Wer spielt hier eigentlich mit wem? Menschen mit Beeinträchtigung erobern die Bühnen des ersten Arbeitsmarktes und richten den Scheinwerfer auf ein scheinheiliges Publikum. Ein Kommentar von Laura Brauer.
Spätestens als Ernie und Bert den Steppenwolf zum bourgeoisen Gastmahl einladen, bin ich hellwach und vollends verloren. Thomas Melle mutet seinem Publikum ziemlich etwas zu. Und das liegt nicht allein an der schillernd-postmodernen Adaption des Hesse-Stücks, sondern insbesondere an der außergewöhnlichen Besetzung. Außer…gewöhnlich…
Damit ist das Leitmotiv dieses Artikels vielleicht schon im Wesentlichen benannt. Denn die gerade am Deutschen Theater gespielte Neuinszenierung des Steppenwolfes ist mit Juliana Götze und Jonas Sippel mit zwei Schauspielenden mit Downsyndrom besetzt.
Außer… Gewöhnlich…
Die Performance war ein durchweg ambivalentes, aufwühlendes Ereignis. Von humoristischem Kleinkindgehabe über poppig-schräge Techno-vocals bis zu Textstolperern, Rollenaussetzern, sympathischer Impro und schweißgebadeter Erregung. Voller Körpereinsatz, volle Ausschöpfung des Interaktionsrahmens, volle Hingabe bei höchstpersönlicher Akzentuierung. Eine Herausforderung für die Spielenden wie auch für die Zuschauenden. Am Ende eines langen Abends regnet es Standing Ovations. Und als ich benommen von den zu verarbeitenden Geistesanregungen aus dem Saal taumle, gerate ich geradewegs in einen Pulk voller gehässiger Stimmen; die Gleichen, die eben noch applaudiert hatten, ließen sich nun vor dem Saal hemmungslos über misslungene Inklusion aus.
Voller Körpereinsatz, volle Ausschöpfung des Interaktionsrahmens, volle Hingabe
Es scheint eine gewisse Janusköpfigkeit in der Inklusion am ersten Arbeitsmarkt zu liegen. Einerseits zwingen Menschen mit körperlich-geistiger Beeinträchtigung die Mehrheitsgesellschaft, über den Sinn und die Zeitgemäßheit struktureller Normierungen zu reflektieren. Und dies mit Mitteln von unübertreffbarer Vielfalt. Im Stück reichte dies von Humor bis Ekel, von Schamlosigkeit bis Kühnheit, von Kopf bis Fuß. Andererseits werden sie der Bedrohung ausgesetzt, an den tradierten, nicht selten überdenkenswürdigen Erwartungshorizonten zu zerbrechen. Diese Inklusion liefe womöglich – wie ihre gegenwärtige Exklusion – auf Kosten der sozio-dynamischen, psychischen, physischen Gesundheit Betroffener. Jedenfalls steht fest: Es handelt sich um einen Drahtseilakt zwischen Fremd- und Eigenbetroffenheit, der kein scheinheiliges Publikum duldet.
Irrtümer über Betroffenheit
Meines Erachtens muss mit einer allzu häufig anzutreffenden Reduzierung aufgeräumt werden: Eine Diagnose ist kein Mensch. Wie die oder der Einzelne* ihre oder seine Krankheit oder Beeinträchtigung lebt, ist Frage individueller Umgangsweise. Die Betroffenheit zweier Menschen mit Downsyndrom kann sich also vollkommen unterschiedlich ausdrücken. Und gerade diese Vielfalt muss uns vor Augen geführt werden, um als Gesellschaft einen differenzierten Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung zu finden.
Eine Diagnose ist kein Mensch.
Darüber hinaus leben viel mehr Menschen mit anerkanntem, wenn vielleicht auch nicht unmittelbar erkennbarem, Behinderungsgrad. Das Statistische Bundesamt geht von einer deutschlandweiten Schwerbehindertenquote von 9,4 % im Jahr 2021 aus. Als schwerbehindert gelten Personen, denen ein Behinderungsgrad von mindestens 50 % zuerkannt wurde. Zu den Arten von Behinderung zählen neben solchen, weithin als Behinderung assoziierten Einschränkungen (wie u.a. Blind- und Taubheit, Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule) auch Suchterkrankungen, geistig-seelische Behinderungen oder auch Brustamputationen.
Schwerbehindertenquote von 9,4 % im Jahr 2021
Die wenigsten geistig-körperlichen Beeinträchtigungen sind angeboren. Die meisten Menschen werden im Laufe des Lebens zu Betroffenen. Ob mit oder ohne Beeinträchtigung: Wir müssen von einer gesamtgesellschaftlichen Betroffenheit ausgehen. Die Gestaltung eines gleichberechtigten Miteinanders ist ebenso wie die Aushandlungsprozesse über Norm und Abweichung, über Rollenvorstellungen, Qualifikationen und Erwartungen an Leistung offen und vielseitig. Solange der erste Arbeitsmarkt am zweiten verdient, macht die Mehrheit Geschäft am Ableismus. Welche Hürden Behindertenwerkstätten im Integrationsprozess sein können, ist seit langem publik. So wies auch der Bundesbeauftragte für Belange von Menschen mit Behinderung Jürgen Dusel in einem Interview mit dem DLF (November 2022) auf die Reformbedürftigkeit der Aufgaben der Behindertenwerkstätten hin. Die Niedriglohnproblematik (Beispielwert: 171 Euro Monatsgehalt) ist dabei nur die Spitze des Eisbergs, der sich oft diametral entgegenstehenden Interessen der Betroffenen wie der Einrichtungen. Unterbeleuchtet bleibt in dieser Debatte oft jedoch der Beitrag, den wir bereit sein müssen als Gesellschaft zu übernehmen. Leisten wir uns eher „Ausgrenzungsräume“ und geben Traditionsdenken und Bequemlichkeiten den Vorrang? Dabei werden die im Rahmen der Inklusion angestoßenen Reflektionen für die gesamte (arbeitende) Gesellschaft fruchtbar.
„soft skills“ gegenüber „hard skills“
Ein Beispiel, mit dem nicht nur jeder Mensch mit Beeinträchtigung bei der Arbeitssuche ringen dürfte: Warum werten wir Sozialfähigkeiten als „soft skills“ gegenüber „hard skills“ ab? Noch zugespitzter: Wenn menschliche Arbeitskraft als Investment gesehen wird, werden Menschen dann nicht automatisch zu Spekulationsobjekten? Die Rede vom Arbeitsmarkt wie von einer abstrakt-steuernden Entität lenkt von dem Umstand ab, dass Menschen den Markt gestalten. Dabei nimmt der Staat seine Rolle allzu oft aus hegemonialer Perspektive wahr und schafft anstatt mit nur für Menschen mit Beeinträchtigung. Ein barrierefreier Nahverkehr ist noch keine Infrastruktur für barrierefreies Denken und Sprechen. Und eine Schwerbehindertenquote, aus der sich Unternehmen „herauskaufen“ können, negiert ihr eigentliches Ansinnen. Der Weg zur Schaffung einer breiten Infrastruktur von Inklusionsunternehmen, deren Selbstverpflichtung auf die UNO-Behinderten*konvention eine Selbstverständlichkeit darstellt, hängt mittelbar am Verhalten der und des Einzelnen. Dieser Beitrag kann ebenso in der Etablierung eines inklusiven Konsumverhaltens liegen wie auch in einem Herstellen und vor allem Aufrechterhalten von Öffentlichkeit für Inklusions- und Integrationsfragen.
Reden mit statt über.
Die Aufkündigung dieses Geschäfts mit Ableismus muss dementsprechend auf diskursiver Ebene anfangen. Reden mit statt über. Denn wo Heimlichkeit und Scham einem offensiven Interagieren weichen, ist der Weg für einen weiten Blick auf Gleichberechtigung und ihre Selbstverständlichkeit in allen Gesellschaftsbereichen geebnet.
Die Schauspielenden Juliana Götze und Jonas Sippel haben den Sprung an den 1. Arbeitsmarkt geschafft. Ihr Mut ist mein Hoffnungsfunke für das Jahr 2023. Und jedem, der sich mitreißen lassen möchte, kann ich ebenso wie jedem, der noch zweifelt, einen Besuch der Kooperationsprojekte am DT bzw. der Aufführungen des RambaZamba Theaters nahelegen!
Laura Brauer lebt und arbeitet seit nunmehr sechs Jahren in Berlin. Ihre Passion für verschiedenste Arten der Textproduktion spiegelt sich auch in ihren Fächern Geschichte und ev. Theologie wider, die sie an der Humboldt-Universität studiert.
Beitragsbild: Bildcollage von Laura Brauer
Nachtrag am 14.01.2023: Dieser Artikel ist eine mehrfach redigierte Version des am 30.12.2022 auf der „UnAufgefordert“-Website (unabhängige Studierendenzeitung der HU) veröffentlichten Textes. Anteile des Redigaturprozesses der „UnAuf“-Chefredaktion sind in die vorliegende Fassung eingeflossen.