Kerstin Rödiger reflektiert Impulse für die Spitalseelsorge. Es geht auch um die Frage: Wer trägt wen? und ein wenig ums Schwimmen im Rhein.
Seit sieben Jahren arbeite ich als Spitalseelsorgerin im Uni-Spital in Basel. Diese Stadt ist geprägt vom Rhein, von der Grenzsituation zu Deutschland bzw. Frankreich und einer fortgeschrittenen Säkularisierung.
Von Strömungen und Strudeln
In meinem Spitalalltag sind diese drei Marker spürbar: Einige Zimmer bieten eine malerische Sicht auf den Rhein, viele Angestellte kommen aus den Nachbarländern und von den Patient:innen sind die wenigsten kirchlich geprägt.
Diese Einflüsse bringen eine grosse Dynamik in meinen Arbeitsalltag. Hinzu kommen noch die aktuellen Entwicklungen sowohl in der Kirche, meiner anstellenden Behörde, als auch im Spital, welches die Arbeitsstrukturen definiert.
im Brennpunkt drei grosser Dynamiken
Kein Wunder, fühle ich mich oft, als schwämme ich im Rhein und suchte mir den Weg durch Strudel und um Brückenpfeiler, wobei mich die Strömung unwiderstehlich Richtung Meer zieht.
Ich bezweifle zum Beispiel, dass es diese Art von Spitalseelsorge in 10 Jahren noch geben wird, denn sie steht im Brennpunkt dieser drei grossen Dynamiken:
- die Kirchen mit ihren Krisen und Skandalen
- das Spital mit seinem auf 15 Jahre angelegten Neubau und internen Changeprozessen auch im Gesundheitswesen
- die Gesellschaft mit ihrem Wandel in Bezug auf Religion und Spiritualität
Und ich selbst als Person und Spitalseelsorgerin, zusammen mit meinen Kolleg:innen in der Spitalseelsorge – wir alle schwimmen da mittendrin.
Zukunft der Kirchen im Gesundheitswesen
Nun fand Ende Januar eine diesbezüglich verheissungsvolle Tagung statt: „Die Zukunft der Kirchen im Gesundheitswesen“. Der Berufsverband der Seelsorge im Gesundheitswesen (BSG) und die Schweizer Bischofskonferenz luden dazu nach Fribourg (CH) ein.[1] Ich schildere meine Eindrücke des ersten Tages.
Der Auftrag – trotz und inmitten der wilden Strömungen
Durch den ersten Tag begleitete immer wieder das von Rita Famos (Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, EKS) gezeigte Bild eines holländischen Künstlers, der die Werke der Barmherzigkeit mit biblischen Texten illustriert hatte. Sie wählte das Bild, in dem die Heilung des Gelähmten, der von seinen Freunden durch das Dach zu Jesus gebracht wurde, den biblische Hintergrund darstellte. Die Freunde spielen dabei eine wichtige Rolle, so Rita Famos: Ihr Glaube trug wesentlich zur Heilung bei.
Es ist und bleibt ein starkes Bild für Seelsorge im Gesundheitswesen: Das Begleiten und Tragen der Kranken und die Suche nach (für sie) unkonventionellen Wegen der Hoffnung und des Trostes.
am Heil mitwirken
Simon Peng (Professor für Spiritual Care am Theologischen Seminar in Zürich) gibt diesem Dienst sogar noch eine andere Note: Am Heil mitwirken, ist eigentlich nicht nur ein Werk der Barmherzigkeit, sondern ein direkter Auftrag Jesu an seine Nachfolger:innen: „1Als er die Zwölf zusammengerufen hatte, gab er ihnen Kraft und Macht über alle Dämonen und zur Heilung von Krankheiten. 2Er sandte sie aus, die Königsmacht Gottes zu verkünden und zu heilen.“ Lk 9,1-2 (Bibel in gerechter Sprache).
Doch ebenso wesentlich für die Entwicklung heutiger Spitalseelsorge war auch die Trennung des Verkündigungs- vom Heilungsauftrag. Diesen geschichtlichen Schritt stellte Heiko Rüter (Präsident des BSG) prägnant dar. Früher wurde der Priester ins Spital gerufen, um Sakramente zu spenden, doch vor etwa 60 Jahren hat die CPT-Bewegung einen fundamentalen Wandel in Richtung Professionalisierung der Seelsorge im Gesundheitswesen eingeleitet. Der Dienst an den Kranken steht im Mittelpunkt, wie eben in dem Bild des holländischen Malers: Mittragen durch Aushalten, Zuhören und dabei selbst Getragen-Werden vom Glauben. Bei allen Versuchen bleibt das Profil dieses Auftrags aber auch immer etwas unscharf, unspektakulär und undifferenziert: Wir „sind einfach da“.
Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit
Doch nur durch diese breite Aufstellung, durch die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit, durch die Absichtslosigkeit ist doch der Dienst an diesen vielen, ganz unterschiedlichen Patient:innen in einem säkularen Gesundheitswesen möglich, oder?
Die Spitalseelsorger:innen aus Lausanne und Genf erzählten davon, wie diese Struktur durchbuchstabiert werden kann, wenn das Spital aufgrund der Gesetzeslage für die spirituelle Begleitung Verantwortung übernimmt. Für das Waadtländer Kantonsspital in Lausanne (CHUV) gilt: Einerseits nehmen sie die spirituellen Bedürfnisse der Patient:innen ernst, das ist das Anliegen der Waadtländer Verfassung. Andererseits ist auch die in der Bundesverfassung festgelegte Religionsfreiheit aller Bürger:innen verbindlich. Die Leitung der Seelsorger ist Teil der Leitung des Spitals und gleichzeitig engagiert sich das CHUV selbst in der Ausbildung der Spitalseelsorgenden.[2] Ich bin doch immer wieder verblüfft, wie gross die strukturelle Vielfalt in dieser kleinen Schweiz ist!
Brückenpfeiler Identität
Es schwirrte dann jedoch der Vorwurf durch die Luft, sich diesen Institutionen zu sehr anzudienen – so wie früher die Nähe und Anlehnung der CPT-Bewegung an die Psychologie im gleichen Sinne kritisiert wurde.
Besonders Isabelle Noth (Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Universität Bern) betonte, wie wichtig es sei, ein ganz eigenes, vom Gesundheitswesen unabhängiges Profil zu entwickeln. Gegen diesen Standpunkt kam vor allem von den französisch sprechenden Seelsorger:innen der Einwand, dass sie sich bei aller Zusammenarbeit, ihrer eigenen Identität sehr bewusst seien – sie wissen, wer und was sie trägt.
„Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche…“
Gleichwohl ist allen klar, dass es auf diese Identitätsfrage eine Antwort braucht. Mir kam dazu Paulus in den Sinn „Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche…“ Leider konnte keine weitere Diskussion diesbezüglich stattfinden, da Frau Noth nur bis mittags bleiben konnte. So blieb vor allem der Vorwurf, sich selbst zu verleugnen und zu sehr der Institution anzupassen, einfach mal wie ein Brückenpfeiler im Fluss der Tagung stehen. Andererseits bildet gerade die Identitätsfrage eine wesentliche Säule aller Seelsorgearbeit und beeinflusste auch die weiteren Reflexionen an diesem Tag.
Rettende, tragende Schwimmfische
Der Austausch am Nachmittag im Atelier zu Akutspitälern fand zu diesem Thema statt und wurde für mich zum „Schwimmfisch“, um mich wie im Rhein über Wasser zu halten. Die Diskussion suchte nach der kirchlichen Verwurzelung und christlichen Inspiration der je eigenen Arbeit, also nach dem, was mich in der täglichen Arbeit trägt und mir Profil gibt. Diese Bilder wärmten mein Herz und zeigten mir die Verbindung, die uns durch unsere Arbeit trägt – so unterschiedlich wir sie auch gestalten mögen:
Eine Frau erzählte vom Dornbusch und von Gottes Zusage: „Ich bin da.“
Eine andere nannte als ihre Inspiration den freundlichen Blick, mit dem Gott im aaronitischen Segen die Menschen anschaut.
Und eine dritte erzählte, dass der salomonische Wunsch nach einem hörenden Herz ihr Quelle und Auftrag ist.
im Spital GOTT wirklich durchbuchstabieren
Und wieder leuchtete das Bild des holländischen Künstlers auf. Doch die im Atelier gestellte Frage, was denn die Kirchen von der Seelsorgearbeit lernen könnten, wandelt vielleicht die Deutungsebenen oder bietet eine andere Brille an.
Die vielen Menschen, die in ihrer existentiellen Krise im Spital GOTT wirklich durchbuchstabieren, herbei flehen, anrufen, ersehnen, rätseln, stellen den Blickwinkel auf den Kopf: Können nicht wir „professionellen Freund:innen“ und auch die Kirchen recht viel von dieser neuen, aufkeimenden und andererseits schon immer vorhandenen Spiritualität dieser Menschen lernen?
Stellt sich nicht sogar die Frage, wer eigentlich wen trägt? Nicht nur wir „professionellen Freund:innen“ die Menschen, sondern die Menschen auch uns? Oder sogar: nicht nur Gott die Menschen, sondern die Menschen auch Gott?
Wir sind gemeinsam unterwegs. Als Glaubende, als Mystiker:innen, als Suchende und Sehnsuchtsvolle.
Richtung Meer und Richtung Mehr.
Wenn wir uns gegenseitig freundlich anblicken, und mit einem hörenden Herzen lauschen und füreinander Da-sind, dann wächst in dieser Welt etwas von diesem Senfkorn Hoffnung. Auch Trost und Reich Gottes wachsen weiter. So meine ich. So hoffe ich.
Und so nehme ich mir jeden Tag wieder meinen Schwimmfisch und schwimm los, Richtung Meer und Richtung Mehr.
Dr. Kerstin Rödiger wurde in Deutschland und Brasilien zur Theologin ausgebildet, lebt und arbeitet seit 2002 in der Region Basel, Schweiz. Aktuell ist sie im Universitätsspital Basel in der Spitalseelsorge und im Fachbereich Spiritualität und Bildung der RKK tätig. Sie ritt als Jugendliche gelegentlich, seit etwa 20 Jahren regelmässig, mit Kinderpausen.
Beitragsbild: Schwimmfisch / Foto: Kerstin Rödiger
[1] Medienechos zur Tagung finden sich hier: https://bsg-apa.ch/medienecho-zur-oekumenischen-studientagung-2024/.
[2] Wörtlich heisst es: «Depuis plus de trente ans, le CHUV a souhaité développer la formation à l’accompagnement pour garantir une qualité relationnelle des différents acteurs dans l’hôpital et la qualité d’accompagnement spirituel aux patients, aux proches et aux collaborateurs.» Quelle: https://www.chuv.ch/fr/dso/dso-home/nos-metiers/aumonerie/formation-et-offre-demploi