Der Staat als musikalischer Akteur? Was zeigt sich, wenn man danach fragt, und was lässt sich für die Theologie daraus lernen? Ein musikwissenschaflticher Beitrag[1] mit theologischem Seitenblick von Ruth Müller-Lindenberg.
1. Staat und Musik: die bewusste und die unbewusste Seite
Dass „der Staat“, ein abstraktes Gebilde, nur dann wahrnehmbar wird, wenn er sich zeigt/performiert, das wurde bereits in den 1970er Jahren diskutiert, Jahrzehnte vor dem performative turn. Inwieweit diese Überlegung auch für „die Kirche“ gelten kann, müssen Theolog*innen entscheiden. Ich möchte die Performance des Staates nicht nur, aber auch im Hinblick auf Musik genauer darstellen und dazu anregen, theoretische Konzepte daraufhin zu befragen, ob sie auch für religiöse bzw. kirchliche „Aufführungen“ ertragreich sein können.
Bei der Untersuchung von Staatsperformances ist zunächst eine frappierende Beobachtung zu machen: Der Staat als musikalischer Akteur hat zwei Seiten, gewissermaßen eine bewusste und eine unbewusste: Gezielt und theoretisch abgesichert wird vom Auswärtigen Amt Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) betrieben. Das heißt, dass sich der deutsche Staat international gegenüber anderen Staaten auf dem Feld der Kulturdiplomatie präsentiert, etwa indem er deutschen Musiker*innen die Gelegenheit zu Auftritten in den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland gibt.
Ursprünglich (und so noch in älteren Publikationen zum Thema zu lesen) sollte mit dem beschriebenen und anderen, ähnlichen Formaten das Ziel verfolgt werden, den deutschen Staat symbolisch zu repräsentieren. Mittlerweile unterstützt die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes deutsche Kultur im Ausland vorrangig mit der Intention, kulturelle Austauschprozesse mit anderen Staaten anzuregen. Darüber hinaus ist die AKBP natürlich eine „soft power“ der Bundesrepublik Deutschland und wird auch in diesem Sinne eingesetzt.[2] Im Bezug auf Musik wurde deren „konstruktive(s) Potenzial (…) in den internationalen Beziehungen“[3] in der jüngeren Vergangenheit verstärkt in den Blick genommen.[4] Hier kann man den Staat als einen musikalischen Veranstalter, einen ‚Performer‘ verstehen, der klar umrissene außenpolitische Zwecke verfolgt.
Was ich die unbewusste Seite nenne, lässt sich so beschreiben: Der Staat umgibt sich bei einer Vielzahl von Veranstaltungen mit Musik, ohne explizit weitere politische Ziele damit zu verbinden. Auf der Bundesebene sind dies etwa eingehende und ausgehende Staatsbesuche, Staatsakte wie der Tag der Deutschen Einheit und der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Auch Veranstaltungen in kleinerem Format gehören dazu: Ehrenessen und Ähnliches in den beiden Amtssitzen des Bundespräsidenten kommen ohne Musik nicht aus.
Man kann also sagen, dass der Staat ein musikalisches Repertoire hat, das sich in unterschiedlichen Performances zeigt. Während die auf Musik bezogene AKBP klare staatspolitische Ziele verfolgt und dies in ministeriellen Strukturen auf der Fachebene erfolgt, liegt die zweite von mir beschriebene Art musikalischer Aufführungen, so häufig und aufwändig sie sein mögen, in der Verantwortung der Protokollabteilungen; also dort, wo Fachkompetenz im Bezug auf die spezifisch ästhetischen Bestandteile der Aufführungen nicht angesiedelt ist. Wenn wir als Felder staatlicher Praxis im beschriebenen Sinne im Inland die kommunale, die Länder- und die Bundesebene annehmen, im Ausland die europäische und die globale, dann ergibt sich daraus eine schier unüberschaubare Zahl von Veranstaltungen, die man jeweils daraufhin untersuchen kann, ob sie mehr im ‚bewussten‘ oder im ‚unbewussten‘ Handeln begründet sind.
Um es nochmals zu präzisieren: Offensichtlich prägen sich zwei kaum kongruente Konzepte von Musik aus. Einerseits ist Musik Gegenstand von Kulturpolitik. Verantwortlich sind die für Kulturförderung und -austausch zuständigen Kulturreferate der jeweiligen Regierungsinstitutionen. Hier werden politische Intentionen verfolgt und von Fachleuten verantwortet. Auf der anderen Seite wird Musik als Untermalung, als Garantie für einen festlichen Rahmen eingesetzt (üblicherweise in der Verantwortung der Protokollreferate). In dieser Perspektive ließe sich auch für religiöse/kirchliche Feiern die Frage aufwerfen, ob in ihnen unterschiedliche Verwendungsweisen von Musik zu beobachten sind und ob und wie man sich ihnen theoretisch nähern kann. Die Musikpraxis der staatlichen Kulturabteilungen scheint sich von derjenigen des Protokolls darin zu unterscheiden, dass letzteres ohne explizit politischen Auftrag agiert. Ich reklamiere jedoch auch für diese Praxis eine im weitesten Sinne politische Wirkung und Bedeutung. Eine theoretische Begründung dafür sehe ich in der Performativität.
Ehe ich dies ausführe, möchte ich die musikalische Performance des Staates zunächst genauer beschreiben. Dann möchte ich die Theoriebildung zu diesem Format einige Jahrzehnte zurückverfolgen um anschließend deutlich zu machen, in welcher Weise eine kulturwissenschaftlich akzentuierte Theorie zum Verständnis der Performances beitragen kann. Man muss nicht so weit gehen wie Umberto Eco mit seinem Postulat: „Von einer Theorie erwarten wir, dass sie uns einen alten Gegenstand in neuem Licht zeigt, damit wir erkennen, dass dieser Gegenstand erst aus der neuen Perspektive wirklich verstanden werden kann“.[5] Ob die Performances des Staates „erst wirklich“ verstanden werden können, wenn man ihren Aufführungscharakter untersucht, mag dahingestellt sein.
Ich möchte jedoch die These verfolgen, dass staatliche Veranstaltungen, als Ereignisse betrachtet mit allen Konsequenzen, die dieser Ansatz mit sich bringt, aus dem Schatten traditionellen Repräsentierens heraustreten. Mit guter Begründung in der Performativitätstheorie kann ihnen dann ein nicht unwesentlicher Anteil daran zugeschrieben werden, wie sich der Staat, verstanden als dynamisches Produkt aus abstrakten Bestandteilen und ästhetischen (der Wahrnehmung zugänglichen) Selbstdarstellungen, stetig verändert.
Was kann daran für feinschwarz-Leser*innen interessant sein? Zunächst wäre zu überlegen, ob Staat und Kirche darin etwas Gemeinsames haben, dass sie stets auf das sich Zeigen, das Performieren verwiesen sind. Ferner ist evident (und von der Forschung mehrfach dargelegt worden), dass protokollarisch herausgehobene staatliche Veranstaltungen sich häufig sakraler Elemente bedient haben und bedienen. Drittens lassen sich sowohl Staatsakte u.ä. als auch religiöse/liturgische Feiern ebenso als Aufführungen wie als Ereignisse verstehen, mit möglicherweise weit reichenden Auswirkungen auf deren Interpretation. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt nicht zuletzt in der Verwendung von Musik.
2. Die musikalische Performance des Staates
Niemand wird bestreiten, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt die deutsche Nationalhymne zu singen, zu spielen, vorzutragen, kurz gesagt: aufzuführen. Die Nationalhymne – das ist zum Einen ein Staatssymbol, zwar nicht in der Verfassung festgeschrieben, aber in ähnlichem Rang wie die Flagge; zum Andern ist es eine Melodie, verbunden mit einem Text, schriftlich fixiert im Notensystem. Damit sie aber gegenwärtig ist, muss sie erklingen. Diese klangliche Gestalt ist anders als die textuelle nicht klar umrissen: Sie kann im Rahmen einer vom Staat organisierten Feierstunde von einem Streichquartett junger Musiker*innen, vom vielstimmig besetzten Chor eines großen, staatlich geförderten Opernhauses oder von einer – warum nicht? – Rap-Band aus einer ‚Brennpunkt-Schule‘ ausgeführt werden. Es sind diese Umstände der konkreten Realisierung, die der Situation ihre besondere Bedeutung verleihen. Denn die Hymne ist damit untrennbar verstrickt und eingewoben in aktuelles Geschehen.
Ein drastisches Beispiel kann das verdeutlichen. Im März 2022 stellen sich Mitglieder des Kyiv Classic Orchestra unter Lebensgefahr mit ihren Instrumenten auf den Maidan-Platz und intonieren die ukrainische Nationalhymne. In einer Videoaufnahme der Szene weist der Moderator darauf hin, dass das Orchester in reduzierter Besetzung auftrete, da zahlreiche Mitglieder die Ukraine seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf ihr Land verlassen hätten. Die besondere Aufführungssituation zeigt eine unerwartete Seite der Hymne. Sie erklingt in der existenziell bedrohlichen Situation als ein Statement des Widerstandes, gerichtet an den Aggressor: „Es ist uns egal, ob ihr Bomben auf uns werft, wir stehen trotzdem hier und spielen unsere Hymne“. Zum andern schreibt sich der Krieg unmittelbar in die Klanggestalt der Hymne ein: Etliche Pulte im Orchester bleiben unbesetzt.
Ohne den Kontext zu kennen, könnte man die Szene kaum erklären. Das wirft die Frage auf, wie sich der Zusammenhang zwischen dem Szenario und dem musikalischen Symbol beschreiben lässt, wenn es um das Geschehen selbst geht. Dieses ‚Geschehen selbst‘ soll als die musikalische Performance des Staates untersucht werden. Zwar fungiert im beschriebenen Ereignis nicht der Staat selbst als musikalischer Akteur; jedoch tritt mit der Nationalhymne eines seiner Symbole auf und eröffnet unweigerlich bei allen, die es kennen, mindestens auf den Staat bezogene Bedeutungshorizonte, wenn es nicht sogar Gefühlsregungen erweckt.
Dabei ist hervorzuheben und für das Weitere grundlegend, dass der Begriff von „Performance“ die gängige Vorstellung, es handle sich um eine Aufführung, zwar einschließt, jedoch auch darüber hinausweist. Als Performances sollen im Weiteren zunächst staatliche Veranstaltungen mit Musik verstanden werden. Demnach sind Performances Ereignisse, in denen der Staat sich in einer besonderen ästhetischen Gestalt zeigt. Das geschieht in jeder Performance neu und unwiederholbar anders. Gleichzeitig hat die Musik neben ihrer symbolisch-semantischen eine performative, eine Aufführungsdimension. Es handelt sich also um in einander verschachtelte Performances: die staatliche Feier und die Aufführung von Musik. Diese Ereignisse, denen Theorien des Performativen ein Potenzial zur Wirklichkeitsveränderung zuschreiben, bilden das Zentrum meiner Überlegungen.
„Nichts nützt dem Staat so sehr wie die Musik“[6], heißt es in Molières Komödie Der Bürger als Edelmann (1617). Der Nutzen der Musik für den Staat wird auf politischer Ebene in vielfacher Hinsicht anerkannt. Diesem ‚bewussten“ Nützlichkeitsdenken sind jedoch zwei wichtige Facetten hinzufügen: der Aufführungscharakter von Musik zum Einen, zum Andern staatlich initiierte Ereignisse, in denen die Musik eine lediglich begleitende Rolle zu spielen scheint, auf die sie jedoch, wie zu zeigen sein wird, niemals zu reduzieren ist.
3. Von „Selbstdarstellung“ über „Inszenierung“ des Staates zum Entwurf einer politischen Ästhetik
Gingen Staatswissenschaftler noch 1976 davon aus, dass staatliche Selbstdarstellung bewusst eingesetzt und „Aufmerksamkeit und Sympathie“ für den Staat sichern, außerdem der „Systemstabilisierung“ dienen solle, [7] so wurde die Theoriebildung ab der Jahrtausendwende stark vom in der Theaterwissenschaft entworfenen Paradigma der Theatralität beeinflusst, das, als „übergreifende Tätigkeit“ verstanden, „die Grenzen zwischen Kunst, Politik, Alltag, Freizeit und anderen Praxisfeldern“ verschwimmen lasse.[8] Vor allem der Begriff der Inszenierung, definiert als „Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien (…), nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll …] “,[9] gewann an Bedeutung. Zunächst hielten zahlreiche Autor*innen an der Idee fest, dass sich in Inszenierungen Intentionen realisieren und Geschehnisse ebenso wie Wahrnehmungen steuern ließen.[10] Jedoch wurde gleichzeitig der Auffassung widersprochen, Politik (als etwas a priori Gegebenes) könne Gegenstand einer Art Einkleidung (etwas Sekundäres) sein. [11]
Ein gewichtiger Einwand aus kulturwissenschaftlicher Perspektive lautete: Das Politische lasse sich als Raum verstehen, „der sich durch Kommunikation konstituiert“.[12] Diese Kommunikation sei geprägt durch historisch variable Semantiken und Praktiken und habe ihren Ort nicht zuletzt in außersprachlichen Medien: in Bildern, Symbolen, Denkmälern; ich füge hinzu: auch in der Musik. Noch weiter gehend wurde postuliert, dass die Politik in der Demokratie „selbstverständlich“ auf sinnliche Ausdrucksformen angewiesen sei.[13] Das Ästhetische sei vom Politischen nicht zu trennen. Es bringe politische Realität nachgerade hervor, mit der Besonderheit, dass seine Wirkmechanismen dem rationalen Diskurs entzogen seien.
4. Die Theorie der Performance
Nach einer Handbuch-Definition ist Performance als theoretische Kategorie bedeutungsgleich mit dem Aufführungsbegriff, bezieht sich aber auch auf „kulturelle Praktiken, die sich durch einen Handlungs- und Aufführungscharakter auszeichnen und das Selbstverständnis einer bestimmten Gruppe von Menschen darstellen, reflektieren oder in Frage stellen […]“[14]
Bei unserem Gegenstand kann es also nicht allein um die Decodierung von musikalischen Symbolen gehen – etwa als Antwort auf die Fragen „Was ‚bedeutet‘ Beethovens neunte Symphonie beim Benefizkonzert des Bundespräsidenten? Wofür gibt sie ein Symbol ab?“ -, sondern es geht auch darum die Praxis zu beschreiben, die sich in der Aufführung des Werkes zeigt. Diese Praxis lässt sich in eine Beziehung zum Anlass der Aufführung setzen. Dabei möchte ich beim Begriff der „kulturellen Praktiken“ stets auch institutionelle Aspekte, Ressourcen, handelnde Personen, deren Entscheidungen und Intentionen mitdenken.
Zentral ist die Konzeption der Performance als Ereignis. Ich verstehe die musikalische Performance des Staates nicht als Inszenierung, sondern möchte ihren Ereignischarakter akzentuieren: die ‚Aufführung‘. Dabei stütze ich mich vor allem auf Dieter Merschs Überlegungen zu einer Ästhetik des Performativen:[15] Ein Ereignis sei zwar gemacht, aber weder mach- noch planbar. Zwischen dem, was vorab konzipiert werde und dem, was tatsächlich geschehe, bestehe eine strukturelle Differenz. [16] Denn das Ereignis sei unverfügbar, weil unvorhersehbar in seinem Verlauf und deshalb der Intentionalität entzogen.[17] Außerdem sei es angewiesen auf Präsenz, also auf Materialität und Körperlichkeit. Eben die Bindung an Materialität und Körperlichkeit durchkreuze aber symbolische Strategien im Sinne einer Verkettung von Bedeutungsträgern (Zeichen). Mersch verweist auf die „Doppelstruktur von Lesbarkeit und Erscheinung“, die den Zeichen eigen sei:[18] Die Wahrnehmung des Ereignisses – die wichtigste Kategorie für eine Ästhetik des Performativen – fällt nicht zusammen mit dem Entschlüsseln der Zeichen. Auch Ereignisse, die in einem im weitesten Sinne religiösen Kontext stattfinden, lassen sich mit dieser Theorie untersuchen.
Das Beispiel eines Staatsaktes kann die spezifischen performativen Qualtäten verdeutlichen: Die Protokollabteilung, etwa die des Bundespräsidialamtes, erstellt für eine Feierlichkeit einen Ablaufplan, in welchem musikalische Teile für Würde und Festlichkeit sorgen sollen. (Das wäre die intentionale, die auktoriale Ebene). Werke und Komponisten werden entsprechend dieser Zielsetzung ausgewählt; obligatorisch ist außerdem der Vortrag der Nationalhymne.
So weit kann man von einer Ausführungsvorschrift sprechen, in der den musikalischen Anteilen symbolische Funktionen zugewiesen werden: Die Musik soll kraft ästhetischer Dignität die Würde des Staates symbolisieren. Wenn das gelingt, dann werden am Ende diejenigen, die dem Ereignis beigewohnt haben, das Gefühl haben, dass etwas dargeboten wurde, was im Einklang mit einer abstrakten Idee vom Staat steht. In der ästhetischen Wahrnehmung finden die Anwesenden einen Zugang zum Staat.
Nun kommt allerdings mit der Materialität das Präsentische ins Spiel. Zwar lassen sich musikalische Werke, vor allem wenn sie der ‚Hochkultur‘ und dem Kanon angehören, in ihrer Zeichenhaftigkeit leicht entschlüsseln, etwa in der Weise: Wenn der Staat etwas zu feiern hat, umgibt er sich ästhetisch nur mit dem Besten. Jedoch erschöpft die Aufführung sich nicht im Symbolischen. Sie wirkt auf die Sinne, sie ist angewiesen auf Körperlichkeit. Die Musik muss ja von Menschen aufgeführt werden. Ebenso ist sie angewiesen auf Gesangsstimmen und Instrumente, also auf eine materielle Komponente.
Hier wird klar, wie die symbolische Ebene – erfahrbar in Würde und Feierlichkeit – von den Zufälligkeiten durchkreuzt werden kann, die im Material (und nur dort) liegen: Ein Soloeinsatz misslingt; eine Saite reißt – schon schiebt sich unweigerlich das Material in den Vordergrund der Wahrnehmung. Es entfaltet seine eigene Logik: seinen Eigen-Sinn. Man könnte sagen, dass sich das Symbolische mühsam gegenüber dem Präsentischen behaupten muss, weil es an die Voraussetzung von dessen ungetrübtem Gelingen, also an Perfektion gebunden ist. Die Aussage der Zeichen – Würde und Feierlichkeit – kann durch die spezifischen und einmaligen Bedingungen der Aufführung dementiert, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. Kein Ereignis, das Würde haben soll, ist dagegen gefeit.
Man muss nicht den schlimmsten Fall – die Havarie des Materials – annehmen um die Bedeutung des Performativen (als des Präsentischen) zu erklären. Bei der Gegenübersetzung von Symbol/Zeichen und Ereignis kommt es darauf an, dass sich im Ereignis ein Überschuss zeigt, der nicht von der Deutung der Zeichen aufgefangen werden kann, weil er über sie hinausweist. In der beschriebenen misslungenen Performance löst sich der intendierte Konnex zwischen der abstrakten Idee des Staates und den diese begleitenden musikalischen Symbolen auf: Er wird vom Material gesprengt. Dem Staat könnte jetzt sogar Unzuverlässigkeit, Inkompetenz, Unfähigkeit zugeschrieben werden („können die nicht mal stabile Saiten aufziehen?“), denn das Materielle würde wiederum zum Gegenstand des Deutens.
Eine performative Ästhetik des Staates lässt sich also durch folgende Merkmale beschreiben: Sie konzentriert sich auf die Wahrnehmung von Symbolen in Performances. Sie geht davon aus, dass diese Performances wirklichkeitsverändernd wirken und das abstrakte Bild des Staates zu immer neuen, einmaligen Erscheinungen bringen. Sie setzt das Präsentische gleichberechtigt neben das Zeichenhaft-Symbolische, das nicht als privilegiert gegenüber der Inszenierung verstanden werden soll. Dazu gehört auch die Gewichtung von Präsenzeffekten wie Gerührtsein, Überwältigtwerden. Sie rechnet gleichwohl mit dem ganzen Reichtum an vorhandenen und weiteren möglichen Bedeutungszuschreibungen.
5. Aspekte religiöser/kirchlicher/liturgischer Musikpraxis
Von den Gemeinsamkeiten zwischen weltlichen und kirchlichen (oder, im engeren Sinne, liturgischen) Feiern ausgehend, könnte man versuchen, auch eine performative Ästhetik für die letzteren zu formulieren. Ich möchte auf die Verwendung von Musik eingehen und verweise wiederum auf die Nationalhymne. Als klingendes Staatssymbol ist sie unverzichtbarer Bestandteil von Staatsakten. Hier sind wir auf der Ebene der Zeichen. Da die Hymne, um präsent zu sein, jedoch der Aufführung bedarf, entsteht gemäß der oben erläuterten Performativitätstheorie ein unverfügbarer Überschuss, je nachdem, in welcher klanglichen Realisierung sie auftritt. Ich versuche diesen Gedanken auf zwei Erscheinungsweisen von Musik in einem Gottesdienst zu übertragen: auf den Gemeindegesang und auf instrumentale, gleichsam ‚begleitende‘ Musik, etwa beim Einzug und Auszug des Priesters, nach der Predigt oder nach der Kommunion bzw. dem Abendmahl.
Es geht mir hier nicht um eine historisch und konfessionell differenzierte Übersicht über Begründungen für Musik im Gottesdienst; vielmehr möchte ich die Aufmerksamkeit auf den performativen Aspekt des Gemeindegesanges lenken. Ich habe dargelegt, dass Performances nie in einem deutungsfreien Raum stattfinden. Wenn wir akzeptieren, dass die Ereignisse, wie immer kontingent und opak in ihrer Materialität sie erscheinen mögen, letztlich doch umgeben sind von den großen kulturellen Kontexten und deren symbolischen Ressourcen,[19] dann ergibt sich daraus, dass sie auch teilhaben an Aushandlungsprozessen über Sinn- und Bedeutungszuschreibungen. Für unser Thema würde das heißen: dass sie dazu beitragen ein religiöses (Selbst-)verständnis zu prägen, weil sie die Kirche / den Glauben / die Gemeinschaft der Gläubigen in ästhetischer Weise zur Erscheinung bringen, wahrnehmbar machen und dadurch Veränderung erwirken können.
In zwei sehr unterschiedlichen Performances würde etwa beim Gesang des Kirchenliedes „Großer Gott, wir loben dich“ eine kleine Gruppe von Gottesdienstbesuchern/innen ohne jede musikalische Begleitung und in einem Kirchenraum, der für diese Gruppe viel zu groß ist, einen ganz anderen Klangeindruck erzeugen und selbst erfahren, als dies in einer überfüllten Kirche der Fall wäre, in der dasselbe Kirchenlied unter vollstimmiger Orgel- und Instrumentalbegleitung und mit Unterstützung eines großen Kirchenchores erklänge. Die übergeordnete Funktion der musikalischen Performance ist das Gotteslob. Es ist evident, welche der beiden Varianten überzeugender wirkt, weil wir mit dieser Form des Gotteslobs Eigenschaften wie Größe, Pracht, Reichtum der Mittel verbinden.[20]
Für mein zweites Beispiel wähle ich Musik, die während und nach der Austeilung der Kommunion bzw. des Abendmahls erklingt, sei es als Improvisation, sei es in Gestalt von Kompositionen für die Orgel oder ein anderes Instrument bzw. Instrumentalensemble. Diese Musik hat einerseits im Ablauf des Gottesdienstes eine Überbrückungsfunktion – ähnlich der Zwischenaktmusik im Musiktheater, die so lange währt wie der Umbau des Bühnenbildes -, andererseits kann sie bezogen werden auf das, was die Gläubigen beim Empfang der Kommunion empfinden. Abstrakt formuliert, verlangt die Situation nach Unterstützung oder Untermalung von Introspektion, Andacht, stillem Gebet. Folgt dem der Charakter der erklingenden Musik, so wäre, in der Perspektive eines je unwiederholbaren, unplanbaren Ereignisses, dem abstrakten Fundament der religiösen Praxis ein weiteres, wenn auch kleines konstitutives Element beigefügt. Es hätte affirmative, konsolidierende Wirkung für das übergeordnete Ganze.
Hingegen wäre eine lautstarke, rhythmisch akzentuierte musikalische Improvisation in schnellem Tempo der beschriebenen Situation weitaus weniger angemessen. Sie könnte stören, sie könnte die nach innen gerichteten sehr persönlichen Gedanken und Gefühle ablenken. Die Gemeinde würde vielleicht sogar aufschrecken. Gleichzeitig könnte eine solche Performance aber auch – warum nicht? – zustimmende Reaktionen hervorrufen, die dem Geschehen im Gottesdienst eine neue Perspektive gäben. Es wäre jedenfalls, so viel darf angenommen werden, für die Teilnehmenden unausweichlich, die Musik auf das Geschehen zu projizieren und mit der Frage zu verbinden, was dieses mit jener zu tun haben könnte. Die Antworten darauf wären nicht vorhersehbar. Sie wären einzig initiiert von der Wahrnehmung der musikalischen Performance (wobei ich mit „Improvisation“ bewusst eine nicht schriftlich fixierte und nicht wiederholbare, also selber ereignishafte Musik gewählt habe) und doch wären sie auf die „Gesamtperformance“, also auf das gottesdienstliche Geschehen ausgerichtet. Diese Antworten, so meine These, könnten dem Geschehen neue Erfahrungs- und Deutungsperspektiven eröffnen, könnten es mit jedem einzelnen ähnlichen Ereignis verändern.
Vielleicht liegt eben im Überschuss, den das Ereignis – und nur das Ereignis – bietet, die Quelle für Erkenntnisse kraft religiöser Praxis, die auf andere Weise nicht zu gewinnen sind. Musik kann im wörtlichen Sinne hier hineinspielen.
Ruth Müller-Lindenberg, Prof. Dr. phil., seit 2007 Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, zwischen 2003 und 2006 Referatsleiterin in der innenpolitischen Abteilung des Bundespräsidialamts.
Foto: privat
[1] Der folgende Text übernimmt Grundgedanken aus dem jüngst erschienenen Buch Ruth Müller-Lindenberg/ Yvonne Wasserloos (Hrsg.), „Nichts nützt dem Staat so sehr wie die Musik“. Die musikalische Performance des Staates, Göttingen 2024, dort: Ruth Müller-Lindenberg, „Einleitung“, 7-15, vor allem 7-9, und Dies., Die musikalische Performance des Staates oder: Warum stöhnt der Protokollchef?“, 43-71.
[2] Siehe dazu Arvid Enders, Indirekte Außenpolitik: Die Arbeit der Kulturreferate, in: Enrico Brandt/Christian Buck (Hrsg.), Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, 3. Aufl. Opladen 2003, 171-178: „Kultur- und Bildungsarbeit ist indirekte Außenpolitik“ (178); ferner Daniel Ostrowski, Die Public Diplomacy der deutschen Auslandsvertretungen weltweit. Theorie und Praxis der deutschen Auslandsöffentlichkeitsarbeit, Wiesbaden 2010. Kritisch zum Konzept der soft power: Sigrid Weigel, Transnationale auswärtige Kulturpolitik – jenseits der Nationalkultur. Voraussetzungen und Perspektiven der Verschränkung von Innen und Außen, Stuttgart 2019, 24.
[3] Umschlagtext von Ronald Grätz/Christian Höppner (Hrsg.), Musik öffnet Welten: zur Gestaltung internationaler Beziehungen, Göttingen 2019.
[4] Dazu auch Mario Dunkel/Sina Nitzsche (Hrsg.), Popular Music and Public Diplomacy. Transnational and Transdisciplinary Perspectives, Bielefeld 2019.
[5] Umberto Eco, Semiotik der Theateraufführung, in: Uwe Wirth, Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt/Main, 2002, 262-276, hier S. 264.
[6] Vgl. Molière, Le Bourgeois gentilhomme (1617), Erster Akt, 2. Szene: „Il n’y a rien qui soit si utile dans un État que la musique.“
[7] Helmut Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 44. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1977, 4-6.
[8] Matthias Warstat, Theatralität, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Ders.(Hrsg.), Metzler Lexikon Theaterheorie, (2. Aufl.) Stuttgart 2014, 382-388, 385.
[9] Erika Fischer-Lichte, Inszenierung, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie,152-160, 152.
[10] Z. B. Peter Siller/Gerhard Pitz (Hrsg.), Politik als Inszenierung. Zur Ästhetik des Politischen im Medienzeitalter, Baden-Baden 2000: Inszenierung sei ein Medium, in dem sich ein Gehalt überhaupt erst mitteilen könne (S.11); Andreas Arnsfeld, Medien – Politik – Gesellschaft, Marburg 2005, 33.
[11] Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler, Figurative Politik. Prolegomena zu einer Kultursoziologie politischen Handelns, in: Dies. (Hrsg.), Figurative Politik. Zur Performance der Macht in der modernen Gesellschaft, Wiesbaden 2002, 17-33, 22.
[12] Ute Frevert, Politische Kommunikation und ihre Medien, in: Dies./Wolfgang Braungart (Hrsg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, 7-19, 12.
[13] Hans Vorländer, Demokratie und Ästhetik. Zur Rehabilitierung eines problematischen Zusammenhangs, in: Ders. (Hrsg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003, 11-26, 11; ferner: „Gesellschaftliche und politische Wirklichkeit wird über symbolische und ästhetische Mechanismen nicht nur vermittelt, sondern auch erzeugt“ (15).
[14] Sandra Umathum, Performance, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, 248-251, 248f.
[15] Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main, 2002.
[16] Mersch, Ereignis und Aura. 234.
[17] Mersch, Ereignis und Aura. 235.
[18] Mersch, Ereignis und Aura. 39.
[19] Vgl. Gert Melville, Der historische Moment, das Repertoire und die Symbolik. Resümierende Überlegungen zu Beiträgen über performatives Handeln, in: Klaus Oschema/Cristina Andenna/Gert Melville/Jörg Peltzer (Hrsg.), Die Performanz der Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters, Ostfildern 2015, 217-234; 227 und passim.
[20] Die Beispiele haben aber noch eine zweite Seite, auf die ich nicht weiter eingehen, die jedoch erwähnen möchte: das gemeinsame Singen. Die empirische Forschung hat zeigen können, dass es einen gemeinschaftsfördernden Aspekt hat und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe fördern kann. In dieser Perspektive ist die eine Performance so gut wie die andere.