„Sprung in den Staub“, so lautet der Titel eines Essays von Wolfgang Beck mit dem Untertitel „Elemente einer risikofreudigen Praxis christlichen Lebens“. Eine Rezension von Angela Reinders
Zu den Kapiteln des Buches
Der „Sprung in den Staub“: Der Titel ist eine Anspielung auf ein Fremdzitat, und das lohnt sich so im Buch nachzulesen. Wer hier mehr zum Titel erfahren wollte, wird enttäuscht und animiert, in das Buch hineinzusehen.
Der Boden für diesen Sprung ist die Welt, wie sie aktuell wahrgenommen werden kann. Beck skizziert im ersten Kapitel „das riskante Leben in der Spätmoderne“ mit Stichworten wie Überforderung, Unterkomplexität möglicher Antworten, Wunsch nach Stabilität, und verweist auf Martha Nussbaums „Königreich der Angst“.
„Das riskante Leben in der Spätmoderne“
Das erste ist die soziologisch reflektierte Grundierung für die folgenden Kapitel, die offen der Frage nachgehen: Was ist der Extrakt für theologische und ekklesiologische Ansätze, die dem Anspruch des Evangeliums auch in dieser Situation gerecht werden?
In dieser Suche entfaltet Beck im zweiten Kapitel die im ersten dargestellte „Unübersichtlichkeit und ihre institutionellen Versuchungen“. Es ist ein Kapitel der Absagen. Auch dem Glauben und seinen institutionalisierten Erscheinungsformen helfen die Strategien nicht, die sich gesamtgesellschaftlich anzubieten scheinen, aber überall versagen: nicht das „Paradigma der Stabilität“[1] und die Sehnsucht nach Sicherheit, mit Hans Joas auch nicht die Selbstoptimierung, nicht das „Ideal der Eindeutigkeit“ (47).
Bleiben diese Absagen unbeachtet, ist im dritten Kapitel wahrzunehmen, was geschieht, „wenn die Kirche nur noch die Kirche rettet“. Welchem Muster folgt die Kirche bei der Bearbeitung im „Doing Loss“: kommuniziert sie, erklärt sie und gewinnt sie Profil? Oder deutet sie um und negiert und läuft so Gefahr, nur ihr eigenes Ansehen zu retten?
Welchem Muster folgt die Kirche bei der Bearbeitung im „Doing Loss“?
Mit dem vierten Kapitel fragt Beck: Versteht die Kirche „religiöse Kommunikation als Beziehungsarbeit“? Der Autor wirbt hier für die wiederentdeckte „parrhesia“, dafür, von der Redefreiheit Gebrauch zu machen, zu deren Souveränität das zuversichtliche Vertrauen in Gott befähigt (Eberhard Schockenhoff). Und er fragt vor allem an, wie das kirchliche Leben „günstiges Umfeld“ für eine „Parrhesia-Praxis“ (Hermann Steinkamp) mit all ihren Ambivalenzen zwischen Autorität und Widerstand werden kann (81f.).
Mit seinem Buch im Ganzen wirbt der Autor dafür, in der Theologie und im kirchlichen Leben „das unterschätzte Potenzial der eigenen Vielfalt“ zu entdecken, nicht zuletzt, um sich auffindbar zu machen für die Suchprozesse unabgeschlossener, fragender Religiosität (Quest-Religiosität), wie sie in der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU_6) in großen Teilen der Gesellschaft identifiziert wurde.
Im kirchlichen Leben „das unterschätzte Potenzial der eigenen Vielfalt“ entdecken
Die Öffnung auf solche Suchprozesse hin wird kaum möglich sein, ohne die Flucht in theologische Abstraktion aufzugeben und stattdessen einer „Theologie der ‚dreckigen Hände‘“ zu folgen: eine Theologie, die Gott selbst unten denkt und ihn auch – nach Dorothee Sölle – politisch-theologisch vorstellen kann (120).
Das konkretisiert Beck im Schlusskapitel und wirbt „jenseits der Sorge um das eigene Profil für Orientierung am Gemeinwohl“. Dies ist relevant für die Analyse, wem das Handeln der Kirche dient. Die Gemeinwohlorientierung bewahrt vor dem „ersehnten Modus kirchlicher Aufwertung“ und vor „institutionellem ‚Othering‘“ (125f.), das andere ausschließt, abgrenzt, abwertet: Eine Haltung, die sich die Kirche allein schon nach dem eigenen Versagen in ihrer Gewalt- und Missbrauchsgeschichte nicht mehr erlauben kann.
Einordnungen und thematische Skizzen
Der Autor hat nach eigener Aussage mit diesem Titel „kein Buch der wissenschaftlichen Theologie“ (14) verfasst. Dennoch ist es eine Reflexion von Fragen entlang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit theologischen Themen. Es ist die Suche nach den „theologischen Elementen“, die „ein erhebliches Anschlusspotenzial“ für die riskante Spätmoderne anbieten (51). So lassen sich diese auch extrahieren und in einzelnen Fäden bündeln, deren Knotenpunkte die Leitlinien des gedanklichen Aufbaus immer wieder zusammenführen und stabilisieren.
Im Jubiläumsjahr der Pastoraltheologie
Beck erklärt, dass seine „persönlichen Reflexionen“ im Zusammenhang mit pastoraltheologischen Perspektiven gerade im Jahr 2024 erscheinen, „in dem auf eine 250-jährige Geschichte der Pastoraltheologie geschaut wird“. Er positioniert dieses als nichtwissenschaftliches und dennoch theologisches Buch: Beck spricht darin von Gott und stützt sich dabei auch auf pastoraltheologisch-praxeologische Methodik: unter anderem auf den biografiesensiblen Austausch mit Menschen und Gruppen, deren Belange im kirchlichen Leben gehört werden sollten, damit sie dort vorkommen. Rückmeldungen auf seine Habilitationsschrift haben ihn zu diesem Buch angeregt (9).
Biografiesensibler Austausch mit Menschen und Gruppen
Er zeichnet detailliert die Herausforderungen nach, vor denen junge Menschen wie auch alte Menschen stehen (21ff. und 129) mit Aspekten, die man eher aus dem persönlichen Austausch denn aus der Literatur kennt. Er geht persönlichen freundschaftlichen Beziehungen nach mit den Lernchancen, die solche Begegnungen bergen (96), teilt seine Erfahrung aus Gesprächen mit Bauarbeitern (111) und Menschen mit Migrationsgeschichte (123f.).
Kenosis
Die „Bestimmung Jesu als Form der Hingabe Gottes“, ausgedrückt im Philipperbrief (2,6-7), kommt explizit nur auf den Seiten 68f. vor und ist doch immer wieder die Bewegung, die Beck theologisch nachzeichnet als Bewegung des Glaubens, als Bewegung der dienenden Kirche. Lebt sie im „Ideal der eigenen Hingabe“, wird „alle Sorge der Kirche um sich selbst nachrangig“ (69).
Becks theologischer Entwurf fragt die „hohe Theologie“ an, weil mit ihrem Habitus eine Perspektive verbunden sein kann, in der die „Gegenwartsgesellschaft […] von Unglaube, Relativismus und Egoismus geprägt sei“ (118). Mit John D. Caputo plädiert der Autor für eine „tiefe“, eine „radikale“ Theologie, die in den Schmutz, in den Staub reicht.
Für eine „tiefe“, eine „radikale“ Theologie
Es ist die Bewegung, die entsteht, wenn man dem Konzilsdokument „Gaudium et spes“ folgt, und zwar in ihrer Fußnote zur Einheit von „pastoraler“ und „lehrhafter“ Zielsetzung.
Gaudium et spes
Im Vorfeld des 60-jährigen Gedenkens an die Veröffentlichung der relevanten Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils holt Beck die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes” nach oben vorne, besonders die Tatsache, dass sie das einzige Dokument mit einer eigenen Fußnote ist: „Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute besteht zwar aus zwei Teilen, bildet jedoch ein Ganzes.“
Die Konstitution ist ein Dokument gegen die Dominanz des Ideals der Einheitlichkeit, die unter sich „alle bestehenden Differenzen, Meinungen und Konflikte verdeckt“ (85). Diese Fußnote ist darum für den Ansatz Becks anschlussfähig als „ein Segen und Ausdruck von Lebensweisheit und Menschenkenntnis“ (117). In dieser Kombination eröffnet sie nicht zuletzt Perspektiven für die katholische Soziallehre sowie für einen konstruktiven Beitrag der kirchlichen Lehre zum Gespräch über Demokratie und Menschenrechte, wie schon zuletzt in mehreren päpstlichen Dokumenten erkennbar (vgl. 131f.)
„Traditionssegmente der Pluralität“
Andere als vom „Ideal der Eindeutigkeit“ geprägte Erzählungen bieten bereits die biblischen Überlieferungen, etwa die Schilderung des Exodus (Ex 12,37f), bei dem sich das Volk Israel mit anderen, mit fremdem Volk mischt (101), die Pfingsterzählung, wenn sie nicht von Lesarten mit eindeutigen Absichten überlagert wird, und die paulinisch grundierten und in jüngerer Kirchengeschichte (besonders seit „Gemeinsam Kirche sein“, 2015) wieder betonten Charismen (vgl. 57f.) mit ihrer Anschlussfähigkeit für Ambiguität und Vielfalt.
Biblische Überlieferungen
Dies alles sind Dokumente für eine „risikoaffine Würdigung von Diversität“, die nicht nur nottut, will man theologisch auf die aktuelle Situation pluriformer Uneindeutigkeiten reagieren. Sie ist auch relevant für einen Kulturwechsel innerhalb der Kirche: „Das Ideal größtmöglicher Entschiedenheit ist eine Konstruktion, der sowohl persönlich wie auch institutionell bestenfalls in Teilbereichen entsprochen wird. Es ist deshalb immer auch mit schambehafteten Grauzonen verbunden und es ist geeignet, als Machtinstrument Menschen unter Druck zu setzen“ (71). Einheitlichkeit zu betonen birgt zudem die Gefahr, „theologische Populismen“ zu befördern (72).
Reflexion und Bewertung
Vor etwas mehr als 30 Jahren beschrieben Eric Hobsbawm und Terence Ranger in ihrer Essaysammlung „The Invention of Tradition“ (Cambridge 1992), wie in verschiedenen Feldern neuere Phänomene als vermeintlich alte Traditionen dargestellt werden. Dies kommt als Folie in den Sinn, wenn Beck zwei Traditionsstränge nebeneinanderstellt. In der kirchlichen Lehre wird immer wieder der Versuch unternommen, die Tradition der kirchlich verantworteten Theologie mit deutlichen „Tendenzen der Vereindeutigung“ (55) zu zeichnen sowie christliche Glaubensgemeinschaft und Kirche mit einer „Kontrastidentität“ (89) als „Gegengesellschaft“ zu entwerfen. Beck kritisiert deutlich alle „Strategien behaupteter Einheitlichkeit und Kontinuität“ (86) und setzt entschlossen theologische „Ansätze dynamischer Risikogestaltung“ (55) und einen „Traditionsstrang risikoaffiner Theologien“ (62) dagegen.
Beck kritisiert deutlich alle „Strategien behaupteter Einheitlichkeit und Kontinuität“ (86)
Ein Risiko ist in den Lücken gegeben, im Schweigen und im Aushalten, allen voran in der Leerstelle des „noli me tangere“ (107f.). Darauf lässt Gott sich in Christus so ein, dass Risiken „sogar unerlässlich für das Sakrament selbst“ (107) werden, in dem Gott seine Unberührbarkeit für den Menschen überwindet. Eine in ihrem Rang als wissenschaftliche Disziplin angefragte Theologie und eine geschwächte Kirche: Ob sie einem risikoaffinen Entwurf, wie Beck ihn bietet, zumindest im Experiment folgen und darin eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen der Spätmoderne zu finden versuchen möchten?
An dieser Stelle könnte es ein Hemmnis zu einer breiteren Rezeption des Buches sein, dass in der Liste derjenigen, mit denen der Autor gesprochen hat, zumindest explizit die traditionell bis traditionalistisch oder gar innerkirchlich rechtspopulistisch konnotierten Personen fehlen. Ob es dann am Ende nur von denen gelesen wird, die der gleichen Meinung sind wie der Autor, und es weiterhin kaum oder gar nicht zum Dialog zwischen beiden Traditionssträngen kommt, aus dem fruchtbar Theologieproduktivität generiert werden könnte?
Eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen der Spätmoderne zu finden versuchen
Nach dem Höhepunkt der, zumal deutschen, kirchenhistorischen Flugphase: Ist der „Sprung in den Staub“ als Bewegung von Theologie und christlicher Glaubensgemeinschaft möglich?
Es bleibt nach der Landung der große Wunsch, hierzu ein Werkbuch vorzufinden. Quellen dazu gibt es überall dort, wo Menschen bereits in der kirchlichen, in der pastoralen Arbeit den entschlossenen „Sprung in den Staub“ mitvollzogen haben. Gelandet sind, um neu anzulaufen. Risikoaffin, nicht immer unbeschadet, aber wirksam.
Angela Reinders, geb. 1965 in Aachen, Studium der katholischen Theologie in Bonn und Münster, dort 2006 Promotion mit dem Dissertationsthema „Zugänge und Analysen der religiösen Dimension des Cyberspace“. Ausbildung zur Journalistin und Pastoralreferentin. Seit 1. November 2022 Direktorin der Bischöflichen Akademie im Bistum Aachen, Sprecherin der Fokusgruppe Ethik im digitalHUB Aachen e.V.
Angaben zum Buch:
Wolfgang Beck, Sprung in den Staub. Elemente einer risikofreudigen Praxis christlichen Lebens. Ein Essay, Matthias Grünewald Verlag (Verlagsgruppe Patmos), Ostfildern 2024
[1] Wolfgang Beck, Sprung in den Staub, 46 (Beck zitiert hier Veronika Hoffmann). Die Zahlen in Klammern im Text beziehen sich auf das besprochene Buch.