Asher D. Biemann führt auf der Spur der Ewigkeit durch das Denken jüdischer Philosophinnen und Philosophen im 19. und 20. Jahrhundert.
Friedrich Schelling beschrieb alle Zeit und alles Leben als „Sucht nach der Ewigkeit“. Doch bereits 1879 erklärte Rudolf Eucken: „[D]as Wort Ewigkeit gefällt freilich der Zeit schlecht, es erinnert sie an Mystik, das Mittelalter, Transzendenz, usw.“[1] Hermann Bahr stellte eben dies in seiner Kritik der Moderne von 1894 fest: „Es ist aber schon lang genug her, dass diese stolze Herrlichkeit ins Straucheln kam und der Größenwahn der ‚souveränen Vernunft‘ und das vermessene Vertrauen ins ‚Ewige‘, ins ‚Absolute‘ zersprangen.“[2] Jenseits des Atlantiks verkündete Arthur Lovejoy die endgültige Antiquiertheit der Ewigkeit. Denn Ewigkeit, so schrieb Lovejoy, sei bloß eine „orientalische Illusion“ und eine „jugendliche Unart der Metaphysik.“[3]
Antiquierte Ewigkeit
Unartig und unmodern also ist die Ewigkeit und mit ihr deren religiös konnotierte Korrelate – Unsterblichkeit und Wiedergeburt. Und dennoch waren es eben jene Begriffe, die besonders das jüdische Denken des zwanzigsten Jahrhunderts prägen sollten. Es gibt kaum einen Text aus jener Zeit, der nicht in der ein oder anderen Weise das Wort der Ewigkeit für die jüdische Philosophie, Religion, und sogar Geschichte beanspruchte. Jüdische Ewigkeit war einst modern. Aber sie war anders modern als das anti-jüdische Bild des „Ewigen Juden“, welches seit Jahrhunderten vor allem die europäische Literatur durchgeisterte und bald zu einem Topos des modernen Antisemitismus wurde.[4] Die Ewigkeit des „Ewigen Juden“ war Schicksal, „Strafe“ und Fluch. Die Ewigkeit des modernen Judentums verstand sich hingegen als Aufgabe.
Gewiss, auch der „Ewige Jude“, der zur ewigen Wanderung verurteilte „Ahasverus“, wurde nicht selten zu einem von jüdischer Literatur und Kunst aufgegriffenem Motiv. Bei Siegfried Kracauer wurde dessen von unendlicher Geschichte gegerbtes Antlitz sogar zum Inbegriff eines überzeitlichen Historismus. Doch hatten die moderne jüdische Internalisierung und Stilisierung des „Ewigen Juden“ eine ganz andere Bedeutung als die moderne jüdische Ethisierung der Ewigkeit. Denn „die Ewigkeit ist ein ethischer Begriff“, wie Hermann Cohen in seiner Ethik des reinen Willens (1904) erklärte. Sie ist abgelöst von jeder Zeit und von der ewigen Dauer, welche selbst dem Mythos angehört.[5]
starke und schwache Ewigkeiten
Worin bestand nun der ethische Anspruch der Ewigkeit? Genau darin, was Ewigkeit nicht ist. In ihrer Schwäche nämlich, in ihrer Negativität. Es gibt starke Ewigkeiten, deren vermeintlicher Besitz ermächtigt, und es gibt schwache Ewigkeiten, deren Unbesitzbarkeit uns mit Ohnmacht erfüllt. Das Judentum, welches natürlich immer im Plural gedacht werden muss, kennt beide.
Bei Jesaja begegnet uns der der Begriff des „ewigen Volkes“ (am olam). Im Ersten Buch Samuel erscheint Netzach Israel – der Ewige Israels, oder das ewige Israel, je nachdem welche Ewigkeit ein Übersetzer sich ersehnt. Am ha-netzach – Ewig siegreiches Volk, Volk des siegreich Ewigen – lautet der Titel eines populären Liedes im heutigen Israel, welches gerade nach dem 7. Oktober zu einer Art zweiter Nationalhymne wurde. Heute gibt es am-ha-netzach T-shirts, Armbänder, und Erkennungsmarken für das Militär. Dies sind die starken, stolzen Ewigkeiten, welche in Zeiten der Krise Mut machen und vereinen. Aber es sind nicht die Ewigkeiten, mit denen sich die jüdischen Philosophen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzten.
Hermann Cohens Verständnis der Ewigkeit als „ewige Aufgabe“ gab den Ton an für jene Denker und Denkerinnen. Ewigkeit, schrieb Cohen, „bedeutet so wenig an sich eine ewige Zeit, wie einen ewigen Ort, sondern allein die ewige Arbeit.“[6] Hans Jonas leitete daraus die ewige Verantwortung ab, unsere doppelte, nie einlösbare Verantwortung für die unmittelbarste und fernste Zukunft unserer Taten. Als tätige Menschen wirken und leben wir fort. Durch unsere Taten, ob wir es wollen oder nicht, sind wir unsterblich, oder wie Jonas schreibt: „[I]n diesem furchterregenden Auftreffen seiner Taten auf das göttliche Geschick, ihrer Wirkung auf den ganzen Zustand des ewigen Seins, besteht die menschliche Unsterblichkeit.“[7]
So ist es das moralische Nicht-Sterbenkönnen, oder vielmehr das Nicht-Sterbendürfen, das „Verweilenmüssen“ auf dieser Erde, von dem Margarete Susman einmal sprach, welches uns paradoxerweise nicht an das Jenseits, sondern an das Diesseits bindet.[8] Daher wird bei Cohen das hebräische Welt-Wort olam (anders als tevel, welches den Erdkreis bedeutet) selbst zu einem moralischen Begriff. Es bedeutet die Welt, wie sie sein soll, wie sie stets erneuert und umgeschaffen werden muss, die Welt also als Aufgabe, die immer schon die kommende Welt (olam ha-ba) in sich miteinschließt.
Das andere Gesicht der Ewigkeit: Die Wiedergeburt
Dem Umschaffen der Welt entsprach noch ein anderes Gesicht der Ewigkeit: Die Wiedergeburt. Auch diese ging durch eine ethische Läuterung, denn sie war bereits bei Maimonides durch den Begriff der Umkehr (teschuva) vom Mythos der leiblichen Wiederauferstehung befreit worden. Der Zusammenhang von Reue und Wiedergeburt war Max Schelers sowohl jüdisch als auch christlich gedachte Antwort auf das Problem der Ewigkeit.
Die Ewigkeit, so Scheler, gehörte zum „großen Prinzip der Solidarität aller Kinder Adams in Verantwortlichkeit“. Sie war es, die ein Bewusstsein zeugte der Mitverantwortlichkeit „für alles Geschehen des moralischen Kosmos“ und Wissen, dass die „gesamte moralische Welt von Vergangenheit und Zukunft, alle Sterne und Himmel, ganz radikal anders sein könnte, wenn ‚ich‘ nur ‚anders‘ wäre“.[9] Das Anderswerden des Selbst war für Scheler der eigentliche Sinn der Wiedergeburt, die aber ohne den „Ewigkeitssinn“, welcher „jeden Zeitpunkt unseres Lebens noch in unserer Macht behält“ und anerkennt, dass jeder Tatbestand „unfertig und gleichsam erlösbar“ ist, unmöglich bleibt. Daraus ergab sich für Leo Baeck der Imperativ einer Wiedergeburt, die nicht „bloßes Auffinden und Zurückholen des Alten“ war, sondern ein „Wiedererleben der Aufgabe“.[10] Womit wir zur Ewigkeit als Aufgabe zurückgekehrt sind.
Für das moderne jüdische Denken war die Ewigkeit nicht mehr gegeben, sondern aufgegeben. Franz Rosenzweig sprach einmal von einer „selbstgeschaffenen Ewigkeit“. Doch meinte er damit nicht das Schaffen einer Ewigkeit durch Nachruf und Ruhm. Vielmehr waren es das bewusste „Überspringen aus der Zeit ins Ewige“ und der „politisch unverwendbare Überschuss“ an Ewigkeit, die das jüdische Selbstverständnis ausmachten. Es waren gerade nicht der Besitz, sondern die Aufnahmebereitschaft für die Ewigkeit, welche die jüdische Geschichte und das jüdische Leben auszeichneten: Das Bereitstellen der Zeit für den „Besuch der Ewigkeit“.
Ewigkeit und Altarität
Doch eine für diesen Besuch bereitete Zeit, schreibt Rosenzweig, „ist nicht mehr die Zeit des Einzelnen, nicht meine, deine, seine geheime Zeit; sie ist die Zeit Aller.“[11] Also verbanden sich im modernen jüdischen Denken auch Ewigkeit und Alterität. Und dieses Gemeinsame der bereiteten Zeit, das uns zu Zeitgenossen machte, war auch im Gedanken der Umkehr und Wiedergeburt enthalten, oder wie Leo Baeck schrieb: „Der Mensch der Wiederkehr läßt andere Menschen zu sich kommen.“[12] Und ebenso verhielt es sich mit dem „Unzerstörbaren“, von dem Franz Kafka kurz nach dem ersten Weltkrieg sprach: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein Vertrauen zu etwas Unzerstörbaren in sich.“ Dieses Unzerstörbare aber ist eines. „Jeder einzelne Mensch ist es,“ schrieb Kafka, „und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiellose Verbindung der Menschen.“[13] In der Lehre vom Unzerstörbaren in uns erblickte Max Brod unmittelbar nach der Schoah eines der Heilmittel, „welche die Zeit nicht leichtsinnig verschleudern sollte.“[14]
Und dies gilt vielleicht auch für unsere Zeit. Denn zu rasch vielleicht ergeben wir uns der Vergänglichkeit aller Dinge und der Sterblichkeit alles Tuns. Eine solche Hingabe war für Max Brod und die Tradition des modernen jüdischen Denkens eine Kapitulation an die Gesetze der Natur. Die Natur, insofern ihr Ewigkeit gehört, ist bloß das Immerwährende, wie schon Franz Rosenzweig bemerkte. Das Immerwährende jedoch war für Rosenzweig eine gewissermaßen „schlechte“ Ewigkeit, sowie auch die Staaten und Nationen, die nur „sein“ wollen, sich an gewaltsame Dauerhaftigkeiten klammern. Die aufgegebene Ewigkeit indessen lehrt uns gerade den Verzicht, der das menschliche Leben ausmacht. Erst im Verzicht erhebt sich der Mensch über die Natur.
dem Leben bis ans Ende treu bleiben
Im Verzichten, im Langmut, im Zeitlassen lag für Max Brod der eigentliche Grund menschlicher Stärke und Freiheit. Und hier begegnet uns Ewigkeit als gemeinsame Zeit und gemeinsames Tun. An uns alle, die wir unsere flüchtige Zeit bereiten für den „Besuch der Ewigkeit“ ergeht der „Ruf einer erschütternden Stimme“, wie Margarete Susman einmal schrieb, nämlich „lebendig zu werden und wach“ und „nicht zu erstarren in irgendeiner vergänglichen Gestalt,“ der Ruf also, „dem Leben treu zu bleiben bis ans Ende“ und „uns immer neu einzusetzen und neu zu empfangen“.[15]
Asher Biemann ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt kontinentales, jüdisches Denken des 19. & 20. Jahrhunderts.
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[1] Rudolf Eucken, Die Grundbegriffe der Gegenwart historisch und kritisch entwickelt (Leipzig: Veit & Comp. 1893), 121
[2] Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne (Frankfurt/M.: Rütten & Loening, 1894), 4.
[3] Arthur Lovejoy, The Obsolescence of the Eternal,“ The Philosophical Review 18:5 (Sept. 1909), 501.
[4] Dazu: Mona Körte, Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik (Frankfurt/M. und New York: Campus Verlag, 2000).
[5] Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens (Berlin: Bruno Cassirer, 1904), 387.
[6] Cohen, Ethik, 388.
[7] Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit: Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963), 58.
[8] Margarete Susman, Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2018), 91.
[9] Max Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. V. Maria Scheler (Bern: Francke 1954), 51.
[10] Leo Baeck, Werke, Bd 1, hrsg. v. Albert Friedländer et al. (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997), 38.
[11] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (Gesammelte Schriften, Bd. 2), hrsg. v. Rainhold Mayer (The Hague: Nijhoff, 1976), 325.
[12] Baeck, Werke, Bd. 2, 161.
[13] Franz Kafka, Er (Frankfurt/M.: S. Fischer, 1968), 200.
[14] Max Brod, Das Unzerstörbare (Stuttgart et al.: Kohlhammer, 1968), 8.
[15] Margarete Susman, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Anke Gilleir und Barbara Hahn (Göttingen: Wallstein Verlag, 2022), 174.