Der Wiener Kirchen- und Religionsrechtler Andreas Kowatsch zeigt Hintergründe und Zukunftsperspektiven des österreichischen Religionsrechts auf.
Sozio-kulturelle Großtrends, die sich bei aller Widersprüchlichkeiten, die mit diesen Begriffen verbunden sind, mit Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung andeuten lassen, haben auch vor der „Insel der Seligen“, wie Paul VI. 1971 dem österreichischen Bundespräsidenten gegenüber das neutrale Land beschrieben haben soll, nicht Halt gemacht. Hatten sich 1951 noch 89,9%[1] der Österreicher:innen zur Römisch-Katholischen Kirche bekannt, waren dies 70 Jahre später nur noch 55,2 %. Vor den Angehörigen der orientalischen Kirchen (2021: 4,9 %) waren 2021 die Muslim:innen mit geschätzten 8,3 % die zweitgrößte religiös zuordenbare Gruppe innerhalb der österreichischen Bevölkerung. Laizistischen Unkenrufe zum Trotz[2] gehören somit mehr als Dreiviertel der Bevölkerung zumindest formal einer organisierten Religionsgemeinschaft an, eine Mehrheit, die in demokratischen Logiken erdrückend ist. Die bisherige Mehrheitskirche freilich wird wohl weiter an gesellschaftlicher und somit auch politischer Relevanz einbüßen.
Besonderheiten des österreichischen Religionsrechts
Vor diesem soziologischen Hintergrund stellt sich unweigerlich die Frage, ob die überkommene rechtliche Ordnung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften auf die zu erwartenden gesellschaftlichen Herausforderungen passende Antworten wird geben können. Um diese Frage zu beantworten, müssen einige Hinweise auf die Besonderheiten des österreichischen Religionsrechts stichwortartig angesprochen werden.
Das Religionsrecht ist mehr als andere Rechtsgebiete von seiner geschichtlichen Pfadabhängigkeit gekennzeichnet. In ihm sind wesentliche Etappen der Staatswerdung und Verfassungsgeschichte eines Gemeinwesens gespeichert. Anders als in Deutschland ist die österreichische Rechtsgeschichte von der vorherrschenden Stellung einer einzigen Kirche geprägt. Andere Konfessionen und Religionen mussten sich teilweise unter schwerem Leid die Toleranz des Staates erkämpfen. Paradoxerweise ist dann aber im demokratischen Verfassungsstaat aus der hegemonialen Rolle der Katholischen Kirche eine religionsrechtliche Ordnung erwachsen, die religiöse Minderheiten besonders berücksichtigt. Durch den religionsrechtlichen Paritätsgrundsatz kommt der rechtliche Besitzstand der Katholischen Kirche, abgesichert im Konkordat 1933/34, auch den anderen Religionsgesellschaften zugute.
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist in die Verfassung Österreichs aufgenommen
Eine Besonderheit ist, dass Österreich die Europäische Menschenrechtskonvention in die Verfassung aufgenommen hat. Die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) ist mehrdimensional konstruiert und umfasst das Recht, innerhalb legitimer Grenzen das Leben auch in der Öffentlichkeit nach den eigenen religiösen Überzeugungen zu gestalten. Sie umfasst ebenso auch das Recht, persönlich frei von Religion zu leben und dadurch keine rechtlichen Nachteile zu erleiden. Diese negative Religionsfreiheit richtet sich primär gegen den Staat. Mit ihr sind eine Reihe von leider allzu häufig unterkomplex verhandelten Fragen (wie etwa jene nach der Präsenz religiöser Symbole im öffentlichen Raum) verbunden.
Da „Religion“ in fast allen bekannten Fällten ein diskursives, auf Gemeinschaft angelegtes und zur politisch-ethischen Konsequenz motivierendes Phänomen ist und, soweit sie sich in den Zusammenhang mit bereits vorhandenen religiösen Großüberlieferungen stellt, wesentlich auf die Tradierung in und durch die einzelnen Gemeinschaften angewiesen ist, sind die Religionsgemeinschaften ebenfalls Träger – und nicht etwa Verpflichtete! – der Religionsfreiheit. Damit wiederum verbunden sind die gerade für die kritische Durchdringung kirchlichen Rechts großen Fragen nach dem Verhältnis zwischen der Freiheit der/des Einzelnen und der Freiheit der Gemeinschaft, der er/sie angehört.
Anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften ordnen innere Angelegenheiten autonom
Die österreichische Verfassung enthält über diese korporative Religionsfreiheit hinaus – ähnlich den in das deutsche Grundgesetz inkorporierten „Kirchenartikeln“ der Weimarer Reichsverfassung – eine eigenständige Normierung religionsgemeinschaftlicher Autonomie. Gem. Art. 15 StGG (Staatsgrundgesetz) ordnen und verwalten die „anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften“ ihre inneren Angelegenheiten ohne staatliche Ingerenz. Diese Autonomie ist Frucht der Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts und lässt sich mit dem liberalen, in Österreich vollständig erst nach dem Zweiten Weltkrieg rezipierten Diktum von der „freien Kirche in einem freien Staat“ in Verbindung bringen. Über den Kernbereich menschenrechtlich fundierter religiöser Autonomie hinaus ist den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften (KuR – im Unterschied zum Gattungsbegriff der Religionsgemeinschaften) eine ganze Reihe von Rechten eingeräumt, unter denen die Besorgung des Religionsunterrichts in den meisten öffentlichen Schularten herausragt. KuR sind öffentlich-rechtlich verfasst. Mit dem Körperschaftsstatus reicht der Staat, bildlich gesprochen, die Hand zur Kooperation, mit der auch bestimmte kultur- und sozialstaatliche Erwartungen verbunden sind. KuR sind nicht in die Staatsorganisation eingebunden, nehmen aber „Aufgaben öffentlichen Interesses wahr. Damit sind neben religiösen auch soziale, gesellschaftliche und kulturpolitische Aufgaben gemeint, die dem Gemeinwohl dienen.“[3]
Nicht ohne mehr oder weniger sanften Druck durch die Rechtsprechung des EGMR wurde das österreichische System der Anerkennung von Religionsgemeinschaften nach und nach liberalisiert, sodass heute zumindest drei unterschiedliche Rechtsformen bestehen, welche das staatliche Recht für religiöse Vereinigungen vorsieht. Neben die wichtigste, weil mit den meisten Rechten, aber auch Pflichten verbundene Gruppe der KuR traten Ende des 20. Jahrhunderts die „staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften“. Seit der Reform des Vereinsrechts im Jahr 2002 können sich Religionsgemeinschaften endgültig auch als ziviler Verein organisieren. Von den religiösen Vereinen unterscheiden sich Bekenntnisgemeinschaften dadurch, dass sie vom Staat als „Religion“ wahrgenommen werden und von religionsrechtlichen Vorteilen profitieren, soweit diese nicht ausdrücklich den KuR vorbehalten sind.[4]
Ist die staatliche Anerkennung ein taugliches und legitimes Mittel staatlicher Grundrechtsgewährung und Religionspolitik?
Die Kernfrage der Zukunftsfähigkeit des österreichischen Religionsrechts ist, ob die staatliche Anerkennung ein taugliches und legitimes Mittel staatlicher Grundrechtsgewährung und Religionspolitik sein kann. Von den bislang 16 anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften[5] sind einige aufgrund des noch aus dem Jahr 1874 stammenden Anerkennungsgesetzes anerkannt, andere durch speziell auf die einzelne Gemeinschaft zugeschnittene Gesetze. Es bestehen Spezialgesetze für die Israelitische Religionsgesellschaft, die Evangelische Kirche, die Orthodoxen Kirchen, die Altorientalischen Kirchen und für „Islamische Religionsgesellschaften“. Die Katholische Kirche wurde formal nie anerkannt, da sie dem Gesetzgeber als vorgefunden gegolten hat. Durch das Konkordat 1933 wurde ihre rechtliche Existenz im Staat bestätigt und völkerrechtlich verfestigt.
Die Anerkennung in Spezialgesetzen ist zu einem guten Teil damit zu erklären, dass das Anerkennungsgesetz 1874 nach der Überwindung der Staatskirchenhoheit und der Anerkennung umfassender Religionsfreiheit in weiten Teilen verfassungsrechtliche Probleme aufwirft. Die letztlich politische Entscheidung, nicht ein neues Anerkennungsgesetz für alle Religionsgemeinschaften zu erlassen, sondern weiterhin den Weg einer Sondergesetzgebung zu gehen, stärkt den Vertrauensschutz der bisher anerkannten öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften als Kooperationspartner des Staates. Dies kann als Besitzstandswahrung interpretiert werden. Zugleich ist mit diesem Weg die Gefahr verbunden, die einzelnen Gemeinschaften nicht nach sachadäquaten Kriterien anzuerkennen, sondern die Anerkennung mit für das Religionsrecht sachfremden Fragen zu vermengen. Dass die Debatte um die Verquickung von sicherheitspolizeilichen Maßnahmen mit der Novellierung des Islamgesetzes im Jahr 2021 nicht abreißt, ist daher aus religionsrechtlicher Sicht nachzuvollziehen.
Eigenständige Normen – und das Damoklesschwert der Diskriminierung
Bei weitem nicht jede rechtliche Differenzierung verletzt das Gebot der Gleichbehandlung. Der Weg, durch eigenständige Normen die Rahmenbedingungen des Wirkens der Religionsgemeinschaften im Staat jeweils maßgeschneidert auf diese zu regeln, provoziert allerdings unvermeidbar die Gefahr unsachlicher Differenzierungen und steht damit immer unter dem Damoklesschwert der Diskriminierung (nicht der politisch zugeschriebenen oder emotional empfundenen, sondern der für die Rechtswissenschaft allein interessierenden rechtlichen).
Chance: Flexibilität, auf die Herausforderungen und Bedürfnisse unterschiedlicher Religionen und gesellschaftlicher Herausforderungen einzugehen.
Die Kehrseite der Medaille ist aber nach der Meinung des Verfassers gerade die Chance, dass in den alten Schläuchen des österreichischen Religionsrechts auch neuer Wein gut aufgehoben ist. Die Flexibilität, auf die Herausforderungen und Bedürfnisse unterschiedlicher Religionen und gesellschaftlicher Herausforderungen einzugehen, ist angesichts der zunehmenden Pluralisierung bei allen Gefahren die eigentliche Stärke des Systems. Das beste Beispiel dafür ist, dass es kaum einem anderen europäischen Land bislang so gut gelungen ist, Muslim:innen einen rechtlich anerkannten Platz im staatlichen Recht einzuräumen. Das Islamgesetz in seiner 2015 reformierten Fassung ermöglicht auch die Anerkennung mehr als einer nach eigenem Selbstverständnis islamischen Religionsgesellschaft. Teile dieses Gesetz werden teilweise heftig kritisiert, auch durch die traditionell und nach eigenem Verständnis den Islam schlechthin repräsentierende Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich IGGÖ. Vieles an der Kritik ist berechtigt. Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das österreichische Recht auf diese Weise bereits seit dem Jahr 1912 etwas schafft, was unter anderem in der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht gelungen ist.
Um den Weg des österreichischen Religionsrechts in die Zukunft weiter zu gehen, wird sich der Gesetzgeber früher oder später die Frage stellen, was der Staat als Gegenleistung für die mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verbundenen Rechte von seinen Kooperationspartnern einfordern darf, freilich von allen. Die öffentliche Rechtspersönlichkeit ist dann kein Fossil aus überwundenen Zeiten, wenn sie als grundrechtlich fundiertes Angebot verstanden wird, dass man nützen kann, aber nicht muss. Das setzte freilich ein geschärftes Verständnis des Kooperationsverhältnisses voraus. Dieser Diskurs steckt bis heute noch in den Kinderschuhen.
Notwendigkeit der Plausibilisierung gegenüber den formal Religionslosen
Die Religionsgemeinschaften umfassen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Dennoch wird die Akzeptanz wichtiger religionsrechtlicher Positionen auch von der Plausibilisierung gegenüber den formal Religionslosen abhängen. Nur ein ganz kleiner Anteil unter ihnen versteht sich als weltanschaulich nichtreligiös im engen Sinn. Freidenker, Humanisten, Atheisten – sie haben gemein, dass sie nach dem Verständnis des österreichischen Rechts keine Religionen sind. Da auch sie sich mit vollem Recht auf das Grundrecht auf Religionsfreiheit im Sinn des auch nichtreligiöse Weltanschauungen schützenden Menschenrechts berufen können, sollte das staatliche Angebot auch ihnen gelten. Ob sie es annehmen und tatsächlich die damit verbundenen rechtlichen Erwartungen an Organisation und finanzielle Kraft erfüllen können, ist weder Sache des Staates noch der Mitbewerber:innen am Markt der Religionen und Weltanschauungen.
[1] Die statistischen Angaben stammen von: Statistik Austria, https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bevoelkerung/weiterfuehrende-bevoelkerungsstatistiken/religionsbekenntnis [abgefragt am 16.02.2022].
[2] Zwar sind seit dem „Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien“, mit dem eine selbst in Frankreich längst überwundene laizistische Ausgrenzung der Religion aus dem Bereich der Öffentlichkeit erreicht werden sollte, nunmehr zehn Jahre vergangen. Die damals mobilisierten 0,89% der Wahlbevölkerung – ein negativer Spitzenplatz unter allen Volksbegehren der österreichischen Geschichte – haben jedoch die tatsächliche Kraft des politischen Laizismus veranschaulicht.
[3] So auf der offiziellen Homepage der Republik Österreich, https://www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/kirchenein___austritt_und_religionen/3/Seite.820015.html
[4] Unterschiedliche Stufen rechtlicher Anerkennung von Religionen sind nach der Rechtsprechung des EGMR solange menschenrechtskonform, als der Zugang zu den unterschiedlichen Rechtsformen allen offensteht. Zu hoch angesetzte Kriterien der Anerkennung können aber prohibitiv wirken und haben auch bereits zu einer durch den VfGH geforderten Entschärfung der eigenartigerweise nicht im Anerkennungs-, sondern im BekenntnisgemeinschaftenG normierten Kriterien geführt
[5] In Wirklichkeit sind es um einige mehr, da im Bereich der anerkannten Kirchen einige Religionsgesellschaften mehrere Kirchen umfassen bzw. ein Dachverband gemeinschaftlich anerekannt ist.
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Andreas Kowatsch ist Professor für Kirchenrecht und Religionsrecht und Vorstand des gleichlautenden Instituts der Universität Wien. Er initiierte den Blog „rechtundreligion.at“.
Beitragsbild: Daniel Tibi, Titelbild des Blogs „Recht und Religion“
Autorenbild: Joseph Krpelan