Anlässlich der interdisziplinären Luther-Tagung kommende Woche an der Universität Wien wird die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff einen Festvortrag zu „Luther als Sprachereignis“ halten. Der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück hat sie im Vorfeld interviewt.
Frau Lewitscharoff, Martin Luthers Sprachgewalt ist bekannt. Sie reicht von fromm poetischen Wendungen in den Kirchenliedern und Psalmenübertragungen bis hin zu scharfen Invektiven gegen seine Gegner. Was fasziniert Sie am „Sprachereignis“ Luther?
Mich entzücken weniger die scharfen Invektiven als vielmehr seine Bibelübersetzung. Das ist nun wirklich ein Meisterstück, zumal es aus den verschiedenen Sprachregionen Wörter aufsammelt und damit einen frühen Zusammenhang in Richtung allgemeinverständlicher deutscher Sprache stiftet. Die Übersetzung ist würzig, zupackend, und sie funktioniert großartig.
Ja, es gab schon vorher eine Reihe dialektaler Übertragungen, aber Luther erst hat es geschafft, durch seine Bibelübersetzung den Deutschen eine Sprache zu geben. Dennoch heißt es in Handkes „Niemandsbucht“: „Es braucht eine neue Übersetzung des Neuen Testamentes, weder eine so volksmaulhafte wie die lutherische, noch eine der jüngeren dem Verständnis von Zeitungslesern angepasste.“ Wie schätzen Sie die Aktualität der Lutherbibel ein?
Na, diese neuere Übersetzung gibt es ja. Die Lutherbibel, die zum Jubiläumsjahr 2017 von der Deutschen Bibelgesellschaft in den nächsten Tagen herauskommt, die wirkt auf mich beim ersten Überfliegen sehr anständig. Ein ganz genaues Bild kann ich mir allerdings noch nicht davon machen. Der erste Eindruck sagt: idiotische Modernismen wurden vermieden, die allgemeine Verständlichkeit ist hergestellt. Der Wortgebrauch ist aber nicht auf Teufelkommraus für die allerschlichtesten Gemüter, die ihre elektronischen Briefchen gern mit „Hallo“ überschreiben, niedergehalten. Der alte Luther muß durch den zeitgenössisch aufgetragenen Lack durchschimmern.
Gibt es besondere Wendungen aus der Lutherbibel, die Ihnen ans Herz gewachsen sind und die Sie sich gerne in Erinnerung rufen?
Sehr schön finde ich eine Stelle aus Psalm 6, Vers 3: „HERR sey mir gnedig / denn ich bin schwach / Heile mich HERR / Denn meine gebeine sind erschrocken.“
Durch die Beschäftigung mit den paulinischen Briefen hat Luther das Kreuz neu ins Zentrum der Theologie gerückt. Einem Freund hat er empfohlen, nicht nur in Büchern, sondern auch in den Wunden Christi zu lesen. Die Empfehlung, die Spuren der Passion zu betrachten und zu entziffern – könnte das auch für Sie als Schriftstellerin ein Anstoß sein, sich der Wirklichkeit von Schuld, Leid und Erlösung neu zu stellen?
In den Wunden Christi lesen zu sollen, oder etwas drastischer ausgedrückt: gedanklich darin herumzubohren, der Gedanke ist mir eher fremd. Allerdings hab ich in jungen Jahren an einem Radiofeature über Anna Katharina Emmerick mitgearbeitet, einer mit Wundmalen besäten Nonne, mit der sich Clemens Brentano jahrelang beschäftigt hat. Das Thema hat mich außerordentlich fasziniert, aber eher in dem Sinne, wohin eine inbrünstige Ekstase einen leidenden Menschen treiben kann. Völlig verrückt ist allerdings, was Clemens Brentano am Bett der Nonne veranstaltet hat – wenn man packend davon erzählt, kann man jede Gesellschaft damit in Schwung bringen. Kurzum: das war Nahrung für meine brennende Neugier und meinen Erzähltrieb, aber ich sah keine Aufforderung darin, es der Nonne nun gleichzutun, und sei es auf sehr entfernten Wegen.
Wir leben in einer Gesellschaft, die oft von gnadenlosen Leistungsimperativen bestimmt ist. Der eine will besser sein als der andere – und putzt ihn herunter, um vor dem Forum der anderen besser dazustehen. Das ist die unselige Logik des Komparativs, in der die Gnade nicht vorkommt. Das Gefühl, fundamental rechtfertigungsbedürftig zu sein, ist in der Literatur des 20. Jahrhunderts oft beschrieben worden. Welche Chancen sehen Sie, Luthers Zentralbotschaft von der Rechtfertigung des Sünders durch Glauben allein neu aufzuschlüsseln?
Die von Ihnen angesprochene Logik des Komparativs ist entsetzlich, menschenverachtend. Sie erzeugt ungeheures Leid, wiewohl man sich selbst dem permanenten Konkurrenzwahn nur schwer entziehen kann. Der Glaube kann die Verstörungen und die Aggressionen, die damit einhergehen, aber sehr wohl mildern und gottlob – damit auch trösten.
Eine letzte Frage zum Reformationsgedenken: Die Kirchen stehen heute wie entlaubte Bäume in der spätmodernen Landschaft, die Konfession der Konfessionslosen wächst, der Nachbar Islam klopft vernehmlicher an unsere Türen – was würden Sie vor diesem Hintergrund den Kirchen von Martin Luther her wünschen?
Ich wünsche mir für alle christlichen Konfessionen, dass sie gut durchhalten mögen. In mageren Zeiten muss man klüglich die Substanz hüten und pflegen. Wer weiß, vielleicht kommen wieder andere Zeiten. Kopflose Anbiederung an das Zeitgenössische führt nur zu noch mehr Abwendung. Die deutschen Protestanten sind diesbezüglich auf verheerendem Untergangskurs, bisweilen ähneln ihre Predigten fatal den mickrigen Werbebroschüren von Versandhändlern. So geht’s sicher nicht.
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, lebt in Berlin. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (1998) und dem Georg-Büchner-Preis (2013). Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag die Romane „Blumenberg“ (2011), „Killmousky“ (2014) und „Das Pfingstwunder“ (2016) sowie die Poetikvorlesungen „Vom Guten, Wahren und Schönen“ (2012).
Jan Heiner Tück ist Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Der Festvortrag von Sibylle Lewitscharoff „Luther als Sprachereignis“ eröffnet das Symposium „Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen“ und findet am 5. Oktober, 19 Uhr, im Großen Festsaal der Universität Wien statt.