Ergebnis dieser Zusammenarbeit veröffentlichten, war eine deutliche Abkehr von dem vielbeachteten Gemeinsamen Sozialwort der beiden Kirchen aus dem Jahr 1997. Der Sozialstaat, so die beißende Kritik, sei zu einem „undurchschaubaren Dickicht von Transferleistungen“ (S.9) verkommen, das ein Anspruchsdenken fördern und die Eigenverantwortung schwächen würde. Besonders auffällig ist, dass die Autoren sich zwar auf der einen Seite zur biblischen Option für die Armen bekennen (S.17), auf der anderen Seite jedoch das Übermaß an Transferleistungen beklagen, ohne auch nur eine einzige Maßnahme vorzuschlagen, die auch den oberen Einkommensgruppen etwas abverlangen würde. Im Gegenteil: Ökonomische und soziale Ungleichheiten betrachten sie als „legitim, wenn sie zum größeren Vorteil der am wenigsten begünstigten Mitglieder sind“ (S.18). Mit Befreiungstheologie hat diese Problemanalyse nichts zu tun, weil sie die verschiedenen sozialen Standorte negiert und den Reichtum, der sich bereits 2003 bei einer kleinen Minderheit konzentrierte, nicht als Problem wahrnimmt, sondern ideologisch überhöht als Teil einer Lösung darstellt. Dahinter steht die bis heute nicht bewiesene Behauptung, der Reichtum der Wenigen würde durch den sog. Trickle-Down-Effekt langfristig allen, auch den Armen, zu Gute kommen, vorausgesetzt sie ergreifen die ihnen gebotenen Chancen! Eine Umverteilung im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit sei daher nicht nur unnötig, sondern kontraproduktiv. Dass die Wirtschaft selbst in Zeiten der Globalisierung anders aussehen kann, als es im derzeitigen Finanzkapitalismus der Fall ist, ist deshalb, folgt man dieser Logik, geradezu undenkbar!
„Das Soziale neu denken“… Mit Befreiungstheologie hat diese Problemanalyse nichts zu tun!
Ich will es trotzdem wagen. Ich will mich nicht damit abfinden, dass in der Ökonomie die Gesetze knallharter Konkurrenz herrschen müssen, damit mit dem so erwirtschafteten Kapital eine spendenfinanzierte Sozialbranche überhaupt entstehen und Gutes wirken kann. Ich kann nicht nachvollziehen, warum Theolog*innen die Rede Jesu, man könne nur Gott oder dem Mammon dienen, lediglich als rhetorisch geschickte Aufladung der Grundaussage verstehen, dass man in Glaubenssachen nicht darum herumkomme, einmal im Leben eine Grundsatzentscheidung für oder gegen Gott zu treffen.[2]
Es gibt sie schon – soziale Alternativökonomien.
Deshalb will ich es wagen und mir vorstellen, dass es andere Wegen geben muss, als jeden mit jedem konkurrieren zu lassen. Und siehe da, ich bleibe nicht bei der Vorstellung, sondern finde landauf landab reales Wirtschaften, das es den Verfechter*innen der INSM zufolge gar nicht geben dürfte. Es fängt an mit der Solidarischen Landwirtschaft, die angesichts eines skandalniedrigen Milchpreises vielerorts aus dem Boden sprießt, den Genossenschaftsläden in abgelegenen Dörfern, wo sich keine Supermarktkette mehr halten konnte, und ist im Chiemgau, wo eine sozial strukturierte, zinsfreie und nur regional gültige Währung den ländlichen Raum stärkt, noch lange nicht vorbei. Was läuft bei diesen Formen der Alternativökonomie anders als es die Verfechter*innen des Marktes propagieren? Die Beteiligten an diesen Initiativen haben für das, woran den „Marktgläubigen“ zufolge alles hängt, kaum Interesse: Für den Markt, auf dem die Preise für Güter und Dienstleistungen entstehen. Ihr Fokus ist ein anderer: Sie haben bestimmte Bedarfe, etwa erschwinglichen Strom und Heizung aus erneuerbaren Energien oder etwa gesunde, ökologische und ohne Ausbeutungsmechanismen produzierte Lebensmittel, die ohne lange Anfahrtswege zugänglich sind, und sie wollen diese Bedarfe gedeckt sehen, ohne dass irgendjemand die dafür notwendigen Prozesse nutzt, um Gewinne abzuschöpfen. Um dies zu erreichen, warten sie nicht auf eine Bank, die ihnen einen Kredit zur Verfügung stellt und sie damit über Jahre binden würde. Wer von ihnen finanziell dazu in der Lage ist, gibt Geld (oder Sachkapital) in einen gemeinsamen Topf, das eingesetzt wird, um im Vorfeld die notwendigen Investitionen zu tätigen. Alle Beteiligten verpflichten sich zudem zu regelmäßigen Überweisungen eines je nach persönlichem Spielraum höheren oder niedrigen Beitrags, damit die laufenden Kosten gedeckt sind, z. B. Mitarbeiter*innen bezahlt, Räume gemietet, Land gepachtet werden kann. Die Angestellten widmen sich also der Erwirtschaftung der genannten Bedarfe (Heizung, Lebensmittel, Wohnraum), die dann direkt den Mitgliedern der EVG oder den Genossenschaftsmitgliedern zur Verfügung gestellt werden, im Falle der Solidarischen Landwirtschaft sogar ohne dass hierfür eigens ein Preis ermittelt wird. Hier lenkt kein abstrakter Markt das Wirtschaftsgeschehen, sondern die Gemeinschaft entscheidet, wie und mit welcher Zielsetzung gearbeitet wird. Die Produzent*innen sind nicht abhängig von an den Börsen gehandelten Weltmarktpreisen, allerdings hängt ihr Arbeitsplatz davon ab, ob die EVG, der Verein e.V. oder die Genossenschaft etc. produktiv arbeitet und Konflikte, auch die zwischenmenschlichen, gelöst werden können.
Es muss andere Wegen geben, als jeden mit jedem konkurrieren zu lassen.
Es gibt sie also schon – soziale Alternativökonomien. Aber warum sollten die Kirchen für sie werben, sich aber von der vermeintlich sozialen Marktwirtschaft, wie sie die INSM propagiert, schleunigst distanzieren?
Der Grund hängt unmittelbar mit unserem Glauben an den befreienden Gott Israels zusammen: Renommierte Exeget*innen wie Frank Crüsemann, Luise Schottroff und Gerd Theißen haben mit ihren sozialgeschichtlichen Analysen gezeigt, dass das Volk Israel zu verschiedenen Zeiten und auch die ersten Christ*innen eine Wirtschafts- und Sozialethik entwickelt haben, die unmittelbar aus ihrem Glauben an den befreienden Gott entsprang. Dabei ist der Grundgedanke einfach und musste doch immer wieder mit viel Aufwand vor dem Vergessen geschützt werden: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (5 Mose 5,6–7). Zentrales Erkennungsmerkmal Jahwes gegenüber allen anderen Göttern ist seine für Unterdrückte und Arme konkret spürbare Befreiungstat. Und weil Gott befreit, sollen auch die Kinder Israels befreiend handeln. So sollen einander zinsfreie Kredite gewähren (Mose 2,23; Lukas 6,35), am Ende des siebten Jahres einander die Schulden erlassen (5 Mose 15,2) und diejenigen, die in den letzten sechs Jahren in Schuldknechtschaft geraten waren, sollen im siebten Jahr frei gelassen werden (5 Mose 15,12–15). Sicher: Die konkrete Ausgestaltung dieser Sozialordnung ist strittig, sie muss immer wieder neu durchdacht und aktualisiert werden. Aber eine Kirche, die Befreiung lediglich als personale Befreiung auffasst und wirtschaftliche und soziale Ausbeutung nicht als solche erkennt, hat sich weit vom Gott Israels, dem Gott Jesu entfernt. Sie sollte sich von Jesus erinnern lassen: „Niemand kann zwei Herren dienen, denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24).
Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.
(Mt 6,24)
Auch wenn es damals um die Daseinsvorsorge des Staates besser stand als heute – ich möchte nicht zurück in die Bundesrepublik der 70er Jahre, in der schon viel schieflief. Der global entfesselte Kapitalismus von heute muss jedoch immer mehr Aufwand betreiben, um die Fratze vor uns zu verbergen, die er andernorts längst ungeniert zeigt. Egal was daraus für sie folgt – die Kirche sollte sich an dieser Maskerade nicht mehr beteiligen und stattdessen am Aufbau wirklich sozialer und solidarischer Ökonomien aktiv mitwirken!
Gudula Frieling, Dr. phil., ist Lehrerin am Konrad-Klepping-Berufskolleg in Dortmund und war von 2008 bis 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie an der TU Dortmund. 2016 erschien ihre Dissertation „Christliche Ethik oder Ethik für Christen – Die Universalität christlicher Ethik auf dem Prüfstand“ im Friederich Pustet Verlag. Sie ist aktives Mitglied von Global Change Now e.V.
[1] Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik, hg. v. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003.
[2] Vgl. Franz Böckle, Fundamentalmoral, München 1977, S. 209.
Bild: Margot Kessler / pixelio.de