Soziales Leben von Anfang an – Anderen ausgesetzt, aber auch ausgeliefert? Burkhard Liebsch formuliert Herausforderungen wirklicher Aufnahme Anderer in menschlichen Lebensformen.
»Nackt wird er geboren und schwach, affizierbar und zerstörbar«, schrieb im Paris des 13. Jahrhunderts der Philosoph Marsilius von Padua über den Menschen. Siebenhundert Jahre später folgerte Günther Anders daraus in seiner viel gelesenen Schrift Die Antiquiertheit des Menschen, jedes Kind sei »ein ›ausgesetztes Kind‹«, auch wenn es nicht einfach sich selbst überlassen wird. In der Tat: Geboren worden zu sein bedeutet für alle, die das Licht der Welt erblickt haben, Anderen fortan rückhaltlos ausgesetzt zu sein in einem sozialen Leben, in dem es von Anfang an darum gehen muss, es wirklich lebbar werden zu lassen. Dabei wird jede(r) mehr oder weniger bestimmt ›nein‹ sagen müssen zu allem, was ihr bzw. ihm selbst oder Anderen auf ›unannehmbare‹ Art und Weise widerfährt ‒ von Vernachlässigung über Erniedrigung, Diskriminierung und Hass über Ungerechtigkeit bis hin zu Verelendung, Ausbeutung, Vergewaltigung, Versklavung, Vertreibung, Genozid und Krieg.
Kein Leben ohne Gewalt.
Zwar kann man all das zu verhüten versuchen, aber selbst ein dem Guten und dem Gerechten verpflichtetes Zusammenleben kann nicht versprechen, jegliche Gewalt ›aufzuheben‹ bzw. zu beseitigen. Mehr noch: jeder kann allein schon infolge »stiller Ächtung« (Moritz Geiger) oder Nichtbeachtung im Prinzip jederzeit wieder aus dem sozialen Leben herausfallen und sich einem sozialen (gegebenenfalls reversiblen) Tod überantwortet sehen.
Geboren worden zu sein bedeutet nicht, bloß in die Welt ›geworfen‹ zu sein, wie so viele Philosophen leichtfertig bei Martin Heidegger abgeschrieben haben, sondern ihr so überantwortet zu werden, dass man rückhaltlos auf wirkliche Aufnahme im Leben Anderer angewiesen ist, um eine Bleibe zu haben ‒ um das Mindeste zu sagen. Infolge dessen bleiben wir ihnen aber zugleich auch rückhaltlos ›ausgesetzt‹: als Aufgenommene ausgesetzt, als Ausgesetzte aufgenommen, gastlich oder ungastlich, bis auf Weiteres oder scheinbar ›für immer‹, möglicherweise von wie auch immer beschränkter oder verfehlter Liebe getragen, aber auch mannigfaltiger Gewalt überantwortet, der wir heute kein generelles idealistisches Versöhnungsversprechen mehr glaubwürdig entgegensetzen können.
Die Ausgesetzten als Aufgenommene.
Das bedeutet keineswegs, dass nunmehr ein finsteres und auswegloses Ausgesetztsein triumphieren muss, das nur noch als fatales Ausgeliefertsein an Andere zu erfahren wäre. Eine wirkliche Aufnahme, die ihren Namen verdient, verbürgt auch Schutz und Rückhalt ‒ und zwar im günstigsten Fall so nachhaltig, dass die Betreffenden in die Lage versetzt werden, sich auch ihrerseits dem Leben mit Anderen auszusetzen. Nur unter dieser Bedingung ‒ das heißt: in einem verletzbaren Leben ‒ kann auch die Sozialität gemeinsam geteilter Zeit, insofern soziale Zeit Gestalt annehmen, die ein sich nicht aussetzendes Leben von vornherein verfehlen müsste.
In dieser Perspektive kommt es entscheidend darauf an, jenes Ausgesetztsein nicht bloß als Mangel an Sicherheit zu begreifen. Vielmehr geht es darum, es als Quelle sozialen Lebens verständlich werden zu lassen, das dazu in der Lage ist, sich auch mit dessen ›unaufhebbarer‹ Negativität auseinanderzusetzen ‒ ohne ihr einfach wehrlos zu erliegen oder sich in einem vermeintlich ungefährdeten Für-sich-sein immun machen zu wollen. Was dabei verloren ginge, ist nicht zuletzt die eigentliche Sensibilität eines verletzbaren Lebens, das nur als nicht derart immunisiertes auch für die sensiblen Belange Anderer aufgeschlossen sein kann.
Es ist eine zumal in politischer Hinsicht gefährliche Illusion, sich der Welt allenfalls aus freien Stücken aussetzen, ihr aber nicht unvermeidlich und grundsätzlich rückhaltlos ausgesetzt sein zu wollen. Daraus müssen sich einschneidende Konsequenzen für ein auf gesicherte und würdige Formen der ›Bleibe‹ angewiesenes Zusammenleben in respektiertem Anderssein, in vielfältigen und gewaltträchtigen Differenzen ergeben, das gewiss niemals eine umfassende gesellschaftliche Inklusion versprechen kann. Umso mehr kann und muss es Sensibilität für das nicht Integrierbare, ›draußen‹ Bleibende, Fremde und scheinbar Unannehmbare beweisen, nicht zuletzt im Mut des Hörens genau darauf und im Vertrauen auf seine Sensibilität, die es all dem aussetzt.
Die Menschen als Weltfremde sind nie ganz unter sich.
Allerdings liegen folgenreiche Unterschiede darin, wie man sich dazu verhält, etwa indem man diese Sensibilität leugnet oder sich dem Ausgesetztsein selbst eigens aussetzt. Weit entfernt, nur gewaltträchtige, am Ende traumatische Überforderungen heraufzubeschwören, stiftet im Verhältnis zum Anderen nichts derart Vertrauen wie genau das ‒ gerade auch dort, wo Fremde als potenzielle Feinde begegnen und demokratische Lebensformen dazu verleiten, sich hermetisch nach außen und in ihrem Innern abzuschließen ‒ als wäre es ursprünglich Welt-Fremden, als die wir zur Welt kommen, je möglich, ganz ›bei sich‹ und ›unter sich‹ zu sein. In Wahrheit handelt es sich hierbei um gewaltsame Fiktionen. Wer wie die sogenannten Identitären scheinbar ganz ›unter sich‹ oder ›für sich‹ bleiben will, wird sich von all jenen, die sich nicht zwangsintegrieren lassen wollen, rigoros abschotten müssen und infolgedessen geradezu einen sozialen, politischen und kulturellen Suizid heraufbeschwören. Jedenfalls wenn es stimmt, dass es ein wirklich lebbares Leben nur dort geben kann, wo man »den Anderen einlässt« (Jacques Derrida), sich ihm ‒ wer auch immer es sein mag ‒ aussetzt und ‒ wenn auch vielleicht nicht gänzlich hilf- und wehrlos ‒ ausliefert.
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Autor: Burkhard Liebsch ist Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt hat er u.a. veröffentlicht: In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität (2016); Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit (2017); Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale, 2 Bde. (2018).
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