Die Kolumne für die kommenden Tage 17
Einfach mal die Klappe halten … ein wichtiger Ratschlag, den ich gern beherzigen würde, wenn mir nicht dauernd Gedanken im Kopf herumschwirrten. Als Theologieprofessor bin ich es gewohnt, laut zu denken – man nennt das dann „Vorlesung“. Und wenn jetzt Vorlesung wäre, hätten wir die Lage längst diskutiert.
Doch nun ist nicht die Stunde der Theologie, sondern der Medizin. Seit die Corona-Pandemie auch bei uns alles erfasst hat, komme ich mir sehr unnütz vor – noch unnützer als vor der Krise schon. Da hatten wir die innerkirchliche Krise diskutiert, aber die ist jetzt nur noch lächerlich. So ändern sich schnell die Maßstäbe. Alle Welt erhofft sich nun von der Medizin die Rettung. Brächte jemand jetzt ein Gegenmittel oder einen Impfstoff auf den Markt – der Nobelpreis würde nicht ausreichen, man würde die Person zum Messias erklären.
Bitte mich nicht missverstehen: Es geht mir mitnichten darum, die Leistungen und Errungenschaften der modernen Medizin kleinzureden. Ich selbst bin schon zwei Mal durch die Medizin dem Tod von der Schippe gesprungen: am Beginn meines Studiums, wo ich mit perforiertem Blinddarm gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus kam, und 2017, wo mir ein chirurgisches Genie einen bösartigen Darmtumor herausgeschnitten hat. Nun setze ich alle meine Hoffnung auf die Arbeit unserer medizinischen Kolleginnen und Kollegen. Klar, das tun wir alle.
Gott sei Dank gibt es diese medizinischen Fortschritte. Wobei – Moment, Gott! Sind wir da nicht schon beim Problem oder bei der Frage, ob Gott die Lösung oder Teil des Problems ist? Bevor ich mich aber in die Höhen (oder Tiefen?) der theologisch-philosophischen Theodizee-Debatte aufschwinge oder gar einen vermessenen Versuch wage, Gott zu rechtfertigen, begebe ich mich in die Niederungen meiner eigenen Disziplin und stoße auf Genesis 2,7: „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden …“
Beim Spazierengehen komme ich an einem Feld vorbei, auf dem die Ackerschollen frisch aufgeworfen sind – die feuchte Erde trocknet in der milden März-Sonne, auf den Schollen bildet sich eine feine Staubschicht. Das ist das Material, das Gott für den Menschen verwendet. Wir hätten es eigentlich wissen müssen.
Bei allem, was sonst noch an Wunderbarem über den Menschen in der Bibel gesagt wird („nur wenig geringer gemacht als Gott, … gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit“, Psalm 8,6), erinnert Gen 2,7, Staub vom Erdboden, an die Grundbedingung der Sterblichkeit. Dass wir im Augenblick so heftig daran erinnert werden, könnte man Gott zum Vorwurf machen, ja, man könnte und müsste Gott grundsätzlich fragen, was er sich denn eigentlich dabei gedacht hat, den Menschen genau so zu konzipieren: ein lebendiges Wesen aus Staub vom Erdboden? Elifas von Teman, einer der drei Freunde Ijobs, weiß es genau, was die Menschen sind: „die in Lehmhäusern wohnen, die auf den Staub gegründet sind; leichter als eine Motte zerdrückt man sie“ (Ijob 4,19).
Elifas will damit Gott rechtfertigen, der weit über den Menschen aus Staub stehe und gegen den diese armseligen Geschöpfe nichts zu melden hätten. Aber Elifas’ Argument trägt nicht, denn einen solchen Gott, der die Menschen aus Staub wie Motten behandelt, brauchen wir nicht. Elifas und seine beiden Gefährten werden von Gott auch entsprechend zurechtgewiesen (Ijob 42,7) – und Ijob, der Gott dauernd in Frage gestellt hat, bekommt Recht.
Aber ist damit das Problem mit Gott gelöst? Höchstens teilweise. Warum das Ganze stattfinden muss (Ijobs Aussatz, die Corona-Pandemie und noch vieles mehr), das wissen wir immer noch nicht. Die Frage bleibt offen – und Vorsicht vor allen, die hier vorschnelle Antworten parat haben! Wir dürfen aber die Frage stellen, immer und immer wieder. Falls jemand dafür Formulierungsvorschläge braucht, wird er in den Psalmen fündig werden: „Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, die Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in den Staub des Todes“ (Psalm 22,16).
Wenn Gott Teil des Problems ist, ist er vielleicht auch Teil der Lösung – so argumentieren jedenfalls die Klagepsalmen und bedrängen Gott mit ihren Klagen und Bitten. Jetzt, Gott, ist nicht die Zeit des Lobpreises. Für die berufsmäßigen, nicht betroffenen Lobpreis-Singer gilt: einfach mal die Klappe halten.
Staub vom Erdboden – an Aschermittwoch wurden wir daran erinnert. Wir hätten es wissen müssen. Für jetzt bleiben: Bescheidenheit, Besonnenheit, Realitätssinn. Überfordern wir uns selbst nicht und die Kolleginnen und Kollegen aus der Medizin, die Großartiges leisten – aber erwarten wir von ihnen keine Wunder und vor allem nicht gleich morgen. Starren wir nicht auf Zahlen, stürzen wir uns nicht auf jede Meldung, die einen Hoffnungsschimmer verspricht. Ich sage das vor allem mir selber.
Staub vom Erdboden – fragen wir Gott, warum er das so gemacht und gewollt hat. Vielleicht können wir dann irgendwann wie Psalm 30,3 sagen: „Herr, mein Gott, ich habe zu dir geschrien und du heiltest mich“. Aber noch ist es nicht so weit.
Wenn ich die alttestamentlichen Texte, die ich so kenne und behandle, Revue passieren lasse, dann ahne ich mehr und mehr: Wir hätten es eigentlich wissen müssen. Dieser Gott kann so und so: „Der das Licht formt und das Dunkel erschafft, der das Heil macht und das Unheil erschafft, ich bin der Herr, der all dies macht“ (Jes 45,7). Worauf Gott aber wirklich hinauswill, sagt der nächste Vers: „Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen! Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor, sie lasse Gerechtigkeit sprießen. Ich, der Herr, erschaffe es.“
Na, dann.
Thomas Hieke ist Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz
Photo: Thomas Hieke