Welche Rolle kommt staatspolitischen und staatsrechtlichen Aspekten innerhalb der sozialethischen Migrations- und Integrationsdebatte zu? Wie verhalten sich Gerechtigkeit und Nächstenliebe zueinander? Dass die zeitgenössische Sozialethik blind ist für die Relevanz des Staates, behauptet Axel Bernd Kunze. Ein Zwischenruf zur gerade stattfindenden Jahrestagung der deutschsprachigen Sozialethiker_innen in Berlin.
Der Staatsrechtslehrer Josef Isensee, Verfasser des Grundsatzartikels zum Stichwort „Staat“ im Handbuch der Katholischen Soziallehre (Berlin 2008), nennt das Öffnen der Grenze im Sommer 2015 einen „humanistischen Staatsstreich“. In einem „Rausch der Moral“ habe man auf jede rechtliche und gesetzliche Grundlage verzichtet. [1] In ähnlicher Richtung hatte sich im Sommer 2016 auch Richard Schröder in der F.A.Z. geäußert. Barmherzigkeit oder Nächstenliebe, so der evangelische Sozialethiker aus Berlin, seien keine Kategorien staatlichen Handelns. Der Staat müsse vielmehr gerecht sein, nach Regeln verfahren und die Folgen bedenken.
Gänzlich anders hingegen argumentiert (bei gleichem Anlass) der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick: Die weitreichende Flüchtlingsaufnahme sei ein „Gebot christlicher Nächstenliebe“ gewesen. Die Bundeskanzlerin habe im Sommer und Herbst 2015 gar nicht anders handeln können. Das Auseinanderdriften der Positionen kann man als dramatisch bezeichnen. Und wer dies in ethischer Begrifflichkeit reformuliert, wird festhalten müssen: Ursprünglich tugendethische Begriffe wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder auch Gastfreundschaft werden in der Migrationsdebatte zunehmend als normethische Kategorien verwendet, offenbar ohne dass man sich der damit einhergehenden Probleme bewusst ist.
Abkehr vom klassisch katholischen Staatsdenken?
Das politische Denken im Christentum rechtfertigt den Staat als notwendigen organisierenden Faktor des sozialen Lebens und relativiert diesen zugleich. Christinnen und Christen geben dem Staat, was des Staates ist, und Gott, was Gottes ist. Die Verpflichtung der Gläubigen zum staatsbürgerlichen Gehorsam gründet nicht in äußerem Zwang, sondern ist eine Gewissenspflicht, insofern der Staat als Teil menschlicher Daseinsverfassung letztlich in Gott, dem Schöpfer, gründet. Im katholischen Staatsdenken ist das antike Erbe des Aristoteles schöpfungstheologisch eingebunden worden. Der Mensch ist auf das politische Leben hin angelegt. Die staatliche Gewalt rechtfertigt sich funktional, indem sie die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens erhält und gestaltet.
Der Staat ist ein notwendig organisierender Faktor des sozialen Lebens – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Begründungszusammenhang personalistisch wie verantwortungsethisch erweitert, aber nicht grundsätzlich aufgegeben. Die katholische Staatslehre wurde seit Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanum zunehmend von einem umfassenderen Begriff politischer Ethik abgelöst. Wichtige Erweiterungen waren die Inkorporierung des Menschenrechtsgedankens, einschließlich der Religionsfreiheit, in das katholische Staatsdenken, die systematische Unterscheidung zwischen Moral und Recht sowie die Anerkennung einer relativen Autonomie der verschiedenen Kultursachbereiche. Neben die naturrechtlich-scholastischen Vorstellungen trat das Bemühen um eine eigenständige theologische Begründung der Menschenrechte und Religionsfreiheit, so beispielsweise in der Enzyklika Pacem in terris oder der Konzilserklärung zur Religionsfreiheit Dignitatis humanae. Herangezogen wurden etwa Gedanken aus der Eschatologie.
Der Staat scheint überflüssig zu werden…
Mittlerweile beginnt sich eine neue Phase anzudeuten: Die Menschenrechte erscheinen in einer überschießenden Interpretation fast schon als eigentliche Botschaft der Kirche. Kulturwissenschaftliche Theoreme ersetzen die Elemente oder zumindest Überreste einer genuin christlichen Gesellschaftslehre, von der die Sozialethik auch nach Abkehr vom neuscholastischen Naturrecht weiterhin zehrte. Fast krampfhaft erscheint mittlerweile das Bemühen, jeden Eindruck von Statik im eigenen politischen Denken zu vermeiden – so als seien die Elemente unseres staatlichen wie gesellschaftlichen Zusammenlebens und dessen Fundamente nahezu beliebig austauschbar.
Jüngere sozialethische Äußerungen in der aktuellen Migrationskrise zeigen, wie Rolle und Bedeutung des Staates auf diese Weise aus zwei Richtungen relativiert werden: durch eine kulturwissenschaftlich orientierte Sozialethik auf der einen und eine menschenrechtsbasierte Sozialethik auf der anderen Seite, die den Anspruch der Menschenrechte immer weiter auszudehnen versucht. [2] In beiden Fällen wird die Rolle des Staates als Garant innerer und äußerer Sicherheit zurückgenommen, verbunden mit der Gefahr, jenes Vertrauen klein zu reden, auf welches der Staat um seiner eigenen Legitimation und Stabilität willen von Seiten seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen bleibt.
Sind „Nation“ und „Volk“ nur austauschbare Narrative?
Ansätze kulturwissenschaftlich orientierter Sozialethik erwecken den Eindruck, der Bezug auf die Nation, das Volk oder den Nationalstaat sei ein letztlich austauschbares, mitunter kolonial vorbelastetes, mehrheitlich bereits überwunden geglaubtes Narrativ. Es wirkt so, als könnten der Bezug auf die Menschenrechte oder ein globales Gemeinwohl den Staatsbezug ersetzen. Zur Begründung wird nicht selten auf komplexe soziale Zugehörigkeiten in einer globalisierten Welt verwiesen, die in nationalstaatlichen Kategorien nicht mehr angemessen zu fassen seien. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden, greife zu kurz, so der Tenor. Allein, die Welt, sie ist nicht so…
Wer binären Zuschreibungen äußerlich abschwört, kann diese dennoch unreflektiert weiter verwenden. Dies zeigt sich etwa, wenn der politische Diskurs vorschnell in „weltoffene“ und „fremdenfeindliche“, „dynamische“ und „statische“, „fortschrittliche“ und „rückwärtsgewandte“, „pluralismusfähige“ oder „verunsicherte“ Positionen eingeteilt wird. Für Zwischentöne bleibt da wenig Raum. Eine Sozialethik, die staatsrechtliche Argumente in kulturwissenschaftliche Fragestellungen aufzulösen versucht, suggeriert unbewusst ein Fortschrittsparadigma, das sich der wissenschaftlichen Reflexion entzieht. Weiterhin an nationalstaatlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens festhalten zu wollen, erscheint in einem solchen Diskursklima schon fast als Pathologie. Wer noch so denkt, der sei verunsichert, fühle sich unter Druck, verhalte sich reserviert und greife gleichsam nach einer statisch verstandenen „Leitkultur“ als letztem Rettungsanker in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Die Sozialethik verfällt einem Fortschrittsparadigma, das sich der kritischen Reflexion entzieht.
Wird etwas zum kulturwissenschaftlichen „Narrativ“ erklärt, ist damit noch nichts über dessen Wirksamkeit ausgesagt, dies gilt auch für tragende Elemente nationalstaatsorientierten Denkens. Schon der Blick in andere Länder der Europäischen Union zeigt, dass nationale Kategorien weiterhin die politische Realität und das politische Denken bestimmen. Viele deutschsprachige Sozialethiker stehen diesem Phänomen in der gegenwärtigen Integrationsdebatte eher hilflos gegenüber.
Menschenrecht ist auf den Nationalstaat angewiesen!
Wie die aktuelle Migrationsdebatte zeigt, wird der staatsethische Bezug zunehmend ersetzt durch eine überschießende Interpretation der Menschenrechte. Diese sollen nicht mehr allein um der Menschenwürde willen gebotene Mindeststandards sichern und staatliche Eingriffe in die Integrität der eigenen Person und die Privatsphäre abwehren, sondern Ziele für gewünschte Gesellschaftsreformen festlegen und komparative Verbesserungen durchsetzen helfen. Hierzu zählt beispielsweise ein sogenanntes Recht auf besseres Leben, wie es in nicht wenigen migrationsethischen Äußerungen mehr oder weniger offen gefordert wird. Das Ganze könnte zum Pyrrhussieg werden: Wer das Menschenrecht überstrapaziert, beschädigt auf Dauer seine Wirksamkeit.
Unsere gesamte Rechtsordnung, einschließlich der Anerkennung unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte, basiert weiterhin auf nationaler Grundlage. So heißt es etwa in der Präambel der deutschen Verfassung, dass sich „das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“ habe. Wer diesen nationalen Bezug verkennt, läuft Gefahr, die rechtliche Ordnung aufzulösen. Zwar ist der freiheitliche Verfassungsstaat auf den vorstaatlichen Gehalt der Menschenrechte verpflichtet, doch bedürfen diese um ihrer Wirksamkeit willen der rechtlichen Positivierung innerhalb einer staatlichen Ordnung. Die menschenrechtlich gewährleistete Freiheit gründet auf einer staatlich befriedeten und durch Recht eingehegten Ordnung, die allein einen wilden Naturzustand zu bändigen vermag.
„Ohne Ordnung kein Recht – und auch keine Freiheit.“
Der Wille des Volkes bildet sich in rechtsförmlichen Verfahren, legitimiert formal die staatlichen Institutionen und wird umgekehrt durch diese repräsentiert. Material legitimiert sich die staatliche Ordnung, die kein Selbstzweck ist, aus dem Wohl des Volkes. Gemeinwohlauftrag und Gewaltmonopol sind miteinander verschränkt: Freiheit bleibt angewiesen auf eine durchsetzungsfähige rechtliche Ordnung, ohne die sie doch immer nur das Recht des Stärkeren bliebe. Umgekehrt verwirklicht sich im Gemeinwohl die Freiheit; andernfalls bliebe die Macht bloßer Selbstzweck. Im Rechtsstaat gehören daher die vom Staat zu schützende Sicherheit der Bürger und die grundrechtlich garantierte Freiheit, die vor staatlichem Zugriff geschützt bleibt, untrennbar zusammen.
Dies gilt auch vor dem Hintergrund, Gemeinwohl und Solidaritätspflichten auf globale Zusammenhänge hin auszuweiten. Der Wunsch nach einer universalen Friedensordnung, in der alle politischen Spannungen und Interessenskonflikte durch die Idee der einen Menschheitsfamilie aufgelöst werden könnten, wäre eine Utopie. Die politischen Spannungen würden sich in einer Art Universalstaat vielmehr nur nach innen verlagern. Der Mensch würde letztlich zum heimat- und identitätslosen Nomaden. Gerade die Mannigfaltigkeit der Staatenwelt, wenngleich sie auch Auslöser zwischenstaatlicher Konflikte sein kann, ermöglicht die Entfaltung kollektiver Zugehörigkeit und kultureller Eigenart und garantiert damit Individualität und Freiheit. Isensee warnt im Handbuch der Katholischen Soziallehre vor einem „kosmopolitischen Leviathan“, vor dem es letztlich keinerlei Asyl mehr gäbe.
Was hält unser Gemeinwesen zusammen?
Sollte jemand vor Gericht angeklagt werden, was niemand für sich wünscht, wäre ihm oder ihr sicher lieb und recht, dass das „Volk“, in dessen Namen Recht gesprochen wird, kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern man sich auf tragfähige kulturelle Werte verlassen kann. Sollte jemand als Beamter darauf vertrauen, auch im Ruhestand auskömmlich leben zu können, wäre einem sicher lieb und recht, dass dieses „Volk“, das seinen Beamten gegenüber Loyalität zugesichert hat, kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern eine berechenbare Größe bleibt, die sich später auch an einmal gegebene Pensionszusagen erinnert… Die Beispiele ließen sich fortführen.
Das Staatsvolk ist mehr als ein zufälliger Verbund von Individuen, der allein auf persönlichen Verpflichtungen oder Sonderinteressen gründet. Wenn wir von Nation sprechen, geht es um eine Schicksals- und Solidargemeinschaft, die durch gemeinsame Identität zusammengehalten wird. Diese speist sich aus gemeinsamer Herkunft und Erinnerung, aus miteinander geteilten Traditionen und Mythen, verbindender Sprache und Kultur, aus einem verbindlichen Symbolvorrat und emotionaler Verbundenheit. Die Migrationskrise hat gezeigt, dass die Europäische Union, wenn auch von den Eliten vielfach als eine solche beschworen, alles andere als eine Schicksals- und Solidargemeinschaft darstellt, sondern allenfalls ein Bund von Staaten, die bestimmte Orientierungswerte teilen, aber weiterhin eigene Interessen haben.
Der Begriff ‚Staatsvolk’ ist die Abkürzung für ein gemeinsam geteiltes Leben.
Nicht selten wird die Leitkulturdebatte mit Verweis darauf, dass Kultur historischer Veränderung unterliege, für beendet erklärt. Diese Erkenntnis ist trivial. Doch mit dem Wandel kultureller Prägungen, Routinen, kollektiver Vorlieben, Gewohnheiten oder Alltagspraktiken werden sich auf Dauer auch gesellschaftliche Orientierungswerte wandeln. Daher braucht jedes Staatswesen einen offen und fair geführten gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie das gemeinsame Zusammenleben gestaltet werden soll – aber eben auch darüber, was im Zusammenleben nicht geduldet wird.
Tabus, Boykottaufrufe, Diskursabbrüche und Verdächtigungen fördern diesen notwendigen Diskurs nicht. Bei der Pflege lebendiger Orientierungswerte, die unser Zusammenleben prägen, spielt die Kirche eine wichtige Rolle. Der Jubiläumskatholikentag von Leipzig war ein unrühmliches Beispiel, weil er das kirchlich geduldete Gesprächsspektrum im Sinne einer einseitig geprägten Debattenkultur erheblich eingeschränkt hat. Wer beispielsweise nationalkonservativen oder nationalliberalen Positionen jenseits extremistischer Zuspitzungen ohne Not die geistliche Gemeinschaft versagt, funktionalisiert entweder die Religion für parteipolitische Zwecke oder dogmatisiert ohne Not im demokratischen Diskurs zu klärende politische Streitfragen. Wollte sich die Kirche in diesem Wahljahr als hilfreicher Ratgeber empfehlen, wäre ihr mehr Nüchternheit und staatspolitische Klugheit zu wünschen.
[1] Geäußert bei einer Tagung des Cartellverbandes Katholischer Deutscher Studentenverbindungen (CV) und der Hanns-Seidel-Stiftung im Kloster Banz im November 2016 . Vgl. den Tagungsbericht: Jürgen Fuchs, Wolfgang Braun, Christoph Dicke: Humanistischer Staatsstreich oder Gebot christlicher Nächstenliebe?, in: Academia 110 (2017), H. 1, S. 34 – 36.
[2] Exemplarisch kann man das an einigen Textes eines aktuellen Sammelbandes sehen: Marianne Heimbach-Steins (Hg.), Zerreißprobe Flüchtlingsintegration, Herder: Freiburg, 2017 (Theologie kontrovers). Ebenso: Walter Lesch, Kein Recht auf ein besseres Leben? Christlich-ethische Orientierung in der Flüchtlingspolitik, Herder: Freiburg, 2016.
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Axel Bernd Kunze ist habilitierter Erziehungswissenschaftler und promovierter Sozialethiker. Er ist als Gesamtschulleiter einer Fachschule und Lehrbeauftragter für philosophisch-theologische Grundlagen der Sozialen Arbeit tätig.
Bild: Wilhelmine Wulff / pixelio.de