28. Februar 2016: Der „Oscar“ geht an „Spotlight“, einen Film über die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Sabine Hesse hat ihn gesehen.
Der neue Chefredakteur des „Boston Globe“, Marty Baron, setzt sein Team für investigative Recherchen namens „Spotlight“ darauf an, einem eben veröffentlichten Missbrauchsfall durch einen Priester weiter nachzugehen. „Spotlight“-Chef Walter „Robby“ Robinson und seine Mitarbeiter Michael Rezendes, Sacha Pfeiffer und Matt Carroll stellen im Verlauf ihrer Recherchen fest, dass weit mehr Priester Missbrauch an Kindern begangen haben als zunächst angenommen, und dass das Erzbistum mit Kardinal Law an der Spitze die Fälle kannte und lediglich mit Versetzungen der Täter darauf reagiert hatte.
„Wenn du solche pädophilen Neigungen hast, dann musst du also Theologie studieren.“
Am 06. Januar 2002 veröffentlichte die Zeitung den Artikel und löste damit einen der größten Skandale der US-Kirchengeschichte und Folgen weltweit aus. Der Kardinal trat zurück, viele Fälle wurden aufgedeckt, Entschädigungsklagen in Milliardenhöhe wurden Opfern zugesprochen, in einigen Bistümern führte das zur Insolvenz. Beim Verlassen des Kinos hörte ich folgende Bemerkung: „Wenn du solche pädophilen Neigungen hast, dann musst du also Theologie studieren.“ Dem Kinobesucher ist zu antworten: Da sollten Sie sich nicht so sicher sein!
Spotlight: ein Film über Vergangenheit
Die Kirche in den USA reagierte nämlich auch mit einer deutlichen Richtungsänderung: Die Bischofskonferenz beschloss im Juni 2002 eine „Null-Toleranz-Politik“ gegen Täter von sexuellem Missbrauch. Mit der Charter for the Protection of Children verpflichtete sie sich u.a., sichere Umgebungen für Kinder und Jugendliche zu schaffen, jeden Missbrauchsverdacht gegen kirchliche Mitarbeiter staatlichen Behörden anzuzeigen und innerkirchliche Disziplinarmaßnahmen zu vollziehen. Hilfen für Opfer und ihre Familien wurden ausgebaut.1
Ein Phänomen, das intensive Auseinandersetzung und mutiges Handeln erfordert
Mit Verzögerung fanden und finden ähnliche Prozesse auch in Deutschland statt, seitdem 2010 auch hier viele Fälle ans Licht gebracht wurden.2 Als hauptberufliche Präventionsbeauftragte3 einer deutschen Diözese ist die Autorin dieses Artikels 14 Jahre nach den Ereignissen in Boston (USA) selbst Bestandteil der weltweiten Wirkungsgeschichte. Es wäre unredlich, diese Veränderungen nicht zu sehen und wertzuschätzen. „Spotlight“ hätte aber keinen Oscar verdient, wenn er nur Vergangenheit beschreiben würde. Wer sich mit sexuellem Missbrauch in der Kirche – und anderswo – beschäftigt, merkt schnell, dass es um ein Phänomen geht, das nicht mit einigen Veröffentlichungen, Straf- und Therapiemaßnahmen zu bewältigen ist, sondern eine kontinuierliche intensive Auseinandersetzung und mutiges Handeln erfordert. „Spotlight“ liefert einige wichtige Hinweise, worauf es dabei ankommt.
Spotlight: KEIN Film über Vergangenheit
Sexueller Missbrauch „gehört heute noch zum Grundrisiko einer Kindheit“, wie es der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung 2015 formulierte.4 Täter sind weiterhin auch Priester – sie befinden sich jedoch in schlechter Gesellschaft mit anderen männlichen und weiblichen Vertrauenspersonen aus dem sozialen Umfeld von Kindern und Jugendlichen, v.a. der Familie.
Es gibt den Reflex, es nicht so genau wissen zu wollen.
Hier hat „Spotlight“ eine Schwachstelle: Wenn man nur den Film sieht, könnte man meinen, sexueller Missbrauch sei ausschließlich ein Problem der katholischen Kirche. Dem ist aber nicht so. Bekanntestes Beispiel einer weltanschaulich anders ausgerichteten Institution in Deutschland, in der vielfacher Missbrauch verübt wurde, ist die „reformpädagogische“ Odenwaldschule, die mittlerweile ihre Türen endgültig schließen musste.5
Nach wie vor gibt es auch den Reflex, es nicht so genau wissen zu wollen. Zuweilen scheint es, als sollte Prävention wirken, ohne dass Vorfälle in der Vergangenheit wirklich analysiert worden wären. Aufarbeitung und Intervention in aktuellen Fällen werden nicht in gleichem Maße wie die Prävention professionalisiert und vernetzt.6 Noch immer gibt es auch Schweigekartelle und ein System des Wegschauens – wobei zuweilen schwer zu sagen ist, wo die Übergänge sind.
Spotlight: Wissen wollen, was passiert ist
Beeindruckend ist „Spotlight“, weil er Journalisten zeigt, die es wirklich wissen wollen – mit einem Chefredakteur, der als letzter locker lässt. Mit vereinten Kräften recherchiert die „Spotlight“ – Redaktion auf verschiedenen Wegen, um herauszufinden, was sich abgespielt hat. Wenn sich ein neuer Hinweis ergibt, fragen sie weiter. Wenn es Hürden gibt, versuchen sie, sie aus dem Weg zu räumen. Als sie den Hinweis auf das statistisch wahrscheinliche Ausmaß an Tätern wahrnehmen, beginnen sie mit der Suche nach Belegen. Sie versuchen auch, zum Schluss, eine Aussage der Diözese zu erhalten – die ihnen jedoch verweigert wird. Erst als sich das Bild wirklich verfestigt hat, veröffentlichen sie ihre Informationen. „Spotlight“ geht es nicht um schnelle Schlagzeilen und Sensationshascherei, sondern um gründlich recherchierte Informationen, anders gesagt: es geht um die Suche nach der Wahrheit.
(Auch in Deutschland 2010 war es nicht die Tatsache, dass man etwas wirklich Neues erfahren hatte. Das Neue war auch hier ein Mann, der die Dimensionen ahnte und es genauer wissen wollte: Klaus Mertes schrieb die Schüler der potenziell betroffenen Jahrgänge des Canisius-Kollegs an und lud sie dazu ein, erlebten Missbrauch anzuzeigen.7 )
Die Hand des Täters zwischen den Beinen des erstarrten Jungen…
Doch es gibt verschiedene Schwierigkeiten beim Wissen wollen. Wichtig ist ein sorgfältiger Umgang mit der Sprache und sprachliche Differenzierung: Die Reporterin Sacha Pfeiffer sagt zu einem betroffenen Gesprächspartner: „Sagen Sie nicht nur Missbrauch – beschreiben Sie, was geschehen ist!“ Durch die folgenden Schilderungen entstehen auch in unseren Köpfen Bilder von konkreten Handlungen: Die Hand des Täters, die er zwischen die Beine des erstarrten Jungen schiebt. Das Kind, das den Penis des vermeintlichen Freundes in den Mund nehmen muss, um diesen zu befriedigen. … Es bleibt noch genug Unausgesprochenes und Unvorstellbares, aber die sprachliche Konkretion der Taten muss sein, wenn man in der Aufklärung weiterkommen will. Deutlich zeigt der Film, dass es Opfern nicht nur gut damit geht, über ihre Erfahrungen zu sprechen: „Wir haben 10 Minuten miteinander gesprochen. Danach brach er zusammen.“ Dies kann kein Grund sein, auf das Nachfragen zu verzichten, sondern eher, fachlich und menschlich kompetente Gesprächspartner/innen zur Verfügung zu stellen.8
Die eigene Identität als Familienmitglied, Ex-Schüler oder Kirchgängerin gerät ins Wanken.
Wer aufklären will, stößt auch an persönliche Grenzen. Missbrauch kommt auf einmal sehr nahe: Plötzlich stellt man fest, dass tatsächlich in unmittelbarer Nähe sexueller Missbrauch begangen wird, von Personen, die man zu kennen glaubte, an Kindern oder Jugendlichen, die man schützen möchte. Der „Spotlight“- Redaktionsleiter erfuhr, dass ein Pater, Lehrer an seiner eigenen Schule, dort Mitschüler missbrauchte: „Wir hatten Glück, dass wir nicht in der Hockey-Mannschaft waren, sonst wären wir vielleicht auch sein Opfer geworden.“ Die Beschäftigung mit den perfiden Täterstrategien führt fast zwangsläufig zu einer Verunsicherung: „Wem kann ich eigentlich noch vertrauen?“ Die eigene Identität als Familienmitglied, Ex-Schüler oder Kirchgängerin gerät ins Wanken.
Wirksame Hilfe ist eine große Kunst!
Und selbst bei größter Gewissheit, dass sexuelle Übergriffe stattfinden, stößt man an die Grenzen des Nachweisbaren und weiß noch lange nicht, was man effektiv dagegen tun kann. Wirksame Hilfe für aktuell von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder ist eine große Kunst! Schließlich ist es eine Gratwanderung, sexuellen Missbrauch aufzuklären und dabei das richtige Maß an Diskretion und Öffentlichkeit zu finden. Dabei geht es nicht einfach platt darum, dass „die Kirche“ als Institution vor Beschädigung geschützt werden soll, sondern Opfer, Umwelt und auch Täter haben auch legitime Interessen, dass die Geschichten in einem vertraulichen Raum behandelt werden. Im Film gibt es Sachas Oma, der die Kirche Stütze und Lebensinhalt ist. Ihre Enkelin hat ein nachvollziehbares Problem damit, sie mit der Wahrheit aus ihren Recherchen zu konfrontieren.
Wissen wollen fällt leichter, wenn es die Erlaubnis und den Auftrag, z.B. von Führungskräften dazu gibt. Eindeutig zeigt „Spotlight“ die Bedeutung des Chefredakteurs Marty Baron, der nicht selbst recherchiert, aber ohne den nichts ins Rollen gekommen wäre.
Spotlight: Wissen wollen, wie das System funktioniert
Marty Baron verlangt von seinen Leuten, sich nicht zu früh mit Erkenntnissen über Personen zufrieden zu geben, sondern das System zu hinterfragen. Deutlich wird, dass sich mehr ändern muss als der Umgang mit an die 90 Tätern und ihren Opfern. Es genügt auch nicht, dass ein Kardinal zurücktritt. Nein, es muss genauer gefragt werden: Wer ist beteiligt gewesen an welchen konkreten Entscheidungen? Und warum hat er/ sie sich so entschieden?
Im Film tragen eine Richterin, einzelne Anwälte, der Chefredakteur und jeder einzelne Reporter mit vielen einzelnen Entscheidungen dazu bei, dass die Wahrheit ans Licht gebracht und veröffentlicht werden kann.
Eine Hommage auf die freie Justiz, die Transparenz herstellt
„Spotlight“ ist damit auch eine Hommage auf die freie Justiz, die Akten öffentlich zugänglich macht und Transparenz herstellt, eine Hommage an den Rechtsweg, auf dem der Zugang zu den Akten eingeklagt werden kann. Für die Aufklärung braucht es demokratische Strukturen. Die Rahmenordnung Prävention der Deutschen Bischofskonferenz enthält Partizipation und Transparenz als Grundprinzipien und weist damit in die richtige Richtung. Im Widerspruch steht jedoch die kirchenrechtliche Vorgabe des CIC can. 1719ff.: Die Voruntersuchungsakten über die (für Kleriker) hoch sanktionierte Straftat des Missbrauchs müssen im Geheimarchiv des Bischofs verschwinden. Mit dieser Regel wird wirkliche Aufklärung systemimmanent verhindert. Wenn Papst Franziskus seine scharfen Verurteilungen von Missbrauch ernst meint, wird er auch an dieser Stelle Taten folgen lassen müssen.
Spotlight: Wissen wollen – und handeln
Die Redakteure hatten etliche Meldungen in vergangenen Jahren wahrgenommen, ohne dass diese weiterführende Empörung geschweige denn Aktivitäten ausgelöst hätten. Nachdem sie 2001 endlich die Wahrheit aufdeckten, waren sie mit der unbequemen Frage nach der eigenen Verantwortung konfrontiert. Der Film selbst zieht – m. E. berechtigte – Vergleiche mit Deutschland vor und im Nationalsozialismus. Jede/r am eigenen Ort ist gefragt. Nicht jede/r kann dazu verpflichtet werden, sich intensiv mit sexuellem Missbrauch zu befassen. Aber es gibt einige Orte, von denen es erwartet werden darf.
Auch die Theologie war lange sprachlos
So gibt es auch innerhalb der Kirche Medien. Christian Modehn fragt: „Gibt es heute überhaupt Recherche-Teams unter Journalistinnen und Journalisten, die für kirchliche Medien arbeiten? Gehört unabhängige Recherche zum Profil eines Journalisten, der in einem der kirchlichen Blätter arbeitet? Wollen die Herausgeber, also die Kirchenleitungen, überhaupt investigativen Journalismus?“ Die Fragen sind eher rhetorischer Art, denn „investigativen Journalismus gibt es in kirchen-abhängigen Medien nicht, zumindest nicht in Deutschland“.9 Gleichwohl eine Idee für mehr Transparenz: nach dem Vorbild von „Spotlight“ wären längst nicht nur innerkirchliche Missstände zu recherchieren. Privilegierte Orte des “Wissenwollens“ sind Wissenschaften, also auch die Theologie. Auch sie war in Fragen, die mit Sexualität und Machtmissbrauch zusammenhängen, lange sprachlos. Auch sie muss sich fragen lassen, welchen Anteil sie daran hat, dass es zu Missbrauch durch Amtsträger kommen konnte.10
Wissen wollen könnte man aber auch, warum kirchliche Medien und die Theologie selbst so sprachlos sind, und damit dagegen anzugehen.
Ein Oscar für „Spotlight“! Niemand sollte sich mehr mit billigen Taschenlampen begnügen.
Bildnachweis: http://cult-mag.de/wp-content/uploads/2016/02/spotlight-2015-directed-by-tom-mccarthy-movie-review2.jpg
- Informationen und Impulse aus den USA wurden bei einer Tagung der Diözese Rottenburg-Stuttgart am 05.02.2015 diskutiert. Zu Gast war u.a. der Executive Director des „Secretariat of Child and Youth Protection“ der US-amerikanischen Bischofskonferenz. Siehe: http://www.drs.de/rat-und-hilfe/praevention-kinder-und-jugendschutz/material-praevention.html (13.03.2016) ↩
- Eine sehr gute Darstellung verschiedener Facetten der Entwicklungen in Deutschland (incl. eines Blicks in die USA) findet sich in: Mary Hallay-Witte, Bettina Janssen (Hg.), Schweigebruch. Vom sexuellen Missbrauch zur institutionellen Prävention. Herder, Freiburg-Basel-Wien 2015 ↩
- Alle deutschen Diözesen haben Koordinationsstellen für die Prävention von sexualisierter Gewalt eingerichtet. S.a. www.praevention-kirche.de ↩
- Impulsreferat des Unabhängigen Beauftragten anlässlich des deutschen evangelischen Kirchentages am 06.06.2015; https://beauftragter-missbrauch.de/presse-service/reden/ (18.03.2016) ↩
- Aktuell erschien eine Biografie des ehemaligen Schulleiters und Haupttäters, Gerold Becker, in der auch das System nachgezeichnet wird, das seine jahrelangen wiederholten Verbrechen durch Wegschauen und Vertuschen ermöglicht hat: Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die „Karriere“ des Gerold Becker. Beltz 2016. ↩
- Bundesweit wird möglicherweise die neue, unabhängige Aufarbeitungskommission Bewegung in die Szene bringen, die im Februar 2016 ihre Arbeit aufnahm. Vgl. https://beauftragter-missbrauch.de/aufarbeitung/unabhaengige-kommission/ (13.03.2016). Positiv zu werten, aber allein nicht ausreichend, ist das interdisziplinäre Forschungsprojekt, das die Dt. Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hat. http://www.dbk.de/presse/details/?presseid=2517&cHash=1a3764d5ec462e06733eac7e4e2c997e (20.03.2016) ↩
- Vgl. Mertes, Klaus: Verlorenes Vertrauen. Katholisch sein in der Krise. Freiburg, Basel, Wien 2013, S. 207ff ↩
- Vgl. die Hotlines von Bundesregierung und katholischer Kirche seit 2010: Jörg M. Fegert u.a.: Sexueller Kindesmissbrauch – Zeugnisse, Botschaften, Konsequenzen. Beltz Juventa Verlag, Weinheim und Basel 2013; Andreas Zimmer u.a.: Sexueller Kindesmissbrauch in kirchlichen Institutionen – Zeugnisse, Hinweise, Prävention. Ergebnisse der Auswertung der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexueller Gewalt. Beltz Juventa Verlag, Weinheim und Basel 2014; ↩
- http://religionsphilosophischer-salon.de/7576_spotlight-der-film-und-ueber-das-fehlen-des-investigativen-journalismus-zu-kirchenthemen-in-deutschland_religionskritik (18.03.2016) ↩
- Vgl. Interview mit Magnus Striet auf http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/es-stehen-grundsatzliche-theologische-fragen-an (13.03.2016); Interview mit P. Hans Zollner: http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/wo-bleibt-die-hilfe-der-theologen (13.03.2016) ↩