Wenn nach der Amazonas-Synode im Herbst 2019 die Diskussion um das Dienstamt in der römisch-katholischen Kirche neu in Fahrt gekommen ist, verbindet sich dies für Stephan Schmid-Keiser mit der Hoffnung auf die Wiederaufnahme der Konzepte für eine kirchliche Sozialgestalt und ein Verständnis des Amtes, die Leonardo Boff in die Diskussion einbrachte.
Engagierte Frauen und Männer in Lateinamerikas Basisgemeinden waren vor mehr als 40 Jahren für Boff Anlass, die Kirche neu zu entdecken. Ähnlich dem vor über 100 Jahren im Zuge des Modernismus-Streits[1] ausgegrenzten Alfred Loisy war Boff an der Verkündigung der Reich-Gottes-Botschaft des Jesus aus Nazareth ebenso interessiert wie daran, dass diese auch die soziale Verfassung kirchlicher Vollzüge mitbestimmen müsste. Kurz bevor Rom mit der Erklärung „Inter insigniores“ 1976 einen ersten verhärtenden Riegel gegen das Priesterinsein von Frauen schob, konnte man mit Boff den bis heute debattierten Fragen nachgehen.
Wollte der historische Jesus nur eine institutionelle Form von Kirche?
Boff fragte sich immer wieder, ob der historische Jesus nur eine institutionelle Form von Kirche wollte. (79-99) Mit Bezugnahme auf Loisy zog Boff als Fazit, dass künftig „das Bischofs- und Priesteramt wie auch andere Funktionen bleiben“ (98) würden. Wichtiger aber sei „die Frage, welchen Stil diese Funktionsträger in den Gemeinden pflegen. Werden sie sich über die Gemeinden erheben und alle Dienste und Machtstellungen monopolisieren, oder werden sie sich in die Gemeinde begeben, die unterschiedlichen Aufgaben integrieren anstatt an sich zu ziehen und die verschiedenen Charismen achten und zur Einheit desselben Körpers zusammenführen?“ (ebd.) Inwieweit sich weltweit in den Ausbildungsstätten kirchlicher Dienste die Förderung dieses Amtsstils durchsetzen kann, ist nach der Amazonas-Synode virulenter denn je.
Die Gemeinde als Ursakrament.
Hinsichtlich der Befähigung zur Feier des Herrenmahls fragte Boff, ob der Bezug auf die Apostel durch Handauflegung zur Feier des Herrenmahls befähige oder die Taufe allein. (100 -109) Yves Congar meinte gar, „dass man dogmatisch die Hypothese nicht ausschliessen kann, es gebe auch noch eine andere Möglichkeit“ (104), nämlich „ob ein Laie in Grenzfällen konsekrieren könne“ (ebd.). Boff suchte nach einem möglichen Ausweg und stieg, ausdrücklich die Rolle des Geistes betonend, ein „bei der Gemeinschaft der Glaubenden […], in der der Geist wirkt und zu deren Entfaltung er die verschiedenen Charismen und Dienste weckt“ (105). Es ging dem später ausgegrenzten Theologen um „den Bezug zur Gegenwart des Auferstandenen und seines Geistes heute in der Gemeinde, die er unentwegt als Gemeinschaft der Jünger“ (ebd.) aufbaue. Diese sei „als Ganze Ursakrament. Als ganze ist sie priesterlich, und zwar unmittelbar, ohne die Vermittlung des geweihten Amtsträgers“ (ebd.). Am Anfang gebe es „also kein Gegenüber, als ob auf der einen Seite das Gros der Gläubigen ohne jede ekklesiologische Macht und auf der anderen Seite der geweihte Amtsträger stünde, der alle Macht auf sich vereint. Vielmehr herrscht eine tiefe priesterliche, prophetische und königliche Gemeinschaft.“ (ebd.) Für den Fall eines „ausserordentlichen Zelebranten“ (107) verwies Boff auf „abgesicherte theologischen Daten“ (ebd.) für die Gemeinde:
- „Sie hängt der rechten Lehre an und befindet sich im Glauben und in apostolische Sukzession.
- Sie bildet kraft ihres Glaubens und ihrer Taufe die priesterliche Gemeinde, weil der gegenwärtige Christus in ihr sein priesterliches Amt ausübt.
- Sie ist das universale Heilssakrament, weil sie die örtliche Gegenwart der Universalkirche ist.
- Durch ihre Koordinatoren steht sie in Gemeinschaft mit den übrigen Schwesterkirchen und der Universalkirche.
- Sie wünscht sich dringend das Sakrament der Eucharistie.
- Lange schon hat sie keinen Priester und keiner ist in Aussicht.
- Sie trägt an dieser Sachlage keine Schuld – etwa durch Verjagen eines Priesters.
- Durch ihr Verlangen hat sie schon eucharistische Gnade.
- Vollzieht ihr ungeweihter Koordinator die Feier des Mahles, sind die sakramentalen Zeichen gesetzt.
- Daraus folgt: Eine solche Gemeinde feiert wirklich und sakramental die Eucharistie.
- Obwohl unvollständig (weil Weihe zum Amt des Priesters fehlt) würde in der Gemeinde als örtlicher Konkretion der Universalkirche aufgrund der «Ökonomie» (Supplet Ecclesia) der eucharistische Ritus gültig gefeiert […] und somit
- der ungeweihte Zelebrant zum ausserordentlichen Träger des Sakramentes der Eucharistie.“ (107f.)
Ungeweihte müssten nach Boffs Vorschlag zu aussergewöhnlichen Zelebrant*innen ad hoc benannt werden. Sie täten lediglich, „was ein geweihter Amtsträger in Gemeinschaft mit der ganzen apostolischen Kirche auch tut“ (108). Da es heute an der Zeit ist, neue Wege zu gehen, verdienen es die Vorschläge Boffs, deutlicher respektiert zu werden. Dies gilt auch für die Diskussion um die Möglichkeiten des Priestertums der Frau.
Das Priestertum der Frau und seine Möglichkeiten.
Klarsichtig wie kaum andere Stimmen nahm Boff „das Priestertum der Frau und seine Möglichkeiten“ (110 – 139) und die männliche Stimme Jesu zur Verteidigung und Befreiung der Frau in den Blick, und formulierte zwei Thesen:
- Gegen die Priesterinnenweihe der Frau gibt es keine entscheidenden, sondern nur disziplinäre Argumente.
- Das Priesterinnentum der Frau kann nicht das gegenwärtige Priestertum des Mannes sein.
Hier hielt sich Boff an die namhafte Stimme von Elisabeth Gössmann: „Man muss einsehen, dass die Frau zu dem kirchlichen Amt, wie es in langer Entwicklung geworden ist und sich jetzt noch darstellt, einfach nicht passt. Erst wenn das Amt selber sich von innen heraus und in Beziehung zur Gemeinschaft neu konstituiert hat, hat es Sinn, dass es auch der Frau übertragen werden kann.“[2] Seither stellt sich das noch dringendere Postulat nach konkreten Schritten, die etwa zu einem begründeten «variablen» Amtsverständnis führen könnten.[3]
Variables Amtsverständnis
Boff wies schliesslich auf theologische Perspektiven für ein Priesterinnentum der Frau. Diese führten ihn zum Fazit: „Wenn die Frau, wie das in vielen Gemeinden schon der Fall ist, Prinzip der Einheit sein kann, dann hindert nichts daran, dass sie auch geweiht wird und dann konsekrieren und Christus sakramental im Gemeindegottesdienst gegenwärtig werden lassen kann. Wie sie das tun wird, kann hier nicht beschrieben werden. Auch eine apostolische Theorie wird dazu keine Aussagen machen können. Allein die konkrete Erfahrung und das Leben innerhalb eines bestimmten Kontextes werden die Richtung weisen.“ (138)
Man hat in der theologischen Diskussion diese hier in Erinnerung gerufenen Vorschläge Leonardo Boffs da und dort eher zögerlich aufgenommen – nach der Amazonas-Synode lohnt es sich, nochmals gründlich darauf einzugehen und das umzusetzen, was sich in den örtlichen Gemeinden in prospektiver Solidarität mit allen anderen Gemeinden in der Universalkirche umzusetzen anbietet. Dabei das Richtige zu tun, wird weiterführen – auch wenn (leider) von einem im ganzen Volk Gottes tief verinnerlichten Klerikalismus viele Widerstände ausgehen. Das bis heute nachwirkende tridentinisch geprägte Amtsverständnis mit einer überhöhenden Sacerdotalisierung ist der Gegenwart jedoch nicht mehr angemessen.[4]
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[1] Vgl. Leonardo Boff: Die Neuentdeckung der Kirche. Basisgemeinden in Lateinamerika, Aus d. Portug. von Horst Goldstein, Mainz 1980 (Zitate im Text beziehen sich auf dieses Buch).
[2] Leonardo Boff ebd. 128f zit. Elisabeth Gössmann: Die Frau als Priester? Conc 4 (1968) 288-293, 291f.
[3] Vgl. Mariano Delgado: Der Laie im kirchlichen Dienst – Ein Diskussionsbeitrag SKZ 174 (2006) 390-392. 397 mit dem Postulat ‘Einführung eines ‘variablen Amtes’ und dem präzisierenden Zwischentitel: «Der Laie ist in der Kirche kein ‘Laie’, sondern ein ‘Christ’» (390).
[4] Auf dieses hatte Georg Schelbert SMB in einem 1967 (!) gehaltenen Schlüsselreferat fokussiert. Ders.: Priesterbild nach dem Neuen Testament, in: Franz Enzler (Hrsg.): Priester – Presbyter. Beiträge zu einem neuen Priesterbild, Luzern/München 1968, 11-35.
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Text: Dr. Stephan Schmid-Keiser, Jg. 1949, Liturgiewissenschaftler und Seelsorger in Luzern.
Bild: Stephan Schmid-Keiser